# taz.de -- Polizeieinsatz in München: Es riecht nach Hasch und Willkür
       
       > Ein Polizeieinsatz in einem Haus in München eskaliert. Am Ende ist ein
       > Polizist verletzt und eine Familie traumatisiert. Und alle fragen sich:
       > Warum?
       
       Die Frau im Trägertop hat Schweißperlen auf der Haut, ein Gewicht
       geschultert. „Voll schwach …“ steht in großen Buchstaben auf dem Foto. Erst
       im Kleingedruckten wird die eigentliche Botschaft klar: Voll schwach seien
       „nur die Vorurteile mancher Menschen“. Das Plakat, das am Eingang einer
       Polizeiinspektion im Münchner Norden hängt, weist auf einen
       Berufsinformationstag der Polizei hin. Man gibt sich modern und weltoffen
       bei der Polizei.
       
       Familie Greiner wohnt gleich um die Ecke, kaum mehr als 50 Meter entfernt
       von der Polizeiinspektion, in einer unscheinbaren Doppelhaushälfte. Es ist
       ein ruhiger Julimorgen. Vor dem Haus steht ein Anhänger mit Grünschnitt auf
       der Straße. Das Garagentor ist von Kinderhand bunt besprüht, auf der
       Auffahrt zwei Basketballständer. Dazwischen liegt die schwarz-weiße Katze
       der Familie in der Sonne. Scheinbar schläfrig, doch nur wenig später wird
       sie stolz eine frisch erlegte Maus durchs Wohnzimmer tragen.
       
       Nur ein weiteres Doppelhaus liegt zwischen dem Haus der Greiners und der
       Polizei – und doch auch eine Welt. Zumindest seit dieser Geschichte, die
       sich am 26. Oktober letzten Jahres hier zugetragen hat. Aus Sicht der
       bayerischen Justiz ist es eine Kleinigkeit, um die es geht. Nicht mehr als
       ein Aktenzeichen. Der Fall wird als eines von über 10.000 Strafverfahren im
       Jahr in die Statistik des Münchner Amtsgerichts eingehen; in jedem sechsten
       davon stehen die Angeklagten wegen vorsätzlicher Körperverletzung vor
       Gericht. Für die Richter ist es Alltag.
       
       Für Familie Greiner, aber auch für Polizeiobermeister Jonas Mehling ist es
       keine Kleinigkeit, kein Alltag. Es ist eine Geschichte, in der es um das
       Vertrauen in die Polizei geht und um die Frage, wie modern sie wirklich
       ist. Um den Verdacht, dass die Hautfarbe von Menschen eine Rolle dabei
       spielen könnte, wie die Polizei mit ihnen umgeht. Und um langwierige
       Schulterverletzungen, unter denen Polizist Mehling seit jenem Oktobertag zu
       leiden hat.
       
       Es ist allerdings auch eine Geschichte mit vielen Ungewissheiten und
       Ungereimtheiten, in der Aussagen gegen Aussagen stehen und in der es keine
       eindeutig Guten oder Bösen gibt, auch wenn darin noch der Satz fallen wird:
       „Wir sind die Guten.“
       
       Es gibt verschiedene Erzählungen dieser Geschichte. Zum Beispiel diese: Es
       ist gegen 20.20 Uhr an jenem Oktobertag, als Jonas Mehling, der wie alle
       Protagonisten dieses Abends in Wirklichkeit anders heißt, seinen Dienst
       beendet. Auf dem Heimweg kommt der 26-Jährige am Haus der Greiners vorbei
       und nimmt starken [1][Marihuana]-Geruch wahr, der unzweifelhaft aus dem
       Haus kommt. Zudem ist lautes Stimmengewirr zu hören. Mehling kehrt sofort
       zur Polizeiinspektion zurück, informiert die Kollegen. Mit den Zivilbeamten
       Stephan Becker und Claudia Gomolka erscheint er wenig später erneut vor dem
       Haus.
       
       Die Polizisten klingeln, Jabali Greiner, der damals 20-jährige Sohn der
       Familie, öffnet die Tür. „Servus, Polizei“, sagt Becker und fragt: „Warum
       riecht es hier denn so stark nach Marihuana und warum ist es hier so laut?“
       Daraufhin schlägt ihm Jabali Greiner wortlos die Tür ins Gesicht. Becker
       stemmt sich allerdings sofort dagegen, drückt den jungen Mann zurück. Mit
       ihm stürmt auch Mehling ins Haus. Von drinnen kommen Jabali wiederum Vater
       Alexander Greiner und sein damals 18-jähriger Bruder Noah zur Hilfe.
       
       Es kommt zu einem Gerangel, in dessen Verlauf Jabali Greiner nach der Waffe
       von Becker greift, wenig später aber mit Mehling auf dem Boden landet und
       von diesem schließlich fixiert wird, während Becker selbst die Waffe zieht
       und Vater und Bruder mit dessen Einsatz droht. „Auf den Boden, sonst
       knallt’s.“ Am Ende sind Alexander, Jabali und Noah Greiner in Handschellen,
       etliche von Gomolka verständigte Kollegen in Uniform kommen hinzu, später
       auch ein Drogenhund. Doch Drogen findet der Hund nicht. Mehling hat sich in
       dem Gerangel diverse Verletzungen, vor allem an der Schulter, zugezogen.
       Drei Monate lang wird er nicht arbeiten können.
       
       Das ist die Fassung der Geschichte, wie sie im Kern von den beiden
       Polizeibeamten Becker und Mehling erzählt wird und wie sie auch von der
       Staatsanwaltschaft München I zur Anklage gegen Jabali Greiner gebracht
       worden ist.
       
       Es gibt auch eine andere Fassung derselben Geschichte. Die Greiners
       erzählen sie am Frühstückstisch. Der Holztisch, an dem sieben Menschen
       Platz finden, steht direkt am Tatort. Gleich neben dem Tisch müssen Mehling
       und Jabali Greiner zu Boden gegangen sein, an der Kante des Tisches, so die
       Vermutung, hat sich der junge Polizist seine Verletzungen zugezogen. Es
       gibt Kaffee, Brezen und Croissants.
       
       Die Greiners sind eine Münchner Familie, der Vater stammt ursprünglich aus
       der Schweiz, die Mutter aus Kenia, die Kinder sind Deutsche. Und sie sind,
       es muss in diesem Fall tatsächlich erwähnt werden, schwarz. Alexander
       Greiner arbeitet als selbstständiger Landschaftsgärtner, seine älteren
       Söhne unterstützen ihn. Amina Greiner arbeitet als Beraterin für einen
       Verein, der sich um geflüchtete Frauen kümmert. Bis vergangenen Oktober
       haben sie sich wohlgefühlt hier im Viertel. „Wir haben gedacht, dass es
       hier besonders sicher ist, weil die Polizei gleich in der Nähe ist“,
       erzählt Alexander Greiner.
       
       ## Eine andere Erzählung als die der Polizei
       
       In der von den Greiners erzählten Geschichte sind es die Fremden, die kein
       Wort sagen, als Jabali ihnen die Tür öffnet. Es gibt keinen Hinweis darauf,
       dass sie Polizisten sind. Jabali vermutete zunächst, dass seine Mutter, die
       noch nicht von der Arbeit zurückgekommen war, ihren Schlüssel vergessen
       haben könnte, als es geklingelt hat. Doch dann sieht er die Umrisse zweier
       Männer, die sich schon Zutritt zum Grundstück verschafft hatten. Eigentlich
       müssen Besucher auf der Straße warten, bis das Gartentor per Summer
       geöffnet wird. Doch mit starkem Druck lässt sich das Tor auch von außen
       öffnen. Reflexartig will Jabali die Tür wieder schließen.
       
       Anders als in der Erzählung der Polizisten ist es auch nicht laut in dem
       Haus. Im Obergeschoss ist Noah mit den beiden Kleinen, lässt sich ein
       Videospiel zeigen. Der Vater ist im Wohnzimmer, Jabali in der Küche. Kein
       Geschrei, nicht einmal laute Stimmen. Auch einen Griff zu Beckers Waffe
       gibt es in der Erzählung der Greiners nicht. Stattdessen hören sie eine
       etwas andere Formulierung, als Becker mit der Waffe droht: „Ich knall dich
       ab“, habe er gerufen.
       
       Jetzt, an diesem Julimorgen, stellen sie die Szene noch einmal nach. Jabali
       öffnet wieder die Tür, erklärt, wie er durch den Windfang zurückgedrängt
       worden ist, zeigt, wo er am Ende in Handschellen auf dem Boden gesessen
       hat, den Rücken an den Kachelofen gelehnt. Sein Vater stellt sich noch
       einmal ins Wohnzimmer, dreht die Handflächen nach vorne. „Hier habe ich zu
       dem einen gesagt: „Willst du mich jetzt erschießen?“ Über dem Fenster
       hängen Bilder. Von einem beobachtet Bob Marley die Szene.
       
       „Wenn das Wort Polizei gefallen wäre, so wie ich jetzt hier sitze, wäre das
       Ding nicht eskaliert“, hat Alexander Greiner beim Frühstück noch erzählt.
       „Da wäre ich sofort dazwischen gegangen, hätte gesagt: Stopp jetzt, alle
       mal runterkommen.“ Er sei bisher auch immer gut mit der Polizei
       ausgekommen. Und seine Frau hat die Szene beschrieben, die sie vorfand, als
       sie etwas später nach Hause gekommen ist und auf jede Menge Polizisten auf
       ihrem Grundstück traf. Auf der Auffahrt spricht Stephan Becker gerade mit
       ihrem Mann. Der Polizist begrüßt sie lächelnd mit den Worten: „Wir sind die
       Guten.“
       
       Zehn Tage zuvor, Justizgebäude in der Nymphenburger Straße. Sitzungssaal A
       134, zum Aufruf kommt die Hauptverhandlung gegen Jabali Greiner wegen
       „Körperverletzung u. a.“. Am ersten Prozesstag wird deutlich, wie
       unterschiedlich die Auffassungen dessen sind, was damals passiert ist.
       Neben der Frage, ob die Polizisten sich tatsächlich als solche zu erkennen
       gegeben haben, steht vor allem noch eine andere im Raum: War hier wirklich
       Gefahr in Verzug?
       
       Dirk Asche, der Anwalt von Jabali Greiner, hat da große Zweifel. Es mache
       auf ihn sehr stark den Eindruck, dass hier eine Gefahr in Verzug
       unzulässigerweise provoziert worden sei. So hätten die Beamten in der Zeit,
       die sie gebraucht hätten, bis sie schließlich vor dem Haus gestanden
       hätten, einen Durchsuchungsbeschluss erlangen können, findet Asche und
       fragt Becker, warum er dies nicht versucht habe. Beckers aufschlussreiche
       Antwort: Die Erfahrung habe ihn gelehrt, dass er diesen ohnehin nicht
       bekommen hätte. Es ist einer der Momente während der Aussage der
       Polizisten, in denen Richter Andreas Schätzl in sich hineinschmunzelt. Es
       wird mehrere von ihnen geben.
       
       ## Cannabisgeruch ohne Cannabis?
       
       Rätselhaft auch, warum beide Beamten Cannabisgeruch wahrgenommen haben
       wollen, sich sicher waren, dass er aus diesem Haus kam – dann aber nichts
       gefunden wurde. Was hat die Sinne der Polizisten so vernebelt? Ein weiterer
       interessanter Aspekt hierzu ergibt sich aus einem Schreiben der
       Staatsanwaltschaft München I vom 31. Mai 2022. Alexander Greiner hatte
       Strafanzeige gegen Becker und Mehling wegen Körperverletzung im Amt
       gestellt. In der Begründung, warum das Ermittlungsverfahren gegen sie
       eingestellt werde, wird Becker zitiert. Er habe Geräusche weiterer Personen
       aus dem Obergeschoss gehört und angenommen, dass dort Beweismittel
       vernichtet würden. Ein Hinweis auf Gefahr in Verzug.
       
       Fragt sich nicht nur, was die drei videospielenden Brüder dort für
       verdächtige Geräusche gemacht haben, sondern auch: Warum haben die Beamten
       nicht sofort, nachdem sie die Hausbewohner im Erdgeschoss gefesselt hatten,
       das Obergeschoss kontrolliert? Selbst nach Aussage der beiden Beamten
       gingen sie erst nach einer Weile nach oben, um dann dort die beiden Kinder
       vorzufinden.
       
       Widersprüche, Ungereimtheiten, Erinnerungslücken gibt es weitere in den
       Aussagen der Polizisten. Wenn es um Details geht, die den Angeklagten
       belasten, können sie sich jedoch meist genau erinnern. Obwohl Mehling
       einmal von sich sagt: „Ich war selbst im Tunnel. Adrenalin, ganz klar.“
       Becker wiederum erklärt seine Strategie bei dem Einsatz: „Wir klingeln mal,
       einfach mal gucken. Das war schon bewusst das Spiel.“ Er ist 46 Jahre alt,
       Bart, T-Shirt, leicht zerrissene Jeans; mit gespreizten Beinen sitzt er im
       Zeugenstand, lässt sich tief in seinen Sitz sinken.
       
       Dass bei diesem „Spiel“ etwas komplett aus dem Ruder gelaufen ist, steht
       für Anwalt Asche außer Frage. „Es ist schlicht nicht nachzuvollziehen. Es
       ist kein Marihuana gefunden worden. Es gab keinen Lärm. Es riecht danach,
       dass hier etwas kaschiert werden soll.“ Und wenn es nur die
       Unprofessionalität eines Einsatzes ist.
       
       Gern hätte man auch die Einschätzung der Staatsanwaltschaft in der Sache
       gehört. Doch die lässt einen wissen, sie könne sich außerhalb der
       Hauptverhandlung nicht äußern. Man bitte um Verständnis.
       
       Für die Familie ist seit dem 26. Oktober wenig wie vorher. Wohl fühlen sich
       Jabali, Noah und ihre Eltern hier nicht mehr. Aber eine neue Wohnung in
       München finden? Nun ja. Und außerdem haben die beiden Kleinen hier ihre
       Freunde, wollen nicht weg. Obwohl auch an ihnen die Nacht nicht spurlos
       vorbeigegangen ist. Der Jüngste verträgt es nicht mehr, wenn es mal laut
       wird, wenn andere schreien. Dann verkriecht er sich lieber im Haus, als
       draußen mit den Freunden zu spielen.
       
       Das Gefühl der Ohnmacht sei das Schlimmste, sagt Amina Greiner. Früher habe
       sie Angst um ihre Kinder gehabt, wenn sie draußen allein unterwegs gewesen
       seien. Jetzt habe sie Angst um sie, wenn sie sie allein zu Hause lasse.
       „Die sollten wissen, wie viel sie mit einer solchen Aktion kaputtmachen,
       welche Traumata sie bei den Menschen hinterlassen“, sagt sie.
       
       ## Panikattacken als Nachwirkung
       
       Bei den beiden älteren Söhnen sind die Nachwirkungen am heftigsten. Sie
       meiden ihr Elternhaus mittlerweile, schlafen überwiegend bei der Oma, die
       in einem anderen Stadtviertel wohnt. Kurz vor dem Zwischenfall hatten sie
       eine Ausbildung an einer privaten Musikakademie begonnen. Danach haben sie
       hingeworfen.
       
       Oder neulich: Da standen plötzlich zwei Polizisten auf dem Grundstück. Sie
       übergaben Noah die Vorladung zu dem Gerichtstermin und drohten, sie würden
       seinen Bruder abholen, wenn er nicht erscheine. Nicht mehr. Aber der Tag
       war für Noah gelaufen. Nachdem die Beamten abgezogen waren, bekam er eine
       Panikattacke, schloss sich erst ins Bad ein, kletterte dann aus dem
       Fenster. Sein Vater fand ihn schließlich gekrümmt auf der Auffahrt liegend.
       Alexander Greiner beginnt zu weinen, als er davon erzählt.
       
       Und natürlich fragt sich die Familie: Hat das, was hier passiert ist, mit
       der Hautfarbe der Kinder zu tun? Es war nicht die erste Erfahrung, die sie
       mit der Polizei hatten. Einmal, es ist schon drei, vier Jahre her, da sind
       Jabali und Noah an einem Samstagmorgen rüber zum Supermarkt, um Semmeln
       fürs Frühstück zu holen, der Weg führt an der Polizei vorbei. Plötzlich
       seien zwei Beamte aus der Inspektion gerannt gekommen und hätten sie
       angehalten. Was sie hier zu suchen hätten, wollten sie wissen, woher sie
       das Geld hätten.
       
       Ein andermal wurde Noah im Olympiapark von einer Polizeistreife
       aufgegriffen und durchsucht. In der Tat hatte er ein hochprozentiges
       Getränk in der Hand, obwohl er damals erst 17 Jahre alt war. Die
       Jugendlichen, mit denen er abhing, waren jedoch noch jünger und hatten
       ebenfalls harte Getränke dabei. Für sie interessierten sich die Polizisten
       nicht. Sie waren weiß.
       
       Er habe ja überhaupt nicht gewusst, wer in dem Haus wohne, erzählt Becker
       vor Gericht. Eine Behauptung, die ihm die Greiners nicht abnehmen. „Wir
       wohnen hier seit über zehn Jahren direkt neben der Polizei“, sagt Alexander
       Greiner, „natürlich wussten die, wer wir sind.“
       
       ## „Kultur der Straflosigkeit“ bei der Polizei
       
       Am Tisch sitzt auch Damian Groten von Before, einer Münchner
       Beratungsstelle für Opfer rechter und rassistischer Gewalt. Er sieht ein
       Hauptproblem in einer „Kultur der Straflosigkeit“ bei der Polizei. Es gebe
       keine funktionierenden internen Kontrollsysteme, die Beamten hätten kaum zu
       befürchten, für fragwürdige Einsätze zur Rechenschaft gezogen zu werden.
       „Gerade bei jungen schwarzen Männern erleben wir in unserer Arbeit immer
       wieder, dass hier anlasslose, willkürliche Kontrollen auf der Straße auf
       Gedeih und Verderb durchgezogen werden – teilweise auch unter massiver
       Gewaltanwendung.“
       
       Am 4. August soll das Urteil gegen Jabali Greiner fallen. Zwischenzeitlich
       hat er wegen der Verletzungen, die er Mehling zugefügt haben soll, schon
       mal eine Rechnung bekommen. Vom Freistaat Bayern. 12.909,34 Euro soll er
       zahlen, 12.046,60 Euro für Dienstausfallkosten, 862,74 Euro für
       Heilbehandlungskosten.
       
       3 Aug 2022
       
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