# taz.de -- Buch „Die Geschichte von Carl Katz“: Herr Katz und seine Feinde
       
       > Als Carl Katz aus dem KZ kam, gründete er Bremens jüdische Gemeinde.
       > Seine Geschichte hat nun seine Urenkelin Elise Garibaldi aufgeschrieben.
       
 (IMG) Bild: Momente des Glücks: Carl und Marianne Katz mit Tochter Inge und Enkelin Hanna um 1950 in Bremen
       
       Manche Romane erlauben mehr Einsicht in die Geschichte, als
       historiografische Aufsätze das leisten können. Letztere vermögen zwar, den
       feinstofflichen Niederschlag von psychologischen Beweggründe und
       politischen Intrigen in den Dokumenten zu entdecken und auszuwerten.
       
       Das tut die New Yorker Autorin Elise Garibaldi nur am Rande. Sie hat die
       notwendige Diskussion in einen ausführlichen dokumentarischen und zudem
       reich bebilderten Anhang ihres sehr lesenswerten Buchs ausgelagert: „Never
       Enough“ ist nun in einer gut lesbaren Übersetzung von Bärbel Müller
       [1][erschienen, die am Dienstag im Bremer Focke-Museum vorgestellt wird].
       
       In der Hauptsache aber erzählt Garibaldi in „Niemals Genug“, wie es der
       Untertitel verspricht, „Die Geschichte von Carl Katz“, also ihres
       Urgroßvaters, eines Bremer Kaufmanns und ehrenamtlichen Funktionärs der
       jüdischen Gemeinde. Beziehungsweise seine Geschichte und die seiner Feinde.
       
       Dafür hat sie auf das gesetzt, was Truman Capote einmal als entscheidenden
       Vorzug [2][einer non-fiction-novel bestimmt hat,] also des Tatsachenromans:
       Dieses Genre zwingt Autor und Leserschaft, sich „in Persönlichkeiten
       einzufühlen, die außerhalb des eigenen Vorstellungsvermögens liegen“.
       
       ## Im Kopf der bösen Menschen
       
       Dazu zählen im Normalfall Massenmörder und Verbrecher gegen die
       Menschlichkeit. Genau solche Leute also, die schon 1949, dem Jahr, in dem
       die Handlung des Buchs einsetzt, recht erfolgreich versuchten, sich der
       Bremer Nachkriegsjustiz zu bemächtigen – und in ihrem Gefüge bereits damals
       ein sehr stabiles Netzwerk etabliert hatten. Dieses Netzwerk ist
       notwendigerweise Thema in dem Buch.
       
       Denn Katz hatte nach dem Zweiten Weltkrieg die jüdische Gemeinde in Bremen
       neu begründet – in deren Leitung er schon von 1938 bis 1942 tätig gewesen
       war. „Katz schied aus, da er mit seiner Familie, Ehefrau, Schwiegermutter
       und Tochter, im Sommer 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde“, heißt es
       im wissenschaftlich-biografischen Aufsatz, den der Forschungsdirektor des
       New Yorker Leo Baeck Instituts, Frank Mecklenburg, kürzlich
       [3][veröffentlicht hat] – im Jahrbuch des Bremer Staatsarchivs.
       
       Nach der Befreiung hatte Katz maßgeblich die Rückkehr derer koordiniert,
       die ins Lager verschleppt worden waren und die dennoch glaubten, wieder in
       Deutschland leben zu können. Namentlich um die hat er sich gekümmert, die
       zurück nach Bremen wollten, also 15 alte Gemeindeglieder, die überlebt
       hatten.
       
       Mit ihnen versuchte er jüdisches Leben dort wieder möglich zu machen: Er
       gründete die Gemeinde in seiner Heimatstadt neu, verhalf ihr schließlich –
       die Krönung eines Lebenswerks – zu einer repräsentativen Synagoge, die sich
       nicht hinter einer Wohnhausfassade versteckt. Katz wurde auch zum Pionier
       des DDR-Handels, etablierte sich als geachteter Ansprechpartner des Senats
       – und musste doch zusehen, wie seine Tochter in Deutschland keine Zukunft
       für sich und ihre Tochter sah, stattdessen in die USA emigrierte.
       
       Sein wirtschaftlicher Erfolg war groß: Katz ließ in Bremen die Firma seines
       Vaters wieder aufleben – Handel und Verwertung von Sekundärrohstoffe, also
       Altmetallen und -Textilien –, und brachte es offenbar zur westdeutschen
       Marktführerschaft; eine Filiale in New York wurde im Laufe der 1950er
       eröffnet.
       
       Gleichzeitig jedoch versuchen gewesene Gestapo-Beamte, SS-Ehemalige und
       voreilig entnazifizierte Sondergerichtsankläger, wie der Staatsanwalt
       Siegfried Höffler, seiner habhaft zu werden. Ein Verfahren gegen Katz wird
       angestrengt, das die Züge einer Intrige nicht verbergen kann: „Aus den
       Gerichtsunterlagen wird sehr schnell deutlich, dass Zeugen manipuliert
       wurden“, wertet Forscher Mecklenburg die Dokumente aus.
       
       Garibaldi nun lässt ihre Leser*innen diese Manipulation miterleben. Sie
       führt sie mitten hinein ins Denken und Fühlen der Altnazis, lässt sie
       teilnehmen an ihrer Bosheit und Rachsucht, gibt aber eben auch ihren
       Ängsten Raum und ihrer Verunsicherung, ihrem Hoffen und ihrem Sehnen.
       
       Es sind ja schließlich ganz normale Menschen und angesehene Bürger.
       „Irgendwann würden die Amis doch abziehen müssen“, sinniert an einer Stelle
       der Staatsanwalt Höffler, „Deutschland wird irgendwann wieder deutsch sein
       müssen. Dann würde man ihm dankbar sein. Leute wie er wurden gebraucht!“
       
       Klar, dieser innere Monolog ist fingiert. Aber er basiert auf ausführlichem
       Studium der Staatsarchivs-Akten, die Aufschluss geben über Höfflers
       Gedankenwelt, seine obsessive Beschäftigung zumal mit Carl Katz – und sein
       Zusammenspiel mit dem früheren Judenreferenten Bruno Nette.
       
       Der hatte in seinem Entnazifizierungsverfahren versucht, Katz zum
       eigentlichen Bremer Judenverfolger zu machen: Nette erklärte, Katz habe mit
       ihm freundschaftliche Beziehungen gepflegt – und die Gemeindeglieder
       bereitwillig ausgeliefert.
       
       Nicht ohne Erfolg: Mit nachvollziehbarer Empörung schildern Garibaldi und
       ihre Mutter Ruth Bahar im Appendix, wie diese allem Anschein nach
       verleumderische und ganz offenkundig taktisch motivierte Zeugenaussage von
       Lokalgeschichtsschreibern wie eine ungetrübte Quelle abgeschöpft wurde;
       sprich: Nettes Behauptungen [4][erhielten den Status historischer
       Wahrheit].
       
       ## Kein Gedenkpathos
       
       Garibaldis Buch leistet keinen Beitrag zum Gedenkpathos. Stattdessen hat
       sie einen Thriller geschrieben, der in einem ganz dokumentarischen Sinne
       als wahr gelten kann. Der aber eben auch unterhaltsam ist und spannend.
       
       Denn ihr gelingt es, den sonst oft nur hochtheoretisch ausgefochtenen
       Streit um das Gedenken, um die Deutung der Ereignisse selbst als konkretes
       Ereignis zu erfassen – und dieses fesselnd zu erzählen. Dem entspricht auch
       die Komposition: Anstelle einer einfachen Chronologie wählt Garibaldi eine
       Technik der Rückblenden. Zunächst überraschend, erweist sich das als kluger
       Griff.
       
       Einerseits macht diese Technik spürbar: Der Schrecken hält an, ragt noch in
       die seligsten Wirtschaftswunderzeiten hinein. Man ahnt, dass er noch lange
       nicht vorbei ist. Andererseits inszeniert sie die Vergangenheit so als
       Präsenz.
       
       Zumindest erzähl-strategisch gelingt es so, die Verleumdungen und
       Verdrehungen zu überschreiben: Pogrome, das Grauen der Lager, die Ohnmacht
       der Opfer und die Belastung des Überlebens zu deuten ist nichts, was den
       Tätern überlassen bleiben darf. Und auch nicht ihren Enkeln.
       
       9 May 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.edition-falkenberg.de/produkt/niemals-genug-die-geschichte-von-carl-katz
 (DIR) [2] https://archive.nytimes.com/www.nytimes.com/books/97/12/28/home/capote-interview.html?r=1
 (DIR) [3] https://www.staatsarchiv.bremen.de/carl-katz-biographie-14417
 (DIR) [4] /60-Jahre-Bremer-Synagoge/!5793985
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Benno Schirrmeister
       
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       aufgeschrieben, die aus Bremen nach Theresienstadt deportiert wurde.
       
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