# taz.de -- Besuch beim Comic-Verleger Johann Ulrich: Selber machen, was er lesen wollte
       
       > Johann Ulrichs Avant-Verlag widmet sich deutschen und internationalen
       > Graphic Novels, Klassikern und Newcomern. Nicht ohne Risiko, aber mit
       > Erfolg.
       
 (IMG) Bild: Letztes Jahr wurde Johann Ulrichs Avant Verlag mit dem Berliner Verlagspreis ausgezeichnet
       
       Ein Blick auf das Bücherregal im Büro des Neuköllner Avant-Verlags lässt
       schon erkennen, dass dieser etwas Besonderes geschafft hat. Hier stapelt
       der Verlag seine fremdsprachigen Lizenzausgaben, und die zeigen, dass es
       ihm gelungen ist, auch in anderen Ländern ein Interesse an
       deutschsprachiger Comickunst zu wecken.
       
       Es gibt in Deutschland ein paar Namen, die auch anderswo geläufig sind,
       vorneweg Reinhard Kleist und [1][Ralf König]. Aber dass Comics wie die des
       Berliner Avant-Verlag-Künstlers [2][Mikael Ross] überhaupt zum Beispiel ins
       Französische übersetzt werden, ist immer noch eher die Ausnahme denn die
       Regel.
       
       Denn im traditionell comicbegeisterten Frankreich hat man eigentlich viel
       zu viele eigene Zeichnerstars, um sich auch noch um Übertragungen aus dem
       Deutschen zu kümmern. Doch in besagtem Bücherregal mit den fremdsprachigen
       Lizenzausgaben stehen sogar gleich mehrere Werke von Ross.
       
       ## Offene Augen für eine unbekannte Autorin
       
       Und natürlich [3][Ulli Lusts] „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines
       Lebens“, aus dem Jahr 2009, das ein Meilenstein nicht nur für den
       Avant-Verlag, sondern auch für den deutschsprachigen, um nicht zu sagen für
       den modernen feministischen Comic überhaupt geworden ist. Die in Berlin
       lebende Lust hat das Werk über Jahre hinweg vor sich hingezeichnet, bot es
       dann überall an, aber niemand wollte es veröffentlichen. Bis auf Johann
       Ulrich, den Betreiber des damals noch vergleichsweise unbekannten
       Avant-Verlags.
       
       „Es war ein Erstlingswerk, 464 Seiten dick“ und damit durchaus ein
       unternehmerisches Risiko für einen kleinen Independentverlag. „Aber ich
       wollte halt das Buch sehen“, sagt Ulrich.
       
       Und zum Glück für ihn letztlich nicht nur er. Die autobiografische
       Coming-of-Age-Geschichte wurde in zwölf Sprachen übersetzt, räumte Preise
       ohne Ende ab und ist inzwischen regelrecht ein Comic-Klassiker, dessen
       Erfolg mit dazu beigetragen hat, dass der Avant-Verlag längst einer der
       führenden deutschsprachigen Independentverlage für Graphic Novels ist. Ende
       letzten Jahres wurde er gar als erster Comicverlag überhaupt mit dem mit
       35.000 Euro dotierten Berliner Verlagspreis ausgezeichnet.
       
       ## Ein Vortrag auf der Buchmesse
       
       Den Verlag gibt es mittlerweile seit mehr als 20 Jahren. 2001 wurde er
       gegründet, und wenn man sich mit Ulrich an den Küchentisch in seinem Office
       setzt, erzählt er gern nochmals die ganze Geschichte, wie es überhaupt zu
       dessen Gründung kam.
       
       Ein Jahr vor dieser war er, Comicfan schon seit seiner Jugend und zu der
       Zeit Mitbetreiber eines Ladens für englischsprachige Comics in Prenzlauer
       Berg, den es immer noch gibt, als ganz normaler Besucher auf der
       Frankfurter Buchmesse. Dort hörte er sich einen Vortrag über „neue
       Tendenzen im französischen Autorencomic“ an. 20 Künstler wurden dabei
       vorgestellt, darunter keine einzige Frau, wie sich Ulrich erinnert. Die
       meisten davon klangen interessant.
       
       „Wollte ich alles lesen, musste dann aber feststellen, dass die deutschen
       Verlage nichts davon herausbrachten.“ Außer [4][Lewis Trondheim], der
       inzwischen auch in Deutschland ein Star ist und, nebenbei bemerkt, eben
       gemeinsam mit dem Zeichner Hubert Chevillard den Comic „Ich bleibe“ beim
       Avant-Verlag veröffentlicht hat.
       
       Eines der in dem Vortrag auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellten Werke
       war auch [5][„Berlin 1931“ des Spaniers Raúl], das von Berlin während der
       Weimarer Republik erzählte. Mit dem Comicautor, der in Frankfurt zugegen
       war, kam Ulrich ins Gespräch, um zu erfahren, der Züricher Verlag Edition
       Moderne würde dieses vielleicht veröffentlichen.
       
       ## Start als Einmannprojekt
       
       Also stapfte er zum Stand des Comicverlags, um zu fragen, wann das Buch
       denn erhältlich sein würde. „Daraufhin sagten die: Nein, wir bringen das
       jetzt doch nicht raus. Und da dachte ich mir: Das ist aber schade. Aber
       gut, dann mach ich das eben.“ Und damit war der Avant-Verlag als
       Einmannprojekt gegründet.
       
       Inzwischen hat dieser insgesamt über 250 Comics herausgebracht, im
       Durchschnitt veröffentlicht er inzwischen zwei im Monat. Zwei feste
       Mitarbeiter hat Ulrich seit einer Weile und daneben noch jemanden, der sich
       um die Pressearbeit kümmert.
       
       Welche Art von Büchern genau Ulrich herausbringt, lässt sich einerseits
       klar benennen: anspruchsvolle Erwachsenencomics. Also nichts mit Galliern
       oder Superhelden und auch keine Mangas. „Wir veröffentlichen das, was uns
       interessiert. Und unser Interesse sind Graphic Novels. Das ist die Nische,
       die wir für uns entdeckt haben“, so Ulrich.
       
       Warum er lieber von Graphic Novels spricht, dem Begriff, mit dem Comics
       längst den Weg raus aus den reinen Comicläden und rein in die klassischen
       Buchhandlungen gefunden haben, erklärt er so: „Im Grunde sind alles Comics.
       Aber als Abgrenzung zu diesen Serien und wiederkehrenden Figuren ist man so
       näher an der Literatur. Deswegen macht der Begriff Sinn.“
       
       Andererseits zeichnet den Avant-Verlag aus, sich nicht auf ein bestimmtes
       Genre oder eine spezielle Szene innerhalb des Comic- oder
       Graphic-Novel-Kosmos festzulegen. Vergleichsweise wenig aus dem
       frankobelgischen Raum und wenig aus den USA veröffentliche er bei sich,
       meint Ulrich, diese klassischen Comicregionen sollen andere beackern. Dafür
       mehr aus Italien, Argentinien und Skandinavien, wo der Comic aber auch eine
       große Bedeutung hat.
       
       Gipi, [6][Héctor G. Oesterheld,] Alberto Breccia, das sind neben den vielen
       Comicautoren aus Deutschland vielleicht die typischen
       Avant-Verlag-Künstler. Wobei die beiden Letztgenannten längst schon nicht
       mehr leben. Doch auch für Gesamtwerke kanonisierter Comickünstler fühlt
       sich Ulrich eben zuständig.
       
       ## Feministische Comics als Renner im Programm
       
       Wie damals bei dem schicksalhaften Vortrag auf der Frankfurter Buchmesse
       wurden eben nur Männer aufgezählt. Ulrich betont jedoch, inzwischen mehr
       Comics von Frauen als von Männern im Programm zu haben. Und zieht dann auch
       einen Comic von [7][Liv Strömquist] aus Schweden hervor, die er für den
       deutschsprachigen Raum verlegt. Deren explizit feministische Comics seien
       gar der absolute Renner und die mit Abstand erfolgreichsten Bücher in
       seinem Programm.
       
       Auch dank dieser steht sein Verlag ziemlich blendend da. Der andere große
       Berliner Comic- und Graphic-Novel-Independentverlag Reprodukt hatte im
       letzten Jahr Probleme, konnte die steigenden Papierkosten nicht auffangen
       und musste eine Crowdfundingaktion starten. Ulrich sagt, auch seine Comics
       seien eigentlich zu billig, um die Auswirkungen der Energiekrise auf sein
       Geschäft auszugleichen.
       
       Aber dank der guten Umsätze und auch dank Liv Strömquest gebe es für ihn
       keinen Grund zum Jammern. „Der Buchmarkt an sich schrumpft. Nur der
       Comicmarkt nicht, der geht sogar leicht nach oben“, fügt er dann noch
       hinzu. Und sieht dabei wirklich ziemlich entspannt aus.
       
       4 Mar 2023
       
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