# taz.de -- Umgang mit Klimaprotesten: Politik der Doppelmoral
       
       > Lkw-Blockaden? Kein Problem! Klimablockierer? Härte des Rechtsstaats!
       > Warum manche Formen zivilen Ungehorsams Politiker besonders provozieren.
       
 (IMG) Bild: Reste zivilen Ungehorsams: die Hände eines Aktivisten nach einer Klebeaktion Anfang Dezember in Berlin
       
       Anfang 1984 kam es in Deutschland zu Straßenblockaden, die alle Aktionen
       der heutigen Klimaaktivisten in den Schatten stellen. Lkw-Fahrer
       blockierten über Tage die Inntal-Autobahn, um gegen die langsame
       Abfertigung am Zoll zu protestieren.
       
       Angesichts der heftigen Reaktionen auf die [1][Straßenblockaden der
       Klimaaktivisten] der Letzten Generation könnte man vermuten, dass besonders
       die als Garanten des Rechtsstaats auftretenden Politiker von [2][CDU und
       CSU] seinerzeit die protestierenden Kraftfahrer als „kriminelle Straftäter“
       beschimpft und Forderungen an die Justizminister aufgestellt hätten, die
       Verbrecher auf acht Rädern „einfach wegzusperren“. Man könnte auch
       annehmen, dass Blockierer in konsequenter Anwendung des bayerischen
       Polizeiaufgabengesetzes in Präventivhaft genommen wurden.
       
       Das Gegenteil war der Fall. Die Polizei ließ die Lkw-Blockaden auf den
       Straßen stehen und notierte nicht einmal die Autokennzeichen der Fahrzeuge.
       Bayrische Politiker setzten keine Hundertschaften der Polizei in Marsch, um
       die Straßen zu räumen, im Gegenteil: Minister, Staatssekretäre und
       Abgeordnete der CSU pilgerten zu den Blockierern, um ihre Solidarität zum
       Ausdruck zu bringen. Der damalige bayrische Ministerpräsident Franz-Josef
       Strauß warf sich sogar in Trucker-Kluft, um seine „volle Unterstützung“ mit
       den Protestierenden zu zeigen.
       
       Aus juristischer Perspektive müsste man davon ausgehen, dass Politiker auf
       Straßenblockaden stets gleich reagieren, unabhängig vom Inhalt der
       Proteste. Denn anders als bei angemeldeten Kundgebungen, bei denen die
       kurzzeitige Behinderung des Verkehrsflusses durch das Demonstrationsrecht
       gedeckt ist, handelt es sich bei Straßenblockaden eindeutig um eine
       illegale Protestform.
       
       ## Es gelten unterschiedliche Standards
       
       Man müsste deswegen erwarten, dass die sich zu den Prinzipien des
       Rechtsstaat bekennenden Politiker zwar ein mehr oder minder ausgeprägtes
       Verständnis für die Anliegen der Protestierenden äußern, aber die Proteste
       doch aufgrund ihrer Illegalität konsequent verurteilen. Aber scheinbar
       existieren für Lkw-Fahrer, die über Tage Autobahnen versperren, und
       Klimaaktivisten, die für einige Stunden eine Straße blockieren,
       unterschiedliche Standards. Wie ist das zu erklären?
       
       Die einfachste Antwort ist, dass das Bekenntnis zu rechtsstaatlichen
       Prinzipien stark von den politischen Positionen der jeweiligen Parteien
       abhängt. Parteien mit Nähe zur Autolobby zeigen größere Toleranz für
       Gesetzesverstöße, wenn durch Blockaden das Prinzip der freien Fahrt für
       freie Bürger durchgesetzt werden soll, reagieren aber allergisch, wenn sich
       die Proteste gegen ihre autofreundliche Verkehrspolitik richten.
       
       Parteien, die zum Schutz des Klimas den Autoverkehr in den Städten
       einschränken wollen, sympathisieren mit Aktionen der blockierenden
       Klimaaktivisten, würden aber auf konsequenter Durchsetzung des Rechts
       bestehen, wenn Autofahrer als Protest gegen ein Tempolimit kollektiv mit
       100 km/h durch die Stadt heizen würden. Diese Erklärung mit
       unterschiedlichen Parteipräferenzen ist sicher nicht falsch, kann die
       Heftigkeit der Reaktionen auf die Proteste der Klimaaktivisten aber nicht
       erklären.
       
       ## Der inszenierte Kontrast provoziert
       
       Unabhängig von den konkreten politischen Forderungen scheinen sich
       Politiker durch den Anspruch einer moralischen Überlegenheit der
       Klimaaktivisten provoziert zu fühlen. Bewegungen sind dadurch
       gekennzeichnet, dass sie für allgemein akzeptierte Werte wie
       Menschenrechte, Weltfrieden oder Klimaschutz einstehen, aber dabei
       suggerieren, dass diese nur mit den von ihnen geforderten einschneidenden
       Maßnahmen erreicht werden können. Die Moralisierung der Werte führt dazu,
       dass diejenigen, die den weitgehenden Maßnahmen nicht zustimmen wollen, die
       geballte Missachtung der Bewegung gezeigt bekommen.
       
       Deswegen provoziert gerade der inszenierte Kontrast zwischen dem hehren
       Wert der Menschheitsrettung der Protestierenden und den an unbeschränkter
       individueller Mobilität orientierten Bedürfnissen der blockierten
       Autofahrer und der visuell eindrucksvolle Gegensatz zwischen den bewusst
       friedlichen Blockierern und aufgebrachten Autofahrern.
       
       Wir wissen von den Protesten gegen die britische Kolonialpolitik oder gegen
       die Apartheidpolitik in Südafrika, dass nicht der Einsatz von Gewaltmitteln
       durch Protestierende, sondern gerade der Gegensatz zwischen gewaltfreien
       Protesten und einer zum Einsatz staatlicher Gewalt bereiten Politik die
       heftigsten Reaktionen bei Politikern hervorrufen. Schlimmer als der Einsatz
       von Gewalt bei Protestaktionen scheint für Politiker die Symbolisierung
       einer moralischen Überlegenheit der Protestierenden durch illegale, aber
       inszeniert friedliche Proteste.
       
       ## Aufmerksamkeit ist für erfolgreichen Protest notwendig
       
       Gerade die konsequente Gewaltlosigkeit, die Inkaufnahme erheblicher
       persönlicher Konsequenzen und die selbstverständliche Akzeptanz der
       Bestrafung scheint paradoxerweise Politiker dazu zu verführen, die
       Protestierenden mit Terroristen zu vergleichen. Wenn es um die Abkühlung
       des Gemüts der adressierten Politiker ginge, müssten die Klimaaktivisten
       bei ihren nächsten Straßenblockaden nicht die Rettung der Menschheit in
       Anspruch nehmen, sondern lediglich auf ihren ganz individuellen
       Überlebensdrang verweisen.
       
       Statt sich unter hohem persönlichen Risiko an die Straßen zu kleben,
       müssten sie diese mit 36-Tonnern blockieren und würden dadurch nicht durch
       inszenierte Schwäche provozieren. Die Reaktionen von Politikern auf
       [3][Straßenblockaden von Landwirten] wegen zu geringen staatlichen
       Subventionen oder von Autofahrern wegen gestiegenen Benzinpreisen zeigen,
       dass diese deutlich milder reagieren, weil sie sich davon moralisch nicht
       unter Druck gesetzt fühlen. Aber um diese Abkühlung geht es den
       Protestierenden nicht.
       
       Die Erregung der Politiker angesichts der Illegalität der Protestaktionen
       ist für jede Bewegung notwendiger Teil zur Aufmerksamkeitsproduktion für
       ihr Anliegen.
       
       15 Dec 2022
       
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