# taz.de -- Bilanz nach der Pandemie: Kultur im Endlos-Schleudergang
       
       > Viele Kulturschaffende in Berlin sind verhalten optimistisch. Doch einige
       > empfinden Corona nach wie vor als Zäsur, die alles durcheinandergebracht
       > hat.
       
 (IMG) Bild: Kinos haben derzeit mit steigenden Kosten zu kämpfen
       
       Wer in den letzten Wochen einen Abend im Deutschen Theater verbracht hat,
       der konnte durchaus dieses besondere, lang vermisste „Kulturgefühl“
       entwickeln. Aufgeregtes Summen im Foyer, ungeduldiges Seufzen für jene, die
       es fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn noch wagen, ihren Platz in der Mitte
       einer Reihe anzutreten – alles genau so, wie es sein soll. „Wir sind sehr
       gut aus der Pandemie mit all den Lockdowns und Auflagen gekommen“, freut
       sich Pressesprecherin Luisa Männel. „Die Auslastungszahlen lagen bei 96
       Prozent.“
       
       Doch so blendend wie dem Deutschen Theater geht es nicht allen
       Kulturveranstaltenden in Berlin, [1][schon gar nicht jenen, die nicht so
       stark gefördert werden wie die „Hochkultur]“. Erst Ende des Jahres stellte
       das Berliner Institut für kulturelle Teilhabeforschung fest, dass die
       Pandemie eine Art Brandbeschleuniger war, was die soziale Ungleichheit im
       Kulturpublikum angeht.
       
       „Gesellschaftliche Gruppen, die schon vor der Pandemie eher selten
       Kulturveranstaltungen besuchten, sind am ehesten weggeblieben und auch noch
       nicht zurückgekehrt“, so Thomas Renz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am
       Institut, zur taz. Vor allem jene, die ein eher diverses Publikum haben, so
       Renz, seien schlechter durch die Krise gekommen.
       
       Und das ist problematisch. In einer Zeit, wo die Menschen immer weniger ins
       Gespräch kommen, braucht es Orte, wo man sich auch außerhalb seiner Blase
       trifft. Hinzu kommt: Wo Kulturschaffende beispielsweise gegen rassistische
       oder soziale Diskriminierung antreten, dabei aber unter sich bleiben,
       werden sie zunehmend Ziel konservativer Häme. Das Wort „Wokeness“ ist zum
       Kampfbegriff geworden. Und in Berlin steht ein Regierungswechsel an.
       Immerhin, sagt Renz, habe sich in Berlin unter Rot-Grün-Rot der
       Kulturbegriff gewaltig verschoben. Es [2][gelten nicht mehr nur klassische
       Musik und Museum als förderwürdig, sondern auch freie Szene, die
       Bibliotheken, Clubs].
       
       Aber: Droht jetzt mit einer CDU-SPD-Koalition ein Rückschritt?
       
       Die taz hat sich umgehört. Und es zeigt sich: Die Pandemie ist bei den
       Berliner Kulturveranstaltenden noch lange nicht vorbei. Derzeit ist noch
       nicht absehbar, ob und wie viel Hilfestellung sie auch in Zukunft noch
       brauchen werden. Nicht einmal alle Theater schwärmen wie das Deutsche
       Theater.
       
       Sowohl in großen Häusern wie der Volksbühne und dem Maxim Gorki Theater als
       auch in kleineren wie dem Theaterdiscounter oder dem Ballhaus Ost äußert
       man sich optimistisch, spricht aber nur vom baldigen Erreichen des
       Vorcoronaniveaus. „Wir stellen fest, dass das Zuschauer*innen-Interesse
       wieder steigt, das Publikum kehrt eher zurück“, sagt Lena Fuchs von der
       Volksbühne. „Besonders bei den Highlights ist der Laden voll“, sagt
       Wolfgang Kaldenhoff vom Gorki.
       
       Auch die Stimmung bei den Kleineren ist eher guten Mutes als
       überschwänglich. Die Neugier sei „wieder deutlich gestiegen“, so Kerstin
       Böttcher vom Theaterdiscounter. Und Anne Brammen vom Ballhaus Ost: „Die
       Leute kommen im selben Maße wie vor Corona.“
       
       Auch Staatsoper, Deutsche Oper und Konzerthaus Berlin ziehen eher
       vorsichtig positive Bilanzen, es ist die Rede von 38.388 Gästen im Januar
       und Februar 2023 gegenüber 46.482 Gästen im Januar und Februar 2019
       (Deutsche Oper), von 87 gegenüber 90 Prozent Auslastung vor der Pandemie
       (Staatsoper), von „nahezu denselben Besucher*innenzahlen“ (Konzerthaus).
       
       ## Alles andere als lustig
       
       Noch gedämpfter scheint die Stimmung im Bereich Kabarett, Boulevard und
       Satire: Im Theaters Distel in der Friedrichstraße haben sich laut
       Pressesprecher Sven Daum die Zahlen noch nicht stabilisiert, im Vergleich
       zur Vorcoronazeit fehlt ein knappes Drittel. Auch die Komödie am
       Kurfürstendamm hatte laut Pressesprecherin Brigitta Valentin in der
       vergangenen Spielzeit noch immer 34 Prozent weniger Besucher*innen als
       im Vorcoronajahr.
       
       Das spricht für die These des Instituts für kulturelle Teilhabeforschung,
       das in seinen Befragungen Berliner Kulturveranstaltender das
       Lebensstilmodell des Soziologen Gunnar Otte benutzt. Berliner*innen, die
       eher konservativ denken und traditionelle Werte vertreten, gehen demnach
       unabhängig von ihrem Ausstattungsniveau in Sachen Geld und Bildung ohnehin
       weniger zu Kulturveranstaltungen als Menschen mit offen moderner Haltung.
       Und wenn sie es dennoch tun, zieht es sie eher Richtung Unterhaltung und
       Repräsentation.
       
       Wie aber geht es Kulturinstitutionen jenseits vom Theater? In den befragten
       Häusern für Lesungen und Veranstaltungen rund um die Literatur hat man den
       Eindruck, dass „alle Besucher*innen, sobald Veranstaltungen wieder möglich
       wurden, zurückgekommen sind“ (Literaturforum) – und das mit großer
       „Erleichterung und Begeisterung“ (Literaturhaus Berlin). Und in den Museen
       und Galerien war es unmittelbar nach den Lockdowns während der Pandemie
       direkt lebendiger.
       
       ## Eintrittsfrei und voll
       
       Dafür fehlen dort [3][nach wie vor die Tourist*innen], so die
       Pressesprecher*innen des Humboldt Forums und der Stiftung Preußischer
       Kulturbesitz, die für die großen Museen auf und um die Museumsinsel herum
       zuständig sind. In der kleineren Berlinischen Galerie hingegen gab es in
       den letzten Monaten einige Kassenschlager: Auch die eintrittsfreien
       Sonntage hatten „Wahnsinnszulauf“, so Pressesprecherin Ulrike Andres.
       Tatsächlich hat das Institut für kulturelle Teilhabe herausgefunden, dass
       sich beim [4][eintrittsfreien Museumssonntag] wie erhofft deutlich mehr
       junge Berliner*innen im Publikum finden als sonst an Wochenenden.
       
       In den vergangenen Wochen war öfter zu lesen, dass es Kulturveranstaltende
       wie Konzertveranstaltende, Clubs und Kinos – die zwar Coronahilfen bekamen,
       aber in normalen Zeiten weniger Fördergelder erhalten als die sogenannte
       Hochkultur – oft deutlich schlechter durch die Pandemie geschafft haben.
       Die taz hat auch hier nachgefragt, [5][tatsächlich ist die Stimmung derzeit
       alles andere als optimistisch].
       
       ## Kino: ja, aber
       
       Das liegt nicht nur an Corona. Denn: Kein einziges Berliner Kino musste
       während der Pandemie schließen. Verena von Stackelberg vom Neuköllner
       Arthouse-Kino Wolf sagt, ihr Haus werde wieder gut besucht. Und Christian
       Suhren, Mitbetreiber des Kreuzberger Programmkinos FSK, gibt immerhin zu
       Protokoll: „Seit Oktober letzten Jahres läuft es wieder halbwegs normal.“
       
       Doch dann schieben beide ein großes Aber hinterher. Seit Oktober [6][2022
       hat sich der Mindestlohn erhöht. Dazu kommen die aus dem Ruder laufenden
       Preise] für Energie. Auch wenn der Kinosaal voll ist, komme man derzeit
       „auf keinen grünen Zweig“ mehr, sagt von Stackelberg. Die Kartenpreise habe
       man bereits erhöht, mehr gehe nicht. Christian Suhren befürchtet, dass Kino
       nach Corona besonders während der üblichen Flaute im Sommer nicht mehr
       funktionieren wird.
       
       Und auch in den Berliner Clubs geht es noch lang nicht wieder so zu, als
       hätte es die Pandemie nie gegeben, sagt etwa Jenny Pepps vom Club Mensch
       Meier in Prenzlauer Berg. „Die Besucherzahlen sind runtergegangen, es ist
       schwieriger geworden, die Partys zu füllen.“ Sulu vom Friedrichshainer Club
       About:Blank bestätigt: „Vor dem geplanten Familienurlaub lieber nicht mehr
       in den Club, nicht mehr alles mitnehmen, gezielter ausgehen, lieber Outdoor
       als Indoor.“
       
       Jenny Pepps bestätigt das. Es gebe nun ein „ravenunerfahrenes Publikum“,
       das derzeit versuche, Versäumtes in Extremform nachzuholen. „Bei den
       Jüngeren ist eine Sehnsucht nach härter, schneller, wilder erkennbar“, so
       auch Sulu. Es scheint, als bleibe Corona für die Berliner Clubkultur eine
       Zäsur.
       
       Und wie steht es mit den Veranstalter*innen von Konzerten der
       sogenannten Unterhaltungsmusik? Schaut man auf die Homepage des
       mittelgroßen Kreuzberger Veranstaltungsortes Lido, reiht sich da ein
       Konzert an das andere. Im März und April tritt fast jeden Tag eine Band
       auf. Ungewöhnlich sei diese Eventdichte eigentlich nicht, bekommt man auf
       Nachfrage zu hören, im Frühjahr sei einfach traditionell viel an Konzerten
       geboten. Was jedoch auffalle: [7][Manche laufen richtig gut und manche
       erstaunlich schlecht].
       
       Ähnliches berichtet Andreas Oberschelp von der Berliner Konzertagentur
       Puschen, die vornehmlich Konzerte im Indiebereich organisiert. „Wir können
       nicht mehr so sicher einschätzen, wer am Ende sein Publikum findet und wer
       nicht“, so Oberschelp. Während große Events wie Konzerte von Rammstein, The
       Cure und Madonna trotz gepfefferter Preise weiterhin hervorragend laufen,
       mussten Musiker*innen wie Tocotronic, Revolverheld, Turbostaat und Rock
       Schamoni Ende letzten Jahres kurzfristig ihre Tour absagen. Es ist schwer
       geworden zu kalkulieren.
       
       Das ist eine Erfahrung, die alle befragten Kulturveranstenden teilen:
       Corona hat viel durcheinandergebracht, wie in einer Waschmaschine ohne
       absehbaren Schleuderstopp. Einige, wie die Deutsche Oper, das Konzerthaus,
       das Deutsche Theater und das Literaturforum im Brechthaus, stellen erfreut
       fest, dass auf einmal mehr jüngere Leute im Publikum zu sein scheinen. Und
       das nicht erst seit [8][Einführung der Jugendkulturkarte], eines Gutscheins
       über 50 Euro, den sich mehr als 75.000 Berliner*innen zwischen 18 und
       23 abgeholt haben. Staatsoper, Konzerthaus, Theaterdiscounter und Komödie
       am Kurfürstendamm berichten, dass die Kaufentscheidungen oft noch
       kurzfristiger fallen als vor der Pandemie – dass man also oft schlechter
       absehen könne, was ankommt und was nicht.
       
       Und auch von stärkeren Reaktionen auf Preisnachlässe berichten Konzerthaus,
       Volksbühne und die Museen auf der Museumsinsel, von guter Resonanz auf neu
       eingeführte Theatertage, Last-Minute-Aktionen oder neue
       Veranstaltungsformate wie Performances, Podiumsdiskussionen und
       Solidaritätsaktionen. Vielleicht hat es auch sein Gutes, wenn die Berliner
       Kulturgänger*innen durch die Pandemie ein wenig aus dem Takt gekommen
       sind.
       
       2 Apr 2023
       
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