# taz.de -- Zukunft der Anti-AKW-Bewegung: Es ist noch nicht vorbei
       
       > Die Anti-AKW-Bewegung ist auch nach dem Abschalten der Meiler nötig: Das
       > Müllproblem bleibt, Atomforschung und Brennstäbeproduktion gehen weiter.
       
 (IMG) Bild: Demonstration auf Parkplatz vor ehemaligem Kernkraftwerk Würgassen im März 2021
       
       Am 15. April war Schluss. Eine Minute vor Mitternacht ging mit dem Reaktor
       Neckarwestheim II das letzte von einst 36 Atomkraftwerken in Deutschland
       vom Netz. Die Produktion von Atomstrom und Atommüll ist seitdem Geschichte
       – ein jahrzehntelanger gesellschaftlicher Großkonflikt scheint mit einem
       großen Erfolg der Anti-AKW-Bewegung beendet. Schließlich hat sie mit
       langem Atem mächtige Gegenspieler aus Wirtschaft und Politik zum Umlenken
       gebracht. Zahlreiche geplante Atomkraftwerke wurden nie gebaut, nukleare
       Wiederaufarbeitungsanlagen im Wendland und in Wackersdorf verhindert, den
       Anstoß für den Siegeszug der erneuerbaren Energien gab die Bewegung
       ebenfalls. Wie viele Gerichtsbeschlüsse und vor allem das Brokdorf-Urteil
       des Bundesverfassungsgerichts zeigen, wurde auch die Demokratie in der
       Wilstermarsch und in Gorleben verteidigt.
       
       Dennoch fiel die Freude über das AKW-Aus bei vielen aus der Bewegung eher
       verhalten aus. Denn der Konflikt um Atomkraft und Energiewende ist mit der
       Abschaltung der Meiler nicht vorbei. Nicht nur der laufende Betrieb von
       Atomkraftwerken, auch der sich über Jahrzehnte hinziehende Abriss birgt
       Gefahren. Zehntausende Tonnen teils stark verstrahlten Schrotts müssen
       abgetragen und abtransportiert werden. Die Strahlenschutzverordnung erlaubt
       es, radioaktiv belastetes Material wie kontaminierten Bauschutt oder
       Metallteile als „normalen“ Müll zu entsorgen – sofern ein bestimmter
       Grenzwert nicht überschritten wird. Erst vor wenigen Tagen sorgte die
       Meldung für Unruhe, dass der Betreiber des Gorlebener Zwischenlagers Hauben
       von Castorbehältern bei einem örtlichen Schrotthändler entsorgen ließ.
       
       Vollständig ist der [1][Atomaussstieg] auch nicht: Die Brennelementefabrik
       in Lingen und die Urananreicherungsanlage in Gronau, die Atomkraftwerke in
       halb Europa mit frischem „Brennstoff“ beliefern, haben unbefristete
       Betriebsgenehmigungen. Die Lingener Fabrik will ihre Produktion in einem
       Joint Venture mit dem russischen Atomkonzern Rosatom sogar ausweiten und
       Brennstäbe künftig auch nach Osteuropa exportieren. Diverse
       Forschungsreaktoren sind ebenfalls noch in Betrieb. Und in die
       Atomforschung etwa in Karlsruhe oder Aachen fließen nach wie vor erhebliche
       Summe aus öffentlicher Hand.
       
       Noch nicht einmal ansatzweise erledigt hat sich das Atommüllproblem. Es
       betrifft einerseits die neu aufgerollte Suche nach einem Endlager für die
       hochradioaktiven Abfälle. Nachdem die mit der Suche betraute
       Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) 2020 einen ersten Zwischenbericht
       veröffentlichte, der mehr als die Hälfte des Bundesgebietes als potenziell
       geeignet ausweist, soll die Suche zunächst im Verborgenen weiterlaufen. Es
       besteht die Gefahr, dass die BGE erst in einigen Jahren weitere
       Gebietsausschlüsse veröffentlicht, wenn sie Standortregionen benennt, die
       oberirdisch geprüft werden sollen. Damit blieben die Betroffenen erneut
       außen vor. Maßgeblich dem Einsatz Anti-AKW-Bewegter ist es zu verdanken,
       dass diese „Transparenzlücke“ wenigstens öffentlich problematisiert wurde.
       
       Völlig ungeklärt ist der dauerhafte Verbleib des schwach und
       mittelradioaktiven Atommülls. Zwar wird dafür seit Jahren das frühere
       [2][Eisenerzbergwerk Konrad] umgebaut, doch der Standort steht nach
       massivem Bürgerprotest auf der Kippe. Die Kritik: Konrad entspricht nicht
       dem Stand von Wissenschaft und Technik, es handelt sich um ein altes
       Bergwerk, es gab kein vergleichendes Auswahlverfahren. Außerdem wäre Konrad
       viel zu klein – für die Abfälle, die aus dem maroden Atomlager Asse
       geborgen werden sollen, und für die Rückstände aus der Urananreicherung
       gäbe es dort gar keinen Platz.
       
       Ebenso umstritten ist das auf dem Gelände des früheren AKW Würgassen in
       Nordrhein-Westfalen geplante Bereitstellungslager, in dem die Abfälle für
       Konrad zunächst gesammelt und neu verpackt werden sollen. Durch dieses
       Lager würde sich die Zahl der gefährlichen Atommülltransporte durch
       Deutschland deutlich vermehren. Dazu kommt: Die Genehmigungen für die in
       den vergangenen Jahrzehnten an den AKW-Standorten hochgezogenen
       Zwischenlager für hochradioaktive Abfälle laufen in absehbarer Zeit aus.
       Ein Endlager wird wohl erst zur Jahrhundertwende betriebsbereit sein. Bis
       dort alle rund 1.900 Castoren aus den 16 Zwischenlagern eingelagert sind,
       werden weitere Jahrzehnte vergehen.
       
       Womöglich droht mittelfristig sogar eine [3][Renaissance der Atomkraft]
       durch die Hintertür. Lobbyorganisationen verweisen schon länger auf den im
       Vergleich zu Kohlekraftwerken deutlich geringeren CO2-Ausstoß. Und
       verschweigen dabei die gigantischen Umweltschäden durch Uranerzabbau und
       -aufbereitung, die Unfallgefahren sowie ungelösten Probleme bei der
       Lagerung des Atommülls. Wenn es nach Europas Konservativen und Liberalen
       geht, soll der EU-Standard für nachhaltige Investitionen, die sogenannte
       EU-Taxonomie, künftig auch Investitionen in Kernkraftanlagen umfassen.
       Damit bekämen diese ein Ökolabel, vergleichbar dem Bau von Windrädern und
       Solaranlagen. Aber verfügt die Anti-AKW-Bewegung noch die Stärke, um sich
       erfolgreich um diese Probleme zu kümmern? Gibt es die Bewegung überhaupt
       noch?
       
       Ja, es gibt sie noch. Allerdings nicht mehr als Massenbewegung, die
       Zehntausende mobilisiert. Doch sind AKW-Gegner:innen weiterhin präsent, an
       den Standorten der Atomanlagen ebenso wie in überregionalen Organisationen
       und Strukturen wie der bundesweiten Atommüllkonferenz oder „ausgestrahlt!“.
       Um als interventionsfähige Bewegung mittelfristig zu bestehen, bräuchte es
       auch wirkmächtige Symbole und „Hot Spots“ wie früher die Bauplätze in Wyhl,
       Brokdorf und Wackersdorf oder die Castortransporte nach Gorleben. Nach der
       Abschaltung der AKWs sind solche Symbole zunächst nicht in Sicht. Das
       Atomthema trotzdem in der Öffentlichkeit zu halten, wird eine große
       Herausforderung für die Bewegung.
       
       4 Jul 2023
       
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