# taz.de -- Kipping über Berlin und die Linke: „Time of my Life“
       
       > Katja Kipping ist Sozialsenatorin in Berlin und will das nach der Wahl
       > bleiben. Ein Gespräch über ihren Job – und den desolaten Zustand der
       > Linken.
       
 (IMG) Bild: „Man kann in mehreren Vereinen sein, aber man muss sich für eine Partei entscheiden“: Katja Kipping
       
       taz: Frau Kipping, machen Sie sich Sorgen um Ihren Job? 
       
       Katja Kipping: Ich bin recht zuversichtlich, dass wir nach der Wahl
       weiterhin soziale Mehrheiten haben werden in Berlin.
       
       Was macht Sie da so zuversichtlich? Der Bundestrend spricht dagegen, die
       Linke steht bei 5 Prozent. 
       
       Hier in Berlin sind wir zweistellig. Die Berliner Linke macht hier den
       Unterschied. Das spricht sich rum bei den Menschen.
       
       Welchen Unterschied? 
       
       Ohne uns würden die Ärmsten vergessen. Wir haben das reduzierte
       9-Euro-Sozialticket durchgesetzt. Ohne die Berliner Linke wäre kein
       Härtefallfonds aufgelegt worden, der einspringt, wenn Menschen ihre
       Energierechnung nicht bezahlen können. Ohne die Berliner Linke wäre kein
       Tariftreuegesetz gekommen, das sicherstellt, dass sich bei der öffentlichen
       Vergabe nur Unternehmen bewerben können, die die Branchentarifverträge
       einhalten. Ohne uns wäre das Ergebnis des Volksentscheids Deutsche Wohnen &
       Co. enteignen unter den Tisch gefallen. Dann wäre keine Expertenkommission
       gegründet worden, die deutlich macht, dass Vergesellschaftung möglich ist.
       
       Franziska Giffey lehnt Letzteres ab. Wie können Sie denn persönlich mit der
       Regierenden Bürgermeisterin? 
       
       Genau wie Klaus Lederer finde ich diese Position von Franziska Giffey
       komplett falsch. Ich meine: Deutsche Wohnen muss gehen, damit viele
       Mieterinnen und Mieter bleiben können. Doch zum persönlichen Umgang: Wir
       kannten uns ja vorher nicht persönlich. Aber ich muss sagen: Der Krieg
       gegen die Ukraine, die Zehntausenden Geflüchteten, die wir hier versorgen
       müssen, das hat uns zusammengebracht. Wir wissen, wo wir unsere politischen
       Differenzen haben, aber wir wissen auch, wie wir in Krisen schnell zu
       belastbaren Lösungen kommen können. Wir respektieren uns gegenseitig.
       
       Sie sind federführend zuständig für die Versorgung der Geflüchteten aus der
       Ukraine. Wie haben Sie Ihr erstes Jahr als Senatorin erlebt? 
       
       Politisch war dieses Jahr verheerend, mit dem Ukrainekrieg, Pandemie, mehr
       Armut. Jedem und jeder Geflüchteten, die hier ankommt, ein Obdach
       anzubieten – das ist ein verdammter Knochenjob. Und ich muss trotzdem
       sagen, arbeitsmäßig war es für mich the Time of my Life, weil wir in
       schwierigen Zeiten was bewirken konnten. Ich würde die Arbeit gerne mit
       diesem tollen Team hier weiterführen.
       
       Berlin hat rund 100.000 Geflüchtete aus der Ukraine aufgenommen. Wo sind
       sie untergebracht? 
       
       Die meisten sind noch privat untergebracht. Rund 4.000 leben in
       landeseigenen Unterkünften.
       
       Also ein Bruchteil. Wie lange können Sie noch auf die Solidarität der
       Berliner:innen setzen, die Geflüchtete privat aufnehmen? 
       
       Wenn die Menschen das nicht mehr schaffen, sind wir als Land in der
       Pflicht, die Geflüchteten unterzubringen. Das tun wir auch. Aber ehrlich
       gesagt: Das, was wir gerade im Angebot haben, sind Plätze in Sammel- und
       Gemeinschaftsunterkünften. Und davon müssen wir ständig mehr Plätze
       schaffen, denn wir haben ja parallel auch einen deutlichen Anstieg bei den
       Asylsuchenden aus anderen Ländern.
       
       Rechnen Sie mit einem weiteren Anstieg von Geflüchteten aus der Ukraine im
       laufenden Winter? 
       
       Damit muss ich immer rechnen. Wir beobachten gerade, dass wieder mehr
       Menschen aus der Ukraine an den Berliner Bahnhöfen ankommen. Pro Tag sind
       es 300 bis 350, vor dem Winter kamen durchschnittlich 200 Menschen pro Tag.
       
       Werden Menschen wieder in Turnhallen untergebracht? 
       
       Das ist das, was wir vermeiden wollen.
       
       Sie wollen es vermeiden, aber Sie schließen es nicht aus? 
       
       Wir haben uns als Berliner Senat darauf verständigt: Das machen wir nicht.
       
       Der Flüchtlingsrat sagt: Die Leichtbauhallen am ehemaligen Flughafen Tegel
       sind ein netteres Wort für Zeltstädte. Ist die Unterbringungspolitik des
       Berliner Senats gescheitert? 
       
       Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten hat 31.700 Plätze in festen
       Unterkünften, dabei nicht mit eingerechnet sind die großflächigen
       Sammelunterkünfte. Das sind so viele Plätze wie noch nie. Dort sind sowohl
       Geflüchtete aus der Ukraine als auch Asylsuchende untergebracht. Zusätzlich
       haben wir für diesen Winter 1.500 Plätze im laufenden Hostel- und
       Hotelbetrieb für Geflüchtete angemietet. Doch wegen des Anstiegs der
       Ankunftszahlen brauchen wir leider auch Sammelunterkünfte. Es wäre total
       schön, für jeden Geflüchteten eine Wohnung zu haben. Aber da macht der
       Flüchtlingsrat die Rechnung ohne den angespannten Wohnungsmarkt. Schon
       jetzt bewerben sich auf eine Sozialwohnung fast zehn Berechtigte. Wir
       brauchen ergo mehr bezahlbaren Wohnraum. Es ist nicht genügend bezahlbarer
       Raum gebaut worden.
       
       Eine Kritik an der Berliner Baupolitik? Die verantwortet die SPD. 
       
       Es reicht nicht, mit der privaten Bauwirtschaft nett zu reden. Wir brauchen
       andere Instrumente, die das öffentliche Bauen von dauerhaft bezahlbarem
       Wohnraum stärker fördern. Dazu hat die Berliner Linke ein Konzept zum
       öffentlichen Bauen vorgeschlagen, um innerhalb von zehn Jahren 75.000
       Wohnungen zu schaffen. Diese Wohnungen sollen dauerhaft bezahlbar bleiben,
       mit 7 bis 7,50 Euro Miete pro Quadratmeter. Für die sechs landeseigenen
       Wohnungsunternehmen braucht es einen öffentlichen Projektentwickler, der
       durch die Bündelung der Baumaßnahmen auch Marktmacht entwickeln kann.
       
       Als Senatorin für Integration stehen Sie auch wegen eines anderen Themas im
       Fokus: Die Angriffe auf Rettungs- und Einsatzkräfte in der Silvesternacht.
       Viele der mutmaßlichen Täter:innen haben Migrationshintergrund. Läuft da
       was schief in der Integration? 
       
       Was auf jeden Fall schieflaufen würde: wenn wir völlig inakzeptable und zu
       verurteilende Angriffe auf Rettungskräfte zum Anlass nehmen, um eine ganze
       Generation von Menschen mit Migrationshintergrund unter Generalverdacht zu
       stellen. Es gibt ein Problem von Armut und Ausgrenzung, das ist nicht
       pauschal ein Integrationsthema.
       
       Die Linkspartei im Bund hat einen heißen Herbst und Sozialproteste
       versprochen. Die sind ausgeblieben, weil die Bundesregierung die
       Preissteigerungen mit Entlastungen abgefedert hat. Statt heißem Herbst nur
       heiße Luft? 
       
       Nein. Allein die Androhung von einem heißen Herbst hat ja offensichtlich
       Wirkung gezeigt. Am Anfang stand, das haben viele schon vergessen, eine
       Gasumlage statt eines Gaspreisdeckels.
       
       Der Preisdeckel ist das Verdienst der Linken? 
       
       Beweisen Sie mir das Gegenteil.
       
       Ist es also gut, dass die Proteste ausgefallen sind? 
       
       Also einige gab es und die Berliner Linke hat auch zu mehreren Demos
       erfolgreich mobilisiert. Und die Probleme sind ja nicht weg. Die viel zu
       große soziale Spaltung in diesem Land hat eher noch zugenommen. Wenn wir
       einen garantierten Schutz vor Armut wollen, braucht es armutsfeste
       Sozialleistungen und höhere Renten und Löhne.
       
       Das ist aber Aufgabe des Bundes. 
       
       Ja, ganz klar. Zugleich ist mein Impuls, nicht Däumchen zu drehen und zu
       warten, bis der Bund das regelt, sondern zu schauen, was wir auf
       Landesebene in die Hand nehmen können. Ich strebe zum Beispiel an, das
       Berliner Sozialticket von 9 Euro über den März hinaus zu verlängern. Wir
       haben im Haushalt dafür Vorsorge getroffen. Die Entscheidung trifft
       allerdings der Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg.
       
       Schadet der Linken ihre Zerrissenheit auf Bundesebene im Berliner
       Wahlkampf? 
       
       Ich setze darauf, dass die Menschen wissen, dass sich die Berliner Linke um
       das Wesentliche kümmert, nämlich um ein soziales Berlin voller Kultur und
       Teilhabe, und dass wir dem Markt die Stirn bieten.
       
       Was funktioniert in der Berliner Linken, was im Bund nicht funktioniert? 
       
       Ich formuliere es positiv: Innerhalb der Berliner Linken ringen wir
       gemeinsam um eine Positionierung, diskutieren da auch kontrovers, und am
       Ende verständigt man sich und vertritt sie nach außen. In so einer Kultur
       des Gemeinsamen haben Egotrips zulasten der Partei keine Chance.
       
       Sie meinen Egotrips wie die von Sahra Wagenknecht? 
       
       Dieses Beispiel haben Sie genannt, nicht ich.
       
       Wäre es gut, wenn Sahra Wagenknecht die Linke bald verlässt? Sie soll ja
       eine eigene Parteigründung planen. 
       
       Jeder Mensch kann mehrere Liebschaften haben, wenn er mag, aber nur mit
       einer Person verheiratet sein. Und genauso ist es bei einer Partei. Man
       kann in mehreren Vereinen sein, aber man muss sich für eine Partei
       entscheiden.
       
       Wie sollte Wagenknecht sich entscheiden, soll sie weiter mit der Linken
       verheiratet sein oder nicht? 
       
       Ich werde nicht mit einem markigen Zitat auf das Aufmerksamkeitskonto von
       einem möglicherweise alternativen Parteiprojekt einzahlen.
       
       Sie waren neun Jahre Bundesvorsitzende der Linken. Welche Schuld tragen Sie
       an dem desolaten Zustand Ihrer Partei im Bund? 
       
       Neun Jahre lang habe ich alles gegeben, damit die Linke eine moderne
       sozialistische Partei auf der Höhe der Zeit ist, die nicht mehr das
       SED-Manko hat. Und wir haben viele Fortschritte erzielt, die leider zum
       Teil wieder eingerissen worden sind.
       
       Also keine Versäumnisse von Ihrer Seite? 
       
       Eine Bilanz habe ich für mich selbst gezogen. Aber jetzt ist nicht der
       Zeitpunkt, diese öffentlich zu machen.
       
       Haben Sie Pläne, falls Sie nicht Senatorin bleiben sollten? 
       
       Es ist ja kein Geheimnis, dass ich gerne weitermachen würde. Und zugleich
       gibt es in mir auch eine Abenteurerin. Wenn die Wahl anders ausgehen
       sollte, dann habe ich als Mittvierzigerin noch mal die Chance, das Drehbuch
       ganz neu zu schreiben.
       
       30 Jan 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anna Klöpper
 (DIR) Anna Lehmann
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Landtagswahlen
 (DIR) Die Linke Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Die Linke
 (DIR) Berlin
 (DIR) GNS
 (DIR) Katja Kipping
 (DIR) Tarif
 (DIR) Die Linke Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Die Linke Berlin
 (DIR) Klaus Lederer
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Entwurf zum Tariftreuegesetz: Wenn der Lohn zur Baustelle wird
       
       In Baden-Württemberg diskutiert die Politik über ein Tariftreuegesetz. so
       sollen bei öffentlichen Aufträgen mindestens 13,13 Euro gezahlt werden.
       
 (DIR) Die Wiederholungswahl und Die Linke: Linke Politik auf der Kippe
       
       Der Linken drohen Verluste. Damit würden Personen, die derzeit linke
       Berliner Politik prägen, den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus verpassen.
       
 (DIR) Entscheidung des Verfassungsgerichts: Berlin hat tatsächlich die Wahl
       
       Die Wiederholung der Berlin-Wahlen kann wie geplant am 12. Februar
       stattfinden, sagt Karlsruhe – während der Wahlkampf längst auf Hochtouren
       läuft.
       
 (DIR) Linken-Vorschlag zum Gesundheitswesen: Das System ist schizophren
       
       Die Linke präsentiert ein Positionspapier zum sozialen Umbau der
       Gesundheitsversorgung: Es soll mehr Geld und neue Angebote geben.
       
 (DIR) Wahlkampfauftakt der Berliner Linke: Linke läuft sich warm
       
       Die Berliner Linke freut sich über Rückenwind in der
       Vergesellschaftungsfrage. Spitzenkandidat Lederer greift Grüne für
       verschleppte Verkehrswende an.
       
 (DIR) Kultursenator Lederer über Wahlkampf: „Das wird wieder eine Mietenwahl“
       
       Kultursenator und Linken-Spitzenkandidat Klaus Lederer über Frust unter
       Wähler*innen, den Klimaentscheid, Hilfen für die Kultur und den Wahlkampf.