# taz.de -- Milo Raus „Antigone“ im Theaterbetrieb: Nicht so romantisch glotzen
       
       > Milo Rau soll den Wiener Festwochen künftig wieder mehr Glanz und Geltung
       > verschaffen. Ein Ausblick ist schon jetzt seine „Antigone im Amazonas“.
       
 (IMG) Bild: Szene aus Milo Raus „Antigone Amazonas“ mit Landlosenbewegung MST und NT Gent
       
       Im Staub der gerodeten Landfläche nahe der Straße, die dem
       agroindustriellen Raubbau eine Schneise durch die Amazonasregion schlägt,
       beweint Antigone (Kay Sara) ihren Bruder Polyneikes (Frederico Araujo),
       benetzt seinen Leichnam aus einer Wasserflasche, bestreut die Gliedmaßen
       mit Sand, gräbt ihm eilig mit der Spitzhacke das Grab, angesichts der
       Geier, die sich zuvor schon an einem Kuhkadaver zu schaffen machten.
       
       Die Sprache der indigenen Aktivistin und Schauspielerin wird im
       Zuschauerraum des NTGent oder des Wiener Burgtheaters wohl kaum verstanden,
       wo ihre Filmsequenz als Teil von „Antigone im Amazonas“ eingespielt wird.
       Es ist die [1][jüngste Arbeit von Milo Rau], dem kommenden Intendanten der
       Wiener Festwochen, in einer Zusammenarbeit mit der brasilianischen
       Landlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST).
       
       Der Gestus der Trauer, des Aufbegehrens und der Weigerung, auch um den
       Preis des eigenen Lebens der Gewalt nicht zu weichen, bleibt indessen
       universell. Diesen Königskindern geht es um mehr als Palastintrigen. Die
       Szene ist Teil des Reenactments eines Massakers, das Polizei und
       Paramilitärs vor einigen Jahren an protestierenden Landlosen verübt haben.
       
       In der Abenddämmerung einer schwindenden Hegemonie europäischer Kultur
       entdecken landlose Arbeiter:innen im Amazonas darin Instrumente und
       Modelle, die ihren Kämpfen als Selbstvergewisserung brauchbar scheinen. Das
       Konzept Einverleibung spielt eine zentrale Rolle im postkolonialen Denken
       Brasiliens im 20. Jahrhundert. Das Fremde buchstäblich zu „fressen“, es in
       einem poetischen wie subversiven Akt zu verdauen und dabei seine Blick- und
       Deutungshierarchien zu entblättern, soll das Sprechen der Subalternen erst
       möglich machen. Die Antigone-Erzählung scheint eine geeignete Folie zu
       sein. Erhebt sich darin doch eine Stimme gegen die Macht, die auf der Agora
       eigentlich nichts zu sagen hat.
       
       ## Eine Art von Gambit
       
       An europäischen Theatern entsteht ebenfalls Appetit auf Einverleibung. Er
       wächst aus einer Transformation des Kulturbetriebs, die oberflächlich
       betrachtet als Krise erscheint. Repräsentative Einrichtungen sind ihrer
       Geschichte nach herrschaftsförmig, erfahren sich aber alles andere als
       „systemrelevant“. Herrn Lessings Schaubühne hat sich gewandelt. Theater
       verteilt nicht mehr Sichtbarkeit, sondern wird zum Sinn suchenden Vakuum,
       das fortschreitend neue Inhalte in sich aufnimmt, um selbst in der
       Gesellschaft sichtbar zu bleiben.
       
       Zur Attraktivität von Milo Raus Arbeiten trägt das Versprechen bei, Kunst
       und politischer Aktivismus könnten sich wechselseitig befeuern. Rau spielt
       immer auch eine Art von Gambit dabei, opfert ein Stück weit künstlerische
       Komplexität, um aktuelle Dringlichkeit zu gewinnen. Wo der Zug gelingt,
       strebt die Dynamik der Inhalte in eine äquivalente Form, wo nicht, bleibt
       moralisches Einvernehmen zurück, hinter dem die Negativität der Kunst, ihr
       irritierendes Potenzial für Wahrnehmungen und Weltdeutungen verblasst.
       
       Milo Rau übernimmt die Wiener Festwochen im kommenden Jahr nach einem
       Jahrzehnt des programmatischen Mäanderns, des gesunkenen Publikumszuspruchs
       und der schwindenden Alleinstellungsmerkmale. Das Festival zeigte in der
       Stadt immer die andere Seite eines Betriebs, der durchweg deutschsprachig
       und stationär agierte. In der Festwochensaison vermittelten Held:innen
       und Gurus der Moderne Innovation oder zumindest Weltgeltung.
       
       Die starke öffentliche Wahrnehmung engagierter Kunst in ihrem Programm oder
       auch dem des Burgtheaters seit Claus Peymann gipfelte in den 2000er Jahren
       bisweilen in der kühnen Idee einer kulturellen Hegemonie von links. Die
       wurde im anhaltenden Aufstieg der Rechtspopulisten bis auf die Knochen
       frustriert.
       
       Milo Raus (gegen-)globalisierte Kunstpraxis und das Charisma des Predigers
       in eigener Sache soll, so die Erwartungen, in der Wiener Öffentlichkeit ein
       Klima befördern, in dem Kunst und progressive Politik wieder in einem
       Atemzug genannt werden können. Das motiviert die starke, nahezu
       demonstrative Zustimmung, die ihm seit seiner Bestellung in der Stadt
       entgegentritt.
       
       Bleibt die Probe am Objekt. Die fällt bei „Antigone im Amazonas“ so
       zwiespältig aus, wie das Projekt zweigeteilt ist. Auf der Bühne geben
       Frederico Araujo, der Musiker Pablo Casella, die Genter
       Schauspieler:innen Sara De Bosschere und Arne De Tremerie den
       Botenbericht. Botschaft sind Videoeinspielungen aus der gemeinsamen Arbeit
       in Brasilien. Kay Sara, die Darstellerin der Antigone, [2][die sich im
       Pandemiejahr 2020 mit einer übertragenen Rede an das Wiener Publikum]
       wandte, hatte als letzten Schritt der Aneignung zwischenzeitlich
       beschlossen, Theater nur noch für die eigene indigene Gemeinschaft zu
       spielen.
       
       ## Morgens indigene Kosmologie, mittags Mathematik
       
       Der Film ist dann auch dort am stärksten, wo er jenseits des
       Antigone-Motivs die ökonomischen und lebensweltlichen Strategien von
       Menschen zeigt, die mit hochdifferenzierten kulturellen Kompetenzen
       ausgerüstet in zwei Welten leben, ihre Kinder morgens indigene Kosmologie
       und mittags Mathematik lehren.
       
       Mit einer Erfahrung mehr und ohne „Geschichte“ vom Amazonas zurückzukehren,
       ist im Kunstkontext allerdings keine Option. So werden dann doch alle
       medialen und dramatischen Konventionen aufgeboten, die zuverlässig
       Emotionen erzeugen. Das erwähnte Massaker ist in der Dynamik von
       Splattermovies atemberaubend nachgestellt. Das Ende der Tragödie wird zum
       opernhaften Feuerzauber, der die Indigenen in Statisten einer
       pasolinihaften Filmsprache verwandelt.
       
       Katharsis ist die falsche Antwort auf die richtige Frage. Wie können wir
       für Menschen, die um ihre Existenz wie um das Ökosystem Amazonas kämpfen,
       nützliche Verbündete werden? Dem Unwohlsein, den Jubel und stehende
       Ovationen hervorrufen, möchte man mit einer der letzten Einsichten
       antworten, die das Theater der Welt noch entgegenbringt: „Glotzt nicht so
       romantisch!“
       
       30 May 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uwe Mattheiß
       
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