# taz.de -- Fragen der Vernunft: Vom geringen Wert der Authentizität
       
       > Auf dem Weg zum besseren Menschen können auch Krawatten im Weg stehen.
       > Und der Ethikrat bringt natürlich Sokrates ins Spiel.
       
 (IMG) Bild: Das ist doch allenmal ein hippes Angebot
       
       Kürzlich ging ich nach häuslichen Querelen über einen [1][Flohmarkt], um
       nach einer Hose zu suchen. Statt einer Hose kaufte ich einen Globus, einen
       goldenen Gürtel und drei verbeulte Silberlöffel. Während ich die Löffel in
       meine Tasche packte, sah ich die überquellende Besteckschublade zu Hause
       vor mir. Es ist ein schlechtes Zeichen, wenn die einzig verfügbare
       Aufheiterung der Kauf überflüssiger Dinge ist, dachte ich und griff nach
       einer Spardose in Eulenform. Als ich nach den Verkäufern suchte, sah ich
       den Ethikrat, der zerfledderte Strohhüte an einer Wäscheleine aufhing. Der
       Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir
       gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben.
       
       „Guten Tag“, sagte ich, „was soll die Spardose kosten?“ „Neun Euro“, sagte
       der Ratsvorsitzende, „weil Sie es sind.“ „Neun Euro“, wiederholte ich und
       betrachtete die Eule, deren Farbe abblätterte und die einen Fuß verloren
       hatte. „Gibt es noch einen Schlüssel?“ „Nein“, sagte der Ratsvorsitzende,
       „aber sicherlich kann ein kompetenter Schlüsseldienst einen nachmachen“.
       „Wie wären sechs Euro?“, fragte ich vorsichtig. „Halten Sie den Preis, den
       wir angesetzt haben, für übertrieben?“, fragte der Ratsvorsitzende und
       wandte sich den beiden anderen Ratsmitgliedern zu, die eine Puppe mit
       eingedrückter Nase auf den Verkaufstisch setzten. „Möglicherweise“, sagte
       ich, aber niemand hörte mir zu und ich kramte mein letztes Geld aus dem
       Portemonnaie.
       
       „Vielleicht wollen Sie Ihren Kindern eine Freude machen“, sagte eines der
       Ratsmitglieder, das in der Regel schwieg und hob die Puppe empor, die ein
       quäkendes Geräusch von sich gab. „Ehrlich gesagt nicht“, antwortete ich,
       „wir stehen gerade auf schlechtem Fuß.“ Tatsächlich hatte das ältere Kind
       im Streit über die Notwendigkeit, Geige zu üben, einen Begriff für mich
       gefunden, den ich nicht wiederholen möchte, woraufhin ich im Zorn seinen
       Flummi aus dem Fenster geworfen hatte.
       
       „Ich habe danach an die Elternratgeber gedacht, die das Authentische so
       preisen“, sagte ich, während der Ratsvorsitzende die Eule in modrig
       riechendes Seidenpapier wickelte. „Mir leuchtet es nicht ein. Was bringt
       es, wenn man authentisch unangenehm ist?“ „Schöne Hüte, gute Hüte“, begann
       eines der Ratsmitglieder zu rufen, und ich hob meine Stimme. „,Hauptsache
       authentisch', sagen die Leute, und dann besuchen sie ihre Mutter lieber
       nicht im Pflegeheim, weil ihre Beziehung authentisch ambivalent ist. Aber
       vorher haben sie sie aus einem authentischen Bedürfnis noch als
       Babysitterin genutzt, solange sie fit genug war.“
       
       ## Der bessere Mensch
       
       Da drängte sich ein Hipster im Poloshirt neben mich. „Kannst du mal Platz
       machen?“, sagte er, aber es war keine Frage. „Kann ich nicht“, sagte ich
       und wandte mich an den Ratsvorsitzenden. „Ist die Geschichte der
       Philosophie nicht die des Versuchs, sich selbst zu einem besseren Menschen
       zu formen? Und nicht nur zu einer properen Hülle, die man bei
       Präsenztrainings und Pilates optimiert, damit man besser vorankommt?“
       
       Der Ratsvorsitzende betrachtete mich mit schief gelegtem Kopf, während er
       einen Stapel groß gemusterter Krawatten in Richtung des Hipsters schob.
       „Ich möchte Sie an eine Überlegung [2][Epiktets] erinnern“, sagte er: „,So
       wurde Sokrates ein vollkommener Mann, indem er sich in allen Dingen dazu
       anhielt, nichts anderem als der Vernunft zu gehorchen. Du aber, wenn du
       auch noch nicht Sokrates bist, musst du doch leben wie einer, der ein
       Sokrates werden will.'“
       
       „Und was bedeutet das konkret“, rief ich, „also etwa in Sachen Flummi?“,
       aber da johlte der Hipster: „Geil, diese Krawatten“ und rempelte mich zur
       Seite.
       
       4 Sep 2022
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Flohmarkt/!t5494975
 (DIR) [2] https://www.philomag.de/philosophen/epiktet
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Friederike Gräff
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Stadtland
 (DIR) Kolumne Ethikrat
 (DIR) Philosophie
 (DIR) Krawatte
 (DIR) Schwerpunkt Stadtland
 (DIR) Philosophie
 (DIR) Literatur
 (DIR) Italien
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Über die Dinge des alltäglichen Lebens: Möbel mit einem Herz aus Spanplatte
       
       Was sagen Einrichtungsgegenstände, Bekleidung, Schmuck schon aus über eine
       Person? Alles und nichts. Über die Bedeutung von Dingen, die uns umgeben.
       
 (DIR) Buch zur Philosophie der Postmoderne: Die Gegenwart denken
       
       Philosophie im Herrenclub: Daniel-Pascal Zorns „Die Krise des Absoluten“
       erklärt den Kern des Denkens von Lyotard, Deleuze, Foucault und Derrida.
       
 (DIR) Buch über ikonische Denkerinnen: Dem Leid mitleidlos begegnen
       
       Deborah Nelson porträtiert sechs ikonisch gewordene Denkerinnen und
       Künstlerinnen, die bis heute polarisieren.
       
 (DIR) Piazza-Philosoph in Italien: Zurück zu Sokrates
       
       Ein ehemaliger Bademeister versucht auf öffentlichen Plätzen, die
       politische Kultur Italiens zu retten. Passanten will er zur Diskussion
       ermuntern.