# taz.de -- Berichte aus der Nachbarschaft: Näher dran als die Zeitung
       
       > Blogs wie neukoellner.net besetzten Nischen im Web und galten mal als
       > Rettung des Lokaljournalismus. Nun drohen sie zu verschwinden.
       
 (IMG) Bild: Stadtansichten
       
       Das beste Jahr in der Geschichte des Lokalblogs [1][neukoellner.net] war
       wohl 2015. Die Website war 2011 von einer Gruppe ehrenamtlicher
       MitarbeiterInnen gegründet worden, um über den Berliner Stadtteil zu
       berichten, der in den Massenmedien zu dieser Zeit oft als Problembezirk
       dargestellt wurde. „All die anderen Facetten, die Neukölln so interessant
       gemacht haben, kamen in der Berichterstattung nicht vor“, erinnert sich Max
       Büch, einer der Gründer des Blogs. Wo die Thilo Sarrazins dieser Welt den
       Untergang des Abendlandes zu erkennen meinten, sahen die MacherInnen von
       neukoellner.net einen aufstrebenden Stadtteil, in dem die zu dieser Zeit
       noch niedrigen Mieten eine internationale Boheme mit kreativen Ideen anzog.
       
       neukoellner.net ist heute ein lebendiges Dokument aus der Zeit, bevor die
       Gentrifizierung Neukölln erreichte und aus dem urbanen Versuchslabor ein
       Eldorado für Immobilienmakler, Spekulanten und Airbnb-Slumlords wurde. Die
       „motivierte Horde Kulturschaffender“, wie sich die neukoellner.net-Macher
       in einer Selbstdarstellung aus dieser Zeit nannten, berichtete aus der
       Bezirksverordnetenversammlung und von Kiezfesten, porträtierte Galerien,
       Bars und Trödelläden – viele inzwischen geschlossen – und veröffentlichte
       in einer historischen Reihe Fotos aus dem Archiv des Neuköllner
       Heimatmuseums. Die damalige Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey, jetzt
       Regierende Bürgermeisterin von Berlin, gab dem Blog ein Interview, und
       dessen Berichte wurden im Rathaus aufmerksam gelesen.
       
       2015 gab es dafür den Goldenen Blogger und den [2][Grimme Online Award],
       weil neukoellner.net „die komplette mediale Klaviatur von Text über Bild
       und Ton bis hin zum Video angemessen“ bespielen würde, wie es in der
       Begründung der Jury damals hieß. „Inhaltlich ist das Angebot ‚kunterbunt‘
       und ‚lebendig‘ wie der Bezirk.“
       
       neukoellner.net dokumentierte nicht nur Lokalpolitik und Soziokultur auf
       einer so granularen Ebene, wie es eine traditionelle Tageszeitung niemals
       leisten könnte. Die MacherInnen hatten auch bei der redaktionellen
       Gestaltung innovative Ideen für das Medium Internet: Jeden Monat stellte
       ein Neuköllner DJ ein Mixtape zusammen. Das Design, das sich mit
       graffitiartigen Symbolen dem Stil des Stadtteils anpasste, war originell
       und sortierte die Inhalte nicht in traditionelle Ressorts wie Politik oder
       Kultur ein, sondern in Kategorien wie „Alltag & Anarchie“ oder „Spiel &
       Sperenzchen“. Und weil man das Publikum auch in die Produktion des Blogs
       einbeziehen wollte, gab es öffentliche Redaktionssitzungen im Büro an der
       Neuköllner Schillerpromenade.
       
       2019 wurde die Gestaltung überarbeitet, um auch auf Smartphones und Tablets
       sauber dargestellt werden zu können. Und dann – vorbei. Wenn man die Seite
       von neukoellner.net heute aufruft, sieht man ein Bild des damaligen
       Juso-Chefs Kevin Kühnert im Hoodie in einem Text aus dem Februar 2019.
       
       Der ehrenamtlichen Redaktion war es nicht gelungen, den Blog durch Anzeigen
       und Spenden zu finanzieren. Einige der Mitarbeiter bekamen feste Jobs,
       andere zogen weg, wieder andere gründeten Familien, und plötzlich war
       neukoellner.net verstummt. Was blieb, ist ein Onlinearchiv mit Texten,
       Bildern und viel Herzblut. Die kann man nur deswegen sehen, weil
       Mitbegründer Max Büch bis heute die Hostinggebühren bezahlt – seit dem
       Ende von neukoellner.net so viel, dass er davon auch einmal hätte in Urlaub
       fahren können, wie er sagt.
       
       Sonst würde neukoellner.net dasselbe Schicksal drohen wie vielen der
       „hyperlokalen Blogs“, die in den nuller und zehner Jahren gegründet wurden.
       Einige von ihnen haben bis heute überlebt, etwa in Berlin die
       [3][Prenzlauer Berg Nachrichten]. Doch die Mehrzahl von ihnen hat
       inzwischen die Segel gestrichen. Blogs wurden durch gewinnorientierte
       Versionen der sozialen Medien wie Facebook, Instagram oder Twitter
       abgelöst.
       
       Die Seiten sind oft aus dem Netz verschwunden oder nur noch bruchstückhaft
       auf der amerikanischen Website [4][archive.org]zusammenzupuzzeln (siehe
       dazu den Text auf Seite 49). Über 500 solcher Angebote verzeichnete in den
       Hochzeiten Mitte der zehner Jahre die Website kiezblogs.de – ein eigener
       Blog, der all die lokalen Blogs verzeichnete, die in dieser Zeit in ganz
       Deutschland aus dem Boden schossen.
       
       2015 hat es in Berlin 150 lokale Blogs gegeben, in Schwerin immerhin noch
       drei. Manche von ihnen beschäftigten sich mit einer überschaubaren
       Nachbarschaft wie der des Klausener Platzes in Berlin-Charlottenburg.
       Andere berichteten über neuralgische Punkte der Stadt wie der
       [5][gleisdreieck-blog], der seit 2000 die jahrzehntelangen
       Auseinandersetzungen und Planungen rund um einen ehemaligen Güterbahnhof
       im Zentrum von Berlin dokumentiert. Manche wurden von Redaktionskollektiven
       produziert, andere von Einzelpersonen.
       
       Sie alle gehörten zu einem Phänomen, das ab Mitte der nuller Jahre als
       „hyperlokaler Journalismus“ bezeichnet wurde. Blogsoftwaresysteme wie
       Moveable Type oder WordPress und Hostingservices wie Blogger erlaubten es
       zu dieser Zeit erstmals auch Menschen ohne große Computerkenntnisse, im Web
       eigene Aufzeichnungen zu veröffentlichen, die Weblogs – also
       „Web-Logbücher“ – oder kurz Blogs genannt wurden.
       
       Diese Onlinetagebücher gehörten zum Web 2.0, einem Vorläufer der sozialen
       Medien von heute, das Medientheoretikern Hoffnung auf eine neue Art
       Graswurzelpublizistik machte, welche keine Verlage und keine aufwendige
       Distribution und Produktion mehr bräuchte.
       
       Die hyperlokalen Blogs, die als Teil dieser Entwicklung entstanden, standen
       auch für eine neue Art von Lokaljournalismus, der persönlicher war, oft
       stark auf bestimmte Themen bezogen, gelegentlich auch einfach nur
       unprofessionell. Trotzdem sind die Hunderte von Sites, die zwischen 2000
       und Ende der zehner Jahre entstanden, bemerkenswert detaillierte
       Informationsquellen über Stadtteile oder Ortschaften, über die zu dieser
       Zeit oft kein Traditionsmedium berichtete.
       
       Inzwischen versorgen manche Tageszeitungen wie der Berliner Tagesspiegel
       die Stadtteile mit E-Mail-Newslettern. Aber in vielen anderen Groß- und
       Mittelstädten konzentrieren sich die Tageszeitungen – oft ist nur noch eine
       übrig geblieben – auf das, was die Mehrheit ihrer Leser interessiert.
       Nachrichten aus den Stadtteilen und Nachbarschaften kommen da häufig zu
       kurz.
       
       Die hyperlokalen Blogs von einst sind daher ein unschätzbarer Schnappschuss
       von lokaler ebenso wie von deutscher Internetgeschichte, von
       Nachbarschaftsklatsch und von zeitgenössischem Webdesign. Die meisten
       werden über kurz oder lang den Weg ins digitale Nirwana antreten, denn eine
       systematische Sammlung dieser Publikationen gibt es in Deutschland zurzeit
       nicht. Das Internet vergisst, anders als es oft behauptet wird, leider
       doch.
       
       Komplett ausgestorben sind die lokalen Blogs freilich noch nicht. Manche
       von ihnen haben sogar ein Geschäftsmodell gefunden: Die Prenzlauer Berg
       Nachrichten berichten seit Ende 2011 über den Berliner Stadtteil. Ein Teil
       der Berichte, die jeden Tag erscheinen, ist online für alle zu lesen, und
       das sogar ohne Werbung. Wer für 55 Euro Jahresgebühr Mitglied wird, hat
       auch Zugriff auf die Berichte hinter der Paywall, bekommt einen Newsletter,
       darf über Themen abstimmen und hat außerdem das gute Gefühl, unabhängigen
       Journalismus für die eigene Nachbarschaft zu unterstützen.
       
       Fünf RedakteurInnen sind als freie Mitarbeiter für die Website tätig. Als
       Grund für das Überleben der Prenzlauer Berg Nachrichten nennt
       Geschäftsführer Philipp Schwörbel neben dem Mitgliedschaftsmodell auch den
       Umstand, dass man immer rein journalistisch gearbeitet und keine PR gemacht
       habe und außerdem „mit unserem Geld sehr sorgsam umgegangen“ sei. Dass in
       Prenzlauer Berg heute eine gut betuchte Klientel wohnt, dürfte dem
       Webangebot zumindest nicht geschadet haben.
       
       Für die Finanzierung von Angeboten wie den Prenzlauer Berg Nachrichten hat
       Schwörbel die Firma Steady gegründet, bei der man Mitgliedschaften in
       Blogs, aber auch für Podcasts und Videokanäle erwerben kann. Andere
       Anbieter, die Steady nutzen, sind zum Beispiel die Onlinemagazine
       [6][Krautreporter] oder [7][Übermedien], die ihre Berichte von Anfang an
       durch Supporter finanzierten.
       
       Langfristig glaubt Schwörbel sogar, dass solche mitgliederfinanzierten
       Angebote noch zunehmen werden. In manchen Gemeinden gäbe es sonst gar keine
       lokale Berichterstattung mehr. Neue Erlösmodelle und ein Finanzierungsmix,
       zu dem auch Werbung gehört, würden solche Neugründungen auch finanziell
       attraktiv machen.
       
       Auch ehrenamtlich betriebene Blogs können durchaus lange leben, wenn ihr
       Thema nicht an Aktualität verliert – und wenn sie so einen gewissenhaften
       Betreiber haben wie der Berliner gleisdreieck-blog, der schon seit 2000
       über den ehemaligen Güterbahnhof in Kreuzberg berichtet. Der Grafiker (und
       frühere taz-Layouter) Matthias Bauer schreibt in seinem Blog über das ewige
       Tauziehen zwischen Stadt, Anwohnern und Investoren wegen der Art der
       Nutzung des innerstädtischen Filetgrundstücks, das heute ein beliebter Park
       ist.
       
       „Die Lokalpresse ist nie so ins Detail gegangen wie ich“, sagt Bauer, der
       seit mehr als zwei Jahrzehnten von Bürgerversammlungen, Ausschreibungen und
       Protestveranstaltungen berichtet. „Wenn man Einfluss nehmen will, muss man
       so einen Prozess auch kontinuierlich begleiten.“ Als um das Jahr 2000 das
       World Wide Web aufkam, erschien das für seinen Aktivismus als eine
       attraktivere Publikationsform als die traditionellen Flugblätter und
       Zeitschriften aus dem Copyshop. Als er 2009 auf das Redaktionssystem
       WordPress umstieg, erleichterte das die technische Umsetzung.
       
       Da seine MitstreiterInnen in Bürgerinitiativen und Anwohnergruppen nicht
       zum Schreiben zu bewegen waren, bestückt er seinen Blog bis heute fast
       allein mit Texten. Manche Beiträge hätten 200 Leser, andere 2.000.
       „Besonders wenn wieder [8][was in der Zeitung] stand, gehen die Zahlen
       hoch“, sagt Bauer. Inzwischen sei er sogar Ansprechpartner für
       JournalistInnen, die Zusammenhänge und Hintergründe erklärt bekommen
       wollen. Auch StudentInnen, die Material für Uniarbeiten brauchten, hätten
       sich schon bei ihm gemeldet.
       
       Die Unkosten, die ihm für das Webhosting und die Domain entstehen, deckt er
       durch Spenden. Ans Aufhören denkt er nicht, denn der Gleisdreieckpark sei
       immer noch nicht fertig. In der Berliner Stadtgesellschaft ist noch kaum
       bekannt, dass in den Park sechs riesige Bürogebäude gesetzt werden sollen.
       „Wenn wir es schaffen, diese Bauten zu verhindern, kann ich in Rente
       gehen“, sagt Bauer und lacht.
       
       5 Dec 2022
       
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