# taz.de -- Hier spricht der Baum: Auch alte Damen knospen noch
       
       > In Berlin-Tegel steht die Dicke Marie, einer der ältesten Bäume der
       > Stadt. In 600 Jahren hat sie viele Menschen kommen und gehen sehen.
       
 (IMG) Bild: Die Dicke Marie findet sich selbst gar nicht dick
       
       Berlin taz | Ich hatte schon verschiedene Namen. Die meisten kennen mich
       als „Dicke Marie“ oder „Mutter Dossen“, dabei finde ich mich gar nicht
       dick. Ich bin stark und ausdauernd. Und selbst wenn, in meinem Alter gibt
       mir meine Fülle nur mehr Stabilität. Ich bin eine stolze Stieleiche und
       wenn auch etwas knorrig, sprießen aus meiner Krone immer noch die zarten
       Frühlingsblätter. Bei 16 Meter Höhe kann ich alles überblicken: den großen
       Mischwald unter mir, den See, in dessen Ufernähe ich stehe, und sogar den
       Berliner Ortsteil Tegel.
       
       Ganz schön frech von den beiden Humboldt-Burschen, die vor vielen Sommern
       unter meinem damals noch größerem Blätterdach saßen. Alexander und Wilhelm
       hießen sie. Noch heute steht das Tegeler Schloss, wo sie damals im Sommer
       lebten, unweit von mir. Ich bilde mir ein, dass sie meine hochtürmende
       Größe und prächtigen Stamm genauso bewunderten wie die Kochkünste ihrer
       Köchin. Angeblich erinnerte sie mein „ausgeprägtes Hüftpolster“ an ihre
       Marie. Wie albern!
       
       Wer hätte gedacht, dass die jungen Männer mal so bedeutend werden. An
       meinem Stamm lehnten schon so viele über die Jahrhunderte: Wanderer*innen,
       Gelehrte, Bäuer*innen. Für viele war ich ein wichtiger Orientierungspunkt.
       Auf historischen Karten bin ich als Grenzbaum eingetragen, der die
       Gemarkungen Tegel und Heiligensee voneinander trennt.
       
       Ich bin wirklich alt. Mich zu erinnern, wann meine erste Knospe sich mühsam
       aus dem Erdreich schob, fällt mir schwer. Manche Wissenschaftler*innen
       sagen, ich sei 800 Jahre alt, andere sprechen von 400, neuere Schätzungen
       gehen von 600 Jahren aus. Anscheinend ist es äußerst kompliziert. Zum
       Messen bohrten Forscher*innen meinen Stamm an und entnahmen eine
       Holzprobe, nicht gerade angenehm. Nur bin ich leider nicht so frisch, und
       das Holz in meinem Inneren zerfällt schon. Ein Pilz hat sich in mir
       eingenistet. Das ist typisch für alte Damen wie mich.
       
       Mein genaues Alter ist eigentlich egal. Fast wäre ich nur der älteste Baum
       Tegels geworden, bis 1920 der Ort in Groß-Berlin eingemeindet wurde. Und
       schon war ich ein Baum von Welt.
       
       Daher besuchen mich sehr viele Menschen. Manchmal legen sie ihre Arme um
       mich, wollen mir und der Natur nahe sein. Es braucht mindestens vier oder
       fünf Erwachsene, um mich einmal vollständig zu umfassen.
       
       ## Mein Wald ist richtig knorke
       
       „Ich brauch Tapetenwechsel“, sang meine Nachbarin, die Birke, vor vielen
       Jahren. Aber ich finde meinen Wald richtig knorke! Zugegeben, anfangs
       störten mich die vielen anderen Emporkömmlinge. Ahorn, Birke und noch eine
       Stieleiche machten sich breit. Plötzlich musste ich mit ihnen um das
       Sonnenlicht kämpfen. Früher war meine Krone noch viel ausladender. Nun
       ragen die anderen Bäume sogar über mich. Aber meine alten Äste sind teils
       so dick wie ihre Stämme.
       
       Keine Frage, die umgebenden Bäume sind ein Standortnachteil. Die
       Humboldteiche, 400 Meter entfernt, hatte es viel leichter. Sie ist
       ebenfalls eine Stieleiche. Ihr hohler Stamm wird von Stahlsprossen
       stabilisiert. Obwohl sie viel jünger ist, etwa 400 Jahre, reicht die
       Humboldteiche noch höher und ist der breiteste Baum Berlins. Aber ich
       schätze, auf einer offenen Weide kann jeder Baum alt werden.
       
       2021 wurde ich vom gleichnamigen Kuratorium zum „Nationalerbe Baum“
       ausgerufen. Tatsächlich war ich der erste Waldbaum, der diesen Titel
       erhalten hat. Die Initiative will Uralt-Bäume schützen und pflegen, um ein
       „Altern in Würde“ zu ermöglichen. Dafür würde ich umzäunt, dass meine
       fallenden morschen Äste niemanden verletzen, sollten sie brechen. Zudem
       stutzen sie immer wieder meine Nachbarsbäume, damit die Jungspunde mich
       alte Dame nicht überwuchern.
       
       ## Zeitzeugin der Menschen
       
       Ein Glück haben die Initiatoren vom Nationalerbe Baum erkannt: „Wir [die
       Menschen] haben für solche alten Bäume eine hohe Verantwortung, sie sind
       ein wichtiger Lebensraum und wir müssen alles daransetzen, sie der Nachwelt
       zu erhalten.“ Ich bin Zeitzeugin der Menschen und der Natur und habe
       verschiedenen Klima- und Wetterbedingungen getrotzt. In meiner Rinde,
       meinen Höhlen, meiner Krone leben Vögel, Insekten und ihre Larven. Und auch
       der Pilz in meinem Inneren, der mein Holz zersetzt, ist Teil von dem Leben.
       
       Manchmal besucht mich ein alter Mann, um die 80. Er stellt sich als Gunter
       Martin vor, ist Biologe und bietet regelmäßig Wanderungen in Berlins Natur
       an. Bei seinem letzten Besuch sagt er: „Die Natur kennt keinen Tod. Aus ihr
       wird alles wieder neu.“ Den Gedanken finde ich sehr schön. Egal, wie lange
       ich noch Zeitzeugin sein darf. Ob ich noch 50 oder 500 Jahre an diesem
       Fleckchen die Menschen beim Philosophieren und die Wildschweine beim
       Eichelnfressen beobachten werde. In meinem Stamm beginnt und endet Leben.
       Und selbst wenn ich aufhöre zu knospen, bleibt mein Lebensraum erhalten.
       
       28 May 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Adefunmi Olanigan
       
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