# taz.de -- Wiederholung der Wahlen in Berlin: „Vernünftig durch die Krisen bringen“
       
       > Trotz der absehbaren Wahlwiederholung darf das Abgeordnetenhaus nicht in
       > den Wahlkampfmodus schalten, fordert Sebastian Schlüsselburg (Linke).
       
 (IMG) Bild: Steht schon stellvertretend für den 26. September 2021 in Berlin: Schlange vor einem Wahllokal
       
       taz: Herr Schlüsselburg, gehen Sie davon aus, dass bis Ende März eine
       Wiederholung der Abgeordnetenhauswahl stattfindet und Sie wieder zur Wahl
       stehen? 
       
       Sebastian Schlüsselburg: Ja. Ich denke, es wird innerhalb von höchstens 180
       Tagen zu einer Wiederholung kommen. Das ist nach [1][der Anhörung des
       Verfassungsgerichtshofs am Mittwoch], an der ich teilgenommen habe,
       absehbar. Und darauf müssen sich jetzt alle vorbereiten.
       
       Das heißt, Sie haben umgeschaltet [2][in den Wahlkampfmodus?]
       
       Unser Wahlkampf als Linke wird darin bestehen, dass wir die Berlinerinnen
       und Berliner vernünftig durch diesen Winter und die vielfältigen Krisen
       bringen. Wir sind als Parlament – das wurde vom Gericht noch mal betont –
       bis zum Zusammentritt des dann wiederholt gewählten Abgeordnetenhauses voll
       handlungsfähig.
       
       Was steht jetzt für das Parlament an? 
       
       Wir müssen jetzt schnell den Nachtragshaushalt mit einem Volumen von
       mindestens 1,5 Milliarden Euro beschließen, um das Berliner
       Entlastungspaket ergänzend zum Bund machen zu können. Und wir müssen trotz
       des veränderten Zeithorizonts verantwortungsvoll den nächsten
       Doppelhaushalt vorbereiten. Ich kann da nur an das
       Verantwortungsbewusstsein von unseren Koalitionspartnern SPD und Grünen
       appellieren, dass es jetzt keine Blockaden gibt.
       
       Aber die Arbeit an Gesetzentwürfen, für die es absehbar noch mehr als drei
       Monate braucht, kann man doch einstellen. 
       
       Wir müssen schauen, welche Anträge und welche Gesetze wir mit einer
       Notwendigkeit versehen. Wir können uns nicht leisten, die Arbeit nur noch
       auf ein Minimum zu reduzieren und in den Wahlkampfmodus zu schalten, wie
       das sonst vor einer Wahl geschieht.
       
       Kommen wir noch mal auf die Sitzung des Gerichts zurück. Von dessen
       Argumentation waren alle überrascht. Kurz zusammengefasst: Wieso? 
       
       Für Juristinnen und Juristen, egal welcher Colour, war überraschend, dass
       das Landesverfassungsgericht weitergehende Maßstäbe für die Beurteilung von
       Fehlern anlegt, als das Bundesverfassungsgericht – zuletzt in diesem
       Februar – und auch alle anderen Landesverfassungsgerichte bisher.
       
       Könnte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Berliner
       Verfassungsgericht wieder kassieren? 
       
       Theoretisch ja. Aber dafür müssten die Berliner Richterinnen und Richter
       dem Verfassungsgericht ihre Entscheidung vorlegen. Damit rechnet derzeit
       niemand.
       
       Am Mittwoch wurde sehr viel auch über Gerechtigkeit im weitesten Sinne
       gesprochen. Sind nicht jene Abgeordnete, die mit einer soliden Mehrheit
       gewählt wurden wie Sie ja auch, ein bisschen säuerlich, dass sie jetzt noch
       mal antreten müssten? 
       
       Also ich bin nicht säuerlich. Ich glaube, auch die meisten der anderen
       Kolleginnen und Kollegen, die mit einem sehr deutlichen Vorsprung gewählt
       wurden und in deren Wahlkreisen es keine bekannten Fehler gegeben hat, sind
       nicht säuerlich. Wenn da jemand säuerlich sein könnte, dann sind es die
       Wählerinnen und Wähler, die in den Wahlkreisen, in denen es tatsächlich
       ordnungsgemäß abgelaufen ist, ihre Abgeordneten für fünf Jahre gewählt
       haben. Aber letzten Endes muss in einem Rechtsstaat das Verfassungsgericht
       diese Abwägung vornehmen. Und diese fällt offensichtlich im Moment so aus,
       dass die Richterinnen und Richter sagen, die Fehler waren so gravierend,
       dass das mit einer vollständigen Wiederholungswahl geheilt werden muss. Das
       haben wir dann zur Kenntnis zu nehmen.
       
       Bleibt die Frage nach der Gerechtigkeit. 
       
       Klar ist die Frage diskutiert worden, ob es gerecht ist, wegen
       nachgewiesener Fehler in 10 Prozent der Wahllokale die ordnungsgemäß
       abgegeben Stimmen in den 90 Prozent übrigen Wahllokalen zu annulieren. Aber
       wie gesagt, wir haben in Berlin nur ein einstufiges Wahlprüfverfahren durch
       unser Landesverfassungsgericht, das unabhängig ist. Es ist der
       Schiedsrichter unserer Verfassung.
       
       Womit müssen die Wählerinnen und Wähler rechnen im Wahlkampf, den es ja
       doch geben wird? 
       
       Das kommt darauf an, wie die Parteien den Wahlkampf führen werden. Rein
       rechtlich haben wir es mit einer Wiederholung der Wahl zu tun und nicht
       einer Neuwahl. Das bedeutet, es wird in den Parteien keine
       Nominierungsverfahren geben. Es wird mit den Stimmzetteln und den
       Kandidatinnen und Kandidaten der vergangenen Wahl erneut gewählt.
       
       Und wird auf dreieinhalb Jahre gewählt werden oder auf eine volle
       Legislatur? 
       
       Diese Frage scheint mir noch unbeantwortet zu sein. Das Gericht hat sich
       dazu nicht geäußert.
       
       Holen Sie ihre alten Plakate von 2021 wieder raus? 
       
       Das weiß ich noch nicht. Zwar ist die Wahl formaljuristisch – sofern das
       Verfassungsgericht bei seiner Auffassung bleibt – eine Wiederholungswahl.
       De facto haben wir eine komplett andere politische Situation. Der
       völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine läuft, wir haben eine
       veritable Inflation, wir haben eine veritable Wärme- und Energiekrise und
       wir steuern mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine nachhaltige Rezession im
       nächsten Jahr zu. Die Wählerinnen und Wähler stimmen in einem völlig neuen
       Setting über ihr Abgeordnetenhaus und über ihre
       Bezirksverordnetenversammlung und gegebenenfalls auch über die Berliner
       Sitze im Bundestag ab. Natürlich wird das Auswirkungen darauf haben, mit
       welchen Inhalten man in die – in Anführungszeichen – heiße kurze
       Wahlkampfphase reingeht.
       
       Ein großes Thema im Wahlkampf 2021 war die Enteignungsfrage, die auch Sie
       auf ihren Plakaten zum Thema gemacht haben. 
       
       Es ist schon eine Besonderheit, dass voraussichtlich der einzig legitime
       Akt ausgeübter Staatsgewalt vom 26. September 2021 der erfolgreiche
       Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. enteignen gewesen ist – der leider
       immer noch nicht umgesetzt ist. Diese Abstimmung hat Bestand. Das heißt aus
       unserer Sicht, dass das Ergebnis des Volksentscheids sogar mit noch
       größerem Nachdruck zu berücksichtigen ist. Die Frage der Vergesellschaftung
       steht zudem bundespolitisch für die Energiekonzerne auf der Tagesordnung,
       genauso wie die Aussetzung der Schuldenbremse; letzteres haben gerade
       Berlin und acht weitere Bundesländer in der Ministerpräsidentenkonferenz
       gefordert. Das sind Punkte, die die Wählerinnen und Wähler auf den
       Wahlplakaten finden könnten.
       
       Aber diese Fragen müssen bis zum Wahltag doch längst geklärt sein. 
       
       Das bleibt zu hoffen. Aber ausgemacht ist das nicht. Das heißt, die
       Wählerinnen und Wähler müssen zum Zeitpunkt X für sich bewerten, wie
       wichtig ihnen diese Punkte sind.
       
       Jetzt sind Sie doch im Wahlkampf! 
       
       Nein, das ist kein Wahlkampf. Die Linke hat mit Katja Kipping und Klaus
       Lederer …
       
       … der Sozialsenatorin und dem Kultursenator… 
       
       … zwei sehr bewährte Krisenmanager:innen, die sich darauf konzentrieren,
       die Berlinerinnen und Berliner in den nächsten 180 Tagen minus X so gut wie
       möglich durch diese Krise zu bringen. Da stehen Entscheidungen an im Land,
       aber auch auf Bundesebene – und darauf konzentrieren wir uns jetzt.
       
       Diese Argumentation des Berliner Verfassungsgerichtshofs könnte dazu
       führen, dass auch der Bundestag entscheidet, diese Wahl in Berlin komplett
       zu wiederholen. Das würde die sehr interessante Frage aufwerfen, ob die
       Linke überhaupt im Bundestag bleibt, weil sie nur über drei Direktmandate
       den Sprung in den Bundestag geschafft hat. Und zwei davon waren in Berlin. 
       
       Das kann eine Konsequenz sein. Für uns als Linke heißt das, dass wir
       unbedingt unsere Wählerinnen und Wähler davon überzeugen müssen, Gesine
       Lötzsch und Gregor Gysi wieder mit Direktmandaten auszustatten. Es ist noch
       nie so klar gewesen, dass es eine linke Stimme im Bundestag braucht.
       
       Macht Ihnen diese Situation Angst? Es ist ja klar, dass sich die CDU und
       auch viele andere politischen Kräfte sehr intensiv auf diese Wahlkreise
       konzentrieren würden. 
       
       Unsere politischen Konkurrenten werden ein großes Interesse daran haben,
       die Linke aus dem Bundestag zu treiben. Da mache ich mir überhaupt keine
       Illusionen. Aber das Gute ist ja, dass es nicht diese Parteien sind, die
       das entscheiden, sondern die Wählerinnen und Wähler.
       
       29 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Wahlchaos-in-Berlin/!5884705
 (DIR) [2] /Moegliche-Wahlwiederholung-in-Berlin/!5884732
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bert Schulz
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Abgeordnetenhauswahl 2021
 (DIR) Berlin
 (DIR) Verfassungsgericht
 (DIR) Abgeordnetenhaus
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Grüne Berlin
 (DIR) Franziska Giffey
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
 (DIR) Schwerpunkt Wahlen in Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Nachtragshaushalt für Berlin: Milliarden in Minuten
       
       Im Eilverfahren muss das Parlament den Milliarden Euro schweren
       Nachtragshaushalt verabschieden – alle demokratischen Parteien tragen das
       mit. Warum?
       
 (DIR) Berlins Grünenchef zu Wahlwiederholung: „Auf alle Szenarien vorbereitet“
       
       Auf in den Wahlkampf? Nein, erst abwarten, bis das Verfassungsgericht sein
       Urteil verkündet, sagt Grünenchef Philmon Ghirmai.
       
 (DIR) Wahl auf Landes- und Bezirksebene: Wahlen II: Jetzt erst recht
       
       Landesverfassungsgericht peilt in erster Bewertung komplette Wiederholung
       der Wahl von 2021 an. Senat will Überprüfung am Bundesverfassungsgericht.
       
 (DIR) Mögliche Wahlwiederholung in Berlin: Und noch eine Krise
       
       Auch wenn die Entscheidung noch nicht final gefallen ist: Seit der Anhörung
       des Verfassungsgerichts am Mittwoch ist Berlin wieder im Wahlkampf.
       
 (DIR) Wahlchaos in Berlin: Wahlwiederholung wahrscheinlich
       
       Die Abgeordnetenhaus- und zu den Bezirksparlamentswahl müssen wiederholt
       werden. Darauf deutet die Bewertung des Verfassungsgerichts hin.