# taz.de -- Rahel Jaeggi zu Philosophie und Wandel: „Eine Idee von Emanzipation“
       
       > Oft bleiben Proteste in der Defensive, sagt Rahel Jaeggi. Die Kämpfe um
       > Vergesellschaftung haben das Potential zu verbinden und nach vorne zu
       > weisen.
       
 (IMG) Bild: Welch schöner Tag auf dem Landwehrkanal mit der Perspektive, Deutsche Wohnen & Co. zu enteignen
       
       taz: Frau Jaeggi, viele gesellschaftliche Probleme schreien uns heutzutage
       förmlich an – ob Klimakrise, Gentrifizierung oder Rassismus. Gegen vieles
       wird regelmäßig protestiert. Warum bleibt der große Wandel bisher aus? 
       
       Rahel Jaeggi: Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Eine Antwort
       wäre: Was fehlt, sind die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen
       Missständen und Notlagen. Und was fehlt, ist vielleicht auch eine positive
       Idee nach vorne, eine Idee von Emanzipation gewissermaßen.
       
       Eine Idee nach vorne? 
       
       Es gibt alle möglichen Abwehrkämpfe oder Kämpfe um Sichtbarkeit im Bezug
       auf Diskriminierungen. Jenseits der Abschaffung dieser Übel liegen darin
       aber auch Wünsche, die Gesellschaft anders zu gestalten. Mit der
       [1][Debatte und Bewegung um Vergesellschaftung, die ja sehr prominent von
       Deutsche Wohnen und Co. enteignen! angestoßen] wurde, aber darauf nicht
       begrenzt ist, habe ich jedoch den Eindruck, dass ein
       Aus-der-Defensive-Kommen ermöglicht wird.
       
       Warum gerade damit? 
       
       Das Vergesellschaftungsthema ist eines, dass das Problem ziemlich an der
       Wurzel packt, weil es die großen Institutionen und sozialen Strukturen
       angeht, die unser Leben bestimmen. Und die aktuelle
       Vergesellschaftungspolitik hat den übergreifenden Charakter, Gesellschaft
       für alle verändern zu wollen. Das sehe ich besonders im
       Demokratisierungsaspekt, also darin, wichtige Elemente der sozialen
       Infrastruktur in demokratisches Gemeinwesen bringen zu wollen.
       
       Das sind ja recht praktische, politische Debatten und Kämpfe. Sie sind
       Philosophin. Was kann Philosophie dazu beitragen? 
       
       Eigentum ist auch ein philosophischer Begriff, nicht nur ein juristischer.
       Wann und warum ist Eigentum legitim? Welche Wirkungen hat es, wenn
       bestimmte Dinge zu Privateigentum gemacht werden? Das sind Fragen, die
       haben auch einen gewissen philosophischen Tiefgang. Nicht nur, was Wohnen
       angeht. Die Debatten um Vergesellschaftung von Energie oder die Frage zu
       Privatisierung von Krankenhäusern gewinnen ebenfalls an Fahrt. In allen
       möglichen Dingen, die zur öffentlichen Infrastruktur gehören, gibt es auch
       philosophischen Klärungsbedarf.
       
       Sie sagten, dass auch die Zusammenhänge zwischen den Missständen fehlen.
       Was meinen Sie damit? 
       
       Für viele Bewegungen sind gerade die Zusammenhänge fraglich. Welche
       tieferliegenden Strukturen gibt es, die Rassismus, Sexismus und
       Kapitalismus verbinden? Das wirft auch die Frage nach der Vorstellung von
       gesellschaftlichem Wandel auf. Also ob man jetzt denkt: „Wenn wir viele
       werden und es doll genug wollen, dann wird das schon.“ Oder ob man die
       gesellschaftlichen Hintergründe versteht. Auch hier können sich
       Handlungsoptionen durch die philosophische Reflexion dieser Fragen
       verändern.
       
       Das heißt? 
       
       Haben wir zum Beispiel ein individualistisches Verständnis von Rassismus,
       führt das auch zu einer individualisierenden Gegenstrategie, zum Beispiel
       zu Anti-Vorurteils-Trainings in Unternehmen. Verstehen wir Rassismus als
       strukturelles Problem, ergeben sich andere Handlungsmöglichkeiten und
       -notwendigkeiten – zum Beispiel die Black-Lives-Matter-Proteste der
       vergangenen Jahre. Ein besseres Verständnis von Ungerechtigkeiten kann also
       dazu führen, dass vereinzelte Akteure sich als kollektive Akteure
       wahrnehmen. Eben weil sie sehen, wie ihre unterschiedliche Betroffenheit
       miteinander verbunden ist.
       
       Und die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Kämpfen? 
       
       Es ist wird auch in der Philosophie viel darüber debattiert, wie diese zu
       verstehen und zusammenzudenken sind. Nancy Fraser, die letztes Jahr den
       Benjamin Chair innehatte, hat ein Verständnis, dass sich sehr am
       Kapitalismus als Bindeglied orientiert. Sally Haslanger, die diesjährige
       Rednerin, hat ein offeneres Verständnis.
       
       Schließen sich wegen dieser Unklarheit oft zu wenige Menschen bestehenden
       Protesten an? 
       
       Das ist gar nicht so leicht. Viele Menschen stecken in ihrem alltäglichen
       Leben in so vielen Zwängen, sind so individualisiert und haben so wenig
       Handlungsspielraum auch nur in ihren unmittelbarsten Lebensumständen.
       Andererseits gab es in den letzten Jahren gerade auch solidarisches
       gemeinsames Handeln in Kontexten wie Plattform-Ökonomien, in denen das
       eigentlich schwer denkbar ist – wie beispielsweise die Gorilla-Streiks. Mit
       großer Besorgnis muss man hingegen die Repressionswelle betrachten, die
       selbst solche Gruppierungen wie die Letzte Generation, [2][aber auch
       Antifaschist*innen gerade überrollt]. Die Anwendung des Paragrafen 129
       ist ja klarerweise eine Maßnahme zur Abschreckung vor allem auch der
       möglichen Sympathisanten.
       
       Und wie läuft der Austausch zwischen Bewegung und Philosophie
       beziehungsweise kritischer Theorie, wie Sie sie praktizieren? 
       
       Sehr vieles wird bereits von den Initiativen getan, um aufzuklären und
       Dinge auseinanderzuhalten. Also warum reden wir über Enteignen, warum über
       Vergesellschaftung? Ich denke, man sollte es so verstehen, dass bestimmte
       Diskussionen kritischer Theorie im Grunde schon in solchen Bewegungen
       stecken und wirken. Umgekehrt sollte die Philosophie auch immer offen sein
       für neue Themen und Dynamiken in den Bewegungen und diese reflektieren.
       
       14 Jun 2023
       
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