# taz.de -- Fahrradfahren auf der Berliner Sonnenallee: Geisterbahn und Autowahn
       
       > Unser Autor hat es gewagt, mit dem Rad über die Sonnenallee zu fahren. An
       > Hundekot, Schlaglöchern und SUVs vorbei. Er lebt noch.
       
 (IMG) Bild: Selbst im grün regierten Berlin braucht Fahrradfahren Mut
       
       Berlin taz | Dass die Bevölkerung die Verkehrswende längst selbst
       eingeleitet hat, merkt man daran, dass es gerade im Sommer auf den schmalen
       Radwegen zu eng wird. Doch [1][langsam zieht auch die Berliner Politik
       nach].
       
       Sogar in Neukölln. Dort zeigen sich im Zuge einer veränderten
       Bevölkerungsstruktur verschiebende Mehrheiten erste Effekte. Zwar misstraut
       man besonders im Osten den Bundesgrünen, weil die nicht schnallen wollen,
       dass Putin der Freund aller Kinder ist. Doch für grüne Basics in der
       Lokalpolitik langt es allemal: Runkelrüben, Ökostrom und eben Fahrrad.
       
       Während andere Magistralen des Bezirks wie Hasenheide, Karl-Marx-Straße und
       Kottbusser Damm sukzessive mit breiten Fahrradstreifen befriedet wurden,
       bleibt die Sonnenallee jedoch als anachronistisches Symbol für das alte
       Westberlin erhalten – eine Geisterbahn des Autowahns.
       
       Bubi Scholz, Brigitte Mira und Eberhard Diepgen; Bahnhof Zoo, Hertha BSC
       und „Mampe Halb & Halb“. Man rauchte im Bus, und die Gammler auf dem
       Fahrrad fuhr man einfach um. Das Leben einer Radfahrerin zählte für die
       Altparteien nie mehr als das einer lästigen Mücke. Radfahrer störten,
       schadeten der Autoindustrie, waren keine vollwertigen Bürger; man hätte
       ihnen eigentlich das Wahlrecht entziehen müssen.
       
       ## Fünf Kilometer Verkehrsmuseum
       
       Im Grunde ist die Sonnenallee ein befahrbares, interaktives Verkehrsmuseum
       auf knapp fünf Kilometern Länge. Das erste Teilstück am Hermannplatz bildet
       die 1950er Jahre ab: Der Verkehr fließt, komplett ohne Fahrradwege.
       
       Als nächstes das neunzehnte Jahrhundert: Ab der Pannierstraße verengt sich
       die Fahrbahn weiter auf circa eindreiviertel Spuren, die nicht mal mehr
       durch Markierungen voneinander abgegrenzt sind. Dafür kann man überall
       parken, am Rand, auf dem Mittelstreifen und in zweiter Reihe. Der Autor
       fühlt sich wie ein Fuchs bei der Parforcejagd und fragt sich, ob
       lebensgefährliche Vor-Ort-Recherche im angemessenen Verhältnis zu einem
       Artikel für 76,80 Euro steht.
       
       Zwar ist die Sonnenallee hier arabisch geprägt, doch zu sarrazinesken
       Silvester-Gedächtnis-Reflexen taugt das wenig. Denn die Mischung aus
       schlechtem und aggressivem Fahrverhalten ist urdeutsch. Dem Berliner mag
       sie überdies als eskapistische Lebensflucht aus der protestantischen
       Disziplin dienen, um auch einmal über die Stränge zu schlagen und die
       Obrigkeit zu verspotten.
       
       Die Autofahrt ist der Karneval des Preußen, das Abdrängen von Radfahrern
       sein mit Senf gefüllter Pfannkuchen und der SUV sein Motivwagen. Wo sich
       Migrantenkinder dieser Sitte mit lobenswertem Eifer annehmen, kann ihnen
       das kaum zum Vorwurf gemacht werden. Allerorten werden sogenannte
       Integrationsleistungen von ihnen verlangt, und dann soll es auch wieder
       nicht recht sein?
       
       ## Das Ende der Weserstraße
       
       Noch extremer präsentiert sich die parallel verlaufende Weserstraße, die
       vermutlich längste Nebenstraße der Welt. Am Anfang eine huppelfrei
       gentrifizierte Fahrradstraße, auf der kein Tropfen aus dem im Lastenrad
       transportierten Grünkohlsmoothie schwappt, fadet sie am Ende in eine
       absurde Trümmerwüste mit der euphemistischen Beschilderung „Rad u.
       Gehwegschäden“ aus. Die Mittelalterabteilung.
       
       Doch zurück zur Sonnenallee. Erst kurz vor dem S-Bahn-Ring beginnt so ein
       buckliger Oldschool-Radweg, der an der Planetenstraße jedoch schon wieder
       endet, und zwar für den Rest des Straßenzugs.
       
       Vielleicht ist das ja auch alles eine Idee der Grünen, denken wir, während
       wir uns aufrappeln, um Blut und Hundekot von der zerrissenen Hose zu
       wischen. Bestimmt soll die Sonnenallee dem Wahlvolk einfach nur als
       [2][Mahnmal einer präzivilisatorischen Verkehrspolitik] und deren Folgen
       erhalten bleiben.
       
       11 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Schwerpunkt-Radfahren-in-Berlin/!t5473166
 (DIR) [2] /Gekippte-Teilsperrung-der-Friedrichstrasse/!5887256
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Uli Hannemann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Grüne Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) grüne Mobilität
 (DIR) Fahrrad
 (DIR) Verkehrspolitik
 (DIR) Sonnenallee
 (DIR) Verkehrswende
 (DIR) Zukunft
 (DIR) Sonnenallee
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Upcycling
 (DIR) Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Problemzone Fahrradstraße: Rad in schlechter Gesellschaft
       
       Sie heißen „Fahrradstraßen“, aber hier fahren und parken viele andere
       Verkehrsteilnehmende. Das birgt viele Probleme. Zeit für eine radikale
       Lösung.
       
 (DIR) Die Verständnisfrage: Autos vor?
       
       Warum ist die Ampelschaltung auf Autos und nicht auf Radfahrende
       ausgelegt?, fragt eine Leserin. Ein Verkehrsplaner antwortet.
       
 (DIR) Sonnenallee in Berlin-Neukölln: Große Kunst in Architekturperle
       
       Auswärtige kennen es, Einheimische eher weniger: Neben dem Neuköllner
       Schifffahrtskanal liegt das höchst kunstambitionierte Kongresshotel Estrel.
       
 (DIR) Verkehrswende ohne Autos: Überzeugungstäter der Straße
       
       Andreas Knie ist einer der bekanntesten Mobilitätsforscher im Land. Er
       wirbt für autofreien Verkehr – und zeigt in Berlin, wie es gehen kann.
       
 (DIR) Schrottfahrräder in Berlin: Wiedergeburt der Radleichen
       
       Jedes Jahr rosten tausende Fahrräder am Straßenrand ihrem Ende entgegen.
       Wenn sie Glück haben, schenkt ihnen eine Werkstatt ein zweites Leben.
       
 (DIR) Radfahren in Berlin: Gefühlte Sicherheiten
       
       Laut einer Umfrage lässt Berlins Radinfrastruktur aus NutzerInnen-Sicht
       viel zu wünschen übrig. Die Zahlen sind allerdings
       interpretationsbedürftig.