# taz.de -- Start des Theatertreffens in Berlin: Die Lehre von der Liebe
       
       > Mit einer Inszenierung aus München begann das Theatertreffen. „Das
       > Vermächtnis“ erzählt vom Leben und Sterben in einer schwulen Community.
       
 (IMG) Bild: Bei Eric und Toby feiern die Freunde Geburtstag, noch scheint alles im Lot zu sein
       
       Walters Auftritte haben etwas von einer Figur in Schwarz-Weiß, die durch
       einen Farbfilm läuft. Lang und schmal, und deutlich älter und etwas
       langsamer als die jungen Männern, die ihn als ihren Mentor befragen, ist er
       das stille Zentrum in der Inszenierung „Das Vermächtnis“ – nach einem Text
       des amerikanischen Autors Matthew Lopez.
       
       Walter lehrt sie erzählen; das ist offensichtlich, aber noch nicht alles.
       Denn eigentlich lehrt er sie zu leben und zu lieben. Dass sie nicht auf die
       Krisen vorbereitet sind, die auch Jahrzehnte nach Aids eine schwule
       Community erschüttern und existenziell bedrohen können, ist dem
       hedonistischen Freundeskreis um die beiden New Yorker Eric Glass und Toby
       Darling zunächst nicht bewusst. Sie sind etabliert, sie scheinen gesichert,
       sie adoptieren Kinder, sie sind sichtbar und viele. Aber dann läuft doch
       für einige das Leben unerwartet aus der Bahn, und daran ist nicht nur die
       Wahl von Donald Trump schuld.
       
       Mit dem Gastspiel von „Das Vermächtnis“ begann das [1][Theatertreffen in
       Berlin], das zehn ausgewählte Inszenierungen zeigt, in seiner 60. Ausgabe.
       Philipp Stölzl, der, seltene Ausnahme im Kulturbetrieb, als Filmregisseur
       ([2][„Nordwand“], [3][„Goethe!“] oder „Schachnovelle“) und als Regisseur
       von [4][Opern] und Theaterstücken erfolgreich ist, kommt zum ersten Mal zu
       dem Berliner Festival.
       
       Seine Inszenierung ist ein sanftes Erzählen in teils komisch zugespitzten,
       teils sehr traurigen Episoden, von Pausen unterbrochen, fast sieben Stunden
       lang. Man taucht bei hellem Sonnenwetter draußen darin ein wie in eine
       Serie, deren verzweigtes Personal man unbedingt noch um die nächste Kurve
       begleiten will. Es gibt viele Liebesgeschichten und viel Leiderfahrung in
       der Gegenwart der Erzählung.
       
       ## Freunde verloren
       
       Aber eine Schicht darunter, und in die begleitet Walter (mit nachlässigem
       Charme von Michael Goldberg gespielt) Eric (Thiemo Strutzenberger), als der
       vor Liebeskummer ganz in sich selbst zurückgekrochen zu sein scheint, liegt
       eine Vergangenheit von großer Tragik: Walter erzählt, wie er die Liebe
       seines Lebens, Henry, in den 1980ern, der Zeit von Aids verlor. Nicht weil
       Henry, Geschäftsmann, krank geworden wäre, oh nein, er strahlt eine eiserne
       Stabilität aus, sondern weil Henry sich weit entfernt hielt von allen
       Kranken und Sterbenden, denen Walter aber ihr gemeinsames Haus geöffnet
       hatte.
       
       Eine der bewegendsten Szenen ist die, in der Eric versucht, sich das
       emotional vorzustellen, den Tod von so vielen Freunden. Walter ruft Erics
       lebende Freunde nach und nach auf die Bühne und sagt an, was ihr Schicksal
       gewesen wäre, einige Jahrzehnte zuvor. Es sind die Worte, die rühren, und
       die stillen Bewegungen, mit denen sie sich Seite an Seite stellen. Nicht
       wenige im Publikum kramen nach ihren Taschentüchern.
       
       Das gemeinsame Erzählen und Visualisieren der verschiedenen Zeitebenen gibt
       der Inszenierung einen Rahmen, in dem sie sich dann doch vom Serienschema
       unterscheidet. Die Schauspieler, die die Freunde in der Gegenwart und in
       den anderen Zeitschichten spielen, spielen zugleich eine Gruppe junger
       Männer, die sich diese Geschichten erzählen, um sich ihrer Position auf
       einem Zeitstrahl bewusst zu werden, dessen Ausgangspunkt um die Wende vom
       19. zum 20. Jahrhundert liegt, als Homosexualität allein im Verborgenen
       gelebt werden konnte.
       
       ## Liebe zum Lesen
       
       Ihr gemeinsamer Bezugspunkt ist der Schriftsteller Edward Morgan Forster,
       geboren 1879, der mit dem Roman „Howards End“ bekannt geworden war, und es
       nicht wagte, seinen Roman „Maurice“ über eine Liebe unter Männern zu
       Lebzeiten zu veröffentlichen. In den Dialogen der Clique über das, was
       erzählbar ist und was nicht, wird Walter gelegentlich zu Edward Morgan
       Forster.
       
       Die Liebe zur Literatur, zum Finden der eigenen Identität über das Lesen
       von Büchern: Auch darum geht es in dieser Inszenierung immer wieder. Sie
       ist eine Hommage an das Lesen, dabei auch liebevoll bildungsbürgerlich,
       allerdings nicht frei von Klischees. New York gleicht hier einer
       Aneinanderreihung stilvoll eingerichteter Apartments. Es gibt in dieser
       Welt zwar Strichjungen und Junkies, die aus dem Elend zu ziehen sich nun
       Eric zur Aufgabe macht, auf Walters Spuren; doch ihre Lebenswelt bleibt
       eine dekorierte Behauptung.
       
       Diese geputzte Bühne deshalb schon zu einer Antithese zu stilisieren zu dem
       Klischeebild vom deutschen Theater, das mit Blut und anderen
       Körperflüssigkeiten so wenig geizt wie mit schrillen Stimmen, wäre aber
       übertrieben. Der Stil ist hier kein ästhetischer Selbstzweck. Er ist auch
       nicht bloß eine Hülle für den Inhalt, sondern legt um die Binnenerzählungen
       eine weitere Fiktion, von der Gemeinschaft der Freunde, über mehrere
       Generationen hinweg, die sich ihre Geschichten erzählen müssen, weil es
       sonst nicht geschieht.
       
       Eine Antipode zu der Inszenierung [5][„Ophelia’s Got Talent“ von Florentina
       Holzing]er, die auch zum Theatertreffen eingeladen ist und einen Tag später
       an der Volksbühne lief, ist sie aber doch. Nicht nur, weil dort
       ausschließlich Frauen spielen und das Flüssige die Bühne bestimmt, sondern
       mehr noch weil im „Vermächtnis“ von der Sexualität zwar viel die Rede ist,
       sie im Spiel aber nur dezent auftaucht, während Holzinger gerade mit der
       Macht sexuell aufgeladener Bilder spielt.
       
       Auch in „Ophelia’s Got Talent“ bildet der Cast der Schauspielerinnen eine
       Gruppe, die sich ihre Geschichten erzählen, von Ausgrenzung und
       Gewalterfahrung, von Selbstzerstörung und Selbstermächtigung. Auch
       Holzinger spielt mit Literatur- und Filmzitaten. Aber dann doch
       ungebändigter, wütender, manchmal auch oberflächlicher als Stölzl und oft
       überraschender: Mehr Spektakel, weniger Melancholie. Zum Auftakt
       nebeneinandergesetzt, baut sich zwischen den beiden Stücken jedenfalls eine
       Spannung auf, weil sie nicht nur so unterschiedlich, sondern in vielem auch
       vergleichbar sind.
       
       14 May 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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