# taz.de -- Schwedin Liv Strömquist über neuen Comic: „Die Zukunft ist formbar“
       
       > Der Comic „Das Orakel spricht“ von Liv Strömquist handelt vom Trend zur
       > Selbstoptimierung. Ein Gespräch über Kontrollverlust und
       > Individualisierung.
       
 (IMG) Bild: Ausschnitt aus „Das Orakel spricht“ von Liv Strömquist
       
       taz: Liv Strömquist, [1][Ihr neuer Comic „Das Orakel spricht“] wirft einen
       kritischen Blick auf die Selbstoptimierungskultur. Wieso dieses Thema? 
       
       Liv Strömquist: Über die letzten Jahre habe ich beobachtet, wie stark diese
       Selbstoptimierungskultur verbreitet und vermarktet wird. Jeder Aspekt des
       Lebens soll optimiert und damit effizienter gemacht werden. Täglich werden
       wir mit solchen Inhalten konfrontiert – über Werbung, soziale Medien oder
       Mitmenschen. Das kritisiere ich in meinem Comic. Es dreht sich viel zu viel
       darum, wie wir besser leben, aber ich vermisse Diskussionen darüber, was es
       überhaupt bedeutet, zu leben.
       
       taz: Woher kommt Ihrer Meinung nach dieser verstärkte Drang zur
       Selbstoptimierung? 
       
       Strömquist: Ich denke, das hat etwas mit der Coronapandemie zu tun, die
       viele Menschen isoliert und einsam gemacht hat. Gleichzeitig war sie etwas,
       das wir nicht unter Kontrolle hatten. Wenn wir dann zum Beispiel dem Rat
       von Influencer_innen folgen, die Produkte bewerben, die Effizienz oder
       Gesundheit fördern sollen, sind das kleine Momente, in denen wir ein Gefühl
       von Kontrolle zurückerlangen. Durch die Individualisierung und den
       Kontrollverlust während der Pandemie sind Gespräche rund um
       Selbstoptimierung im Namen der Gesundheit von Körper und Psyche zum
       Mainstream geworden.
       
       taz: In Ihrem Werk beschreiben Sie den Tod als ultimativen Kontrollverlust.
       Ist das auch etwas, das unseren Drang nach Selbstoptimierung schürt? 
       
       Strömquist: Bestimmt. Der Tod und das Sterben werden oft verdrängt, weil
       die Angst davor so groß ist. Es gibt, zumindest im europäischen Kontext,
       [2][kaum Rituale oder kulturelle Wege, mit dem Tod] umzugehen. [3][Die
       Angst vor dem Tod] inspiriert zum Beispiel das Streben nach extremer
       Gesundheit oder Effizienz – also so viel wie möglich so schnell wie möglich
       zu tun oder zu erleben. So wird eine Illusion von Kontrolle
       wiederhergestellt. Diese Narrative sehen wir auch in der
       Selbstoptimierungskultur. Aber der Tod bleibt unkontrollierbar, und wir
       sollten das anerkennen.
       
       taz: Sollten wir dann besser gar nicht mehr versuchen, uns zu verbessern
       oder Kontrolle auszuüben? 
       
       Strömquist: Nein, ich bin überhaupt nicht dagegen, sich zu verbessern,
       solange es ein konkretes Ziel gibt und die Optimierung an sich nicht zum
       einzigen Sinn des Lebens wird. Über die individuelle Ebene hinaus, auf der
       gesellschaftlichen Ebene, ist Kontrolle sogar essenziell und sollte in
       Bereichen wie Klimapolitik, Wohnungsbau und Armutsbekämpfung eine größere
       Rolle spielen. Aber ich glaube, konstante Kontrolle in unserem Privatleben
       ist nicht gut. Das führt dazu, dass schöne und alltägliche Dinge, wie zum
       Beispiel Musik hören, zu unlösbaren Aufgaben werden und wir sie nicht mehr
       genießen können.
       
       taz: Warum ist es wichtig, wie Sie sagen, diese Themen nicht nur auf
       individueller, sondern auch auf gesellschaftspolitischer Ebene zu
       behandeln? 
       
       Strömquist: Wir sollten diese Themen nicht individualisieren und
       depolitisieren. Wenn das passiert, wird die Verantwortung für strukturelle
       Probleme auf Individuen übertragen – eine sehr effiziente Strategie, um
       Machtstrukturen aufrechtzuerhalten. Zum Beispiel werden für
       Stressbewältigung oft Ratschläge gegeben wie Meditation oder Spaziergänge,
       aber selten wird über politische Lösungen wie kürzere Arbeitstage,
       Grundeinkommen oder die Verringerung von Einkommensungleichheit
       gesprochen. Der Fokus auf individuelle Lösungen lenkt von der Notwendigkeit
       struktureller Veränderungen ab.
       
       taz: In „Das Orakel spricht“ erzählen Sie von Ratgeber_innen aus
       verschiedenen Kontexten und Zeiten. Dabei kommen auch historische Figuren
       wie das Orakel von Delphi vor. Was können wir von ihnen für die Gegenwart
       lernen? 
       
       Strömquist: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Dinge in der
       Vergangenheit anders waren und sich daher auch in der Zukunft ändern
       können. Zum Beispiel galten vor 60 Jahren noch ganz andere Dinge als
       „gesund“ im Vergleich zu heute. Das zeigt auch, dass viele der heutigen
       „Wahrheiten“ nicht endgültig sind. Ich sehe darin eine großartige
       Möglichkeit, die Vorstellung zu vermitteln, dass die Zukunft formbar ist
       und dass wir aktiv an ihr arbeiten können.
       
       taz: Seit Ihrer ersten [4][feministischen Graphic Novel, „Der Ursprung der
       Welt“ (2017)], ist Feminismus zwar weiter in den Mainstream gerückt, aber
       zugleich erleben wir heute [5][einen Backlash], zum Beispiel im Hinblick
       auf reproduktive Gerechtigkeit. Wie blicken Sie auf diese Entwicklungen? 
       
       Strömquist: Es gibt so viel Wissen über Feminismus, soziale Gerechtigkeit
       und Diskriminierung. Manchmal fühlt es sich so an, als ob wir Fortschritte
       machen und die Gesellschaft sich verändert, aber dann machen
       Politiker_innen offen frauen- und queerfeindliche Politik. Wir gehen
       Schritte zurück. Warum? Ich wünschte, ich wüsste die Antwort auf diese
       Frage. Schlussendlich, denke ich, hängt das auch mit den Themen in meinem
       Buch zusammen, mit Individualisierung und Kontrolle. Menschen haben das
       Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, und versuchen diese zurückzuerlangen,
       indem sie Macht über andere, meist weniger privilegierte Personen, ausüben.
       
       taz: Warum ist das Medium Comic besonders geeignet, über diese
       strukturellen Probleme aufzuklären und komplexe gesellschaftspolitische
       Themen zugänglich zu machen? 
       
       Strömquist: Bilder und Zeichnungen können Dinge ausdrücken, die nicht in
       Worte zu fassen sind. Dadurch ermöglichen sie den Lesenden mehr Freiheit,
       eigene Gedanken zu den Inhalten zu entwickeln. Die akademischen Texte und
       Theorien, mit denen ich arbeite, sind oft sehr kompliziert geschrieben und
       für viele unzugänglich. Comics hingegen werden leichter verstanden und
       erreichen ein breiteres Publikum. In Comics kann ich akademische Sprache
       umgehen und trotzdem schlaue Ideen weitergeben. Um gesellschaftliche
       Veränderung anzustoßen, ist es wichtig, dass Wissen allen Menschen
       zugänglich ist.
       
       taz: Besteht durch diese vereinfachte und bildliche Wiedergabe der Inhalte
       nicht ein Risiko, dass Dinge falsch verstanden werden? 
       
       Strömquist: Das Risiko besteht bei jedem Text. Meine Werke beruhen auf
       meiner Interpretation von Theorien und Ideen, mit denen ich mich
       beschäftige. Ich verstehe auch nicht immer alles richtig. Deshalb liste ich
       am Ende meiner Bücher immer alle Texte auf, die in dem Buch vorkommen, so
       können Lesende nachschlagen und sich selbst ein Bild davon verschaffen. Für
       mich ist das Schreiben eine Art, mir diese Themen selbst zu erklären. Meine
       Bücher sind eine Einladung, gemeinsam mit mir über diese Themen zu lernen.
       
       taz: In Ihrem Buch zitieren Sie hauptsächlich weiße Personen und die Bilder
       zeigen weiße und nicht-behindert gelesene Menschen. Sollte nicht gerade ein
       visuelles Medium wie der Comic diversere Ideen und Körper repräsentieren? 
       
       Strömquist: Jedes Medium sollte diverse Perspektiven repräsentieren. Wenn
       es um reale Personen wie Theodor Adorno geht, basieren meine Zeichnung auf
       ihrem Aussehen. Im Allgemeinen versuche ich, die Hautfarbe nicht zu
       spezifizieren. In „Das Orakel spricht“ habe ich Figuren in Farben wie Blau
       oder Grün gezeichnet, um sie offen für Identifikation zu machen. Ob das
       geklappt hat, weiß ich auch nicht, aber das ist meine Art, daran zu
       arbeiten.
       
       6 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Neuer-Comic-von-Liv-Stroemquist/!6045787
 (DIR) [2] /Umgang-mit-Trauer/!6044618
 (DIR) [3] /Autor-ueber-Angst/!6048878
 (DIR) [4] /Theaterstueck-Der-Ursprung-der-Welt/!5717446
 (DIR) [5] /Autorin-ueber-Mobilmachung-im-Patriarchat/!5737243
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ilo Toerkell
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Graphic Novel
 (DIR) Feminismus
 (DIR) Selbstoptimierung
 (DIR) Comic
 (DIR) GNS
 (DIR) Künstlerin
 (DIR) Comic
 (DIR) Graphic Novel
 (DIR) Literatur
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Die Berliner Künstlerin Olga Hohmann: Ein unendlicher Text
       
       Olga Hohmann navigiert zwischen Performance, Fiktion und Autobiografie.
       Immer geht es ums Sammeln, Verarbeiten und Neuformulieren.
       
 (DIR) Neuer Comic von Liv Strömquist: Gegen individualistisches Elend
       
       Liv Strömquists Comic „Das Orakel spricht“ will uns von Selbstoptimierung
       erlösen. Es geht auch um Angst, die sich hinter Skincare-Routinen
       versteckt.
       
 (DIR) Comic über die Sternzeichen: Lüsterne Skorpione
       
       Der neue Comic von Liv Strömquist ist ein lustig-überzeichneter
       Sternzeichen-Kalender, der nebenbei den Hype um Astrologie erklärt.
       
 (DIR) Besuch beim Comic-Verleger Johann Ulrich: Selber machen, was er lesen wollte
       
       Johann Ulrichs Avant-Verlag widmet sich deutschen und internationalen
       Graphic Novels, Klassikern und Newcomern. Nicht ohne Risiko, aber mit
       Erfolg.