# taz.de -- SPD-Chefin Esken über Entlastungen: „Es fehlt uns nicht am Geld“
       
       > Appelle zum Energiesparen? Davon hält Saskia Esken wenig. Stattdessen
       > fordert die SPD-Chefin mehr Hilfe für Ärmere – und Zugeständnisse von der
       > FDP.
       
 (IMG) Bild: Will Mahnerin für Verteilungsgerechtigkeit sein: SPD-Chefin Saskia Esken
       
       taz: Frau Esken, duschen Sie gern kalt? 
       
       Saskia Esken: Nur wenn es unbedingt sein muss.
       
       Müssen wir alle [1][bald häufiger kalt duschen], wenn kein Gas mehr aus
       Russland fließ t? 
       
       Appelle sind aus meiner privilegierten Position wohlfeil und reichen allein
       nicht aus. Menschen mit geringen Einkommen haben sich schon vor der Krise
       im Alltag einschränken müssen. Diesen Menschen muss niemand erklären, wie
       man spart. Diese Menschen brauchen dringend Unterstützung. Davon abgesehen
       sollten wir uns alle bemühen, nach Kräften Energie zu sparen, um das Klima
       zu schonen, um uns aus der Abhängigkeit von Russland zu befreien und
       natürlich auch um Kosten zu sparen.
       
       Brauchen wir ein drittes Entlastungspaket, das gezielt Menschen mit
       geringen Einkommen hilft?
       
       Die Bundesregierung hat gerade Entlastungen im Umfang von über 30
       Milliarden beschlossen, die breit wirken. Zum 1. Juli wurde etwa die
       [2][EEG-Umlage abgeschafft], dadurch werden Strompreise für alle wesentlich
       günstiger. Grundsicherungsempfänger haben eine Einmalzahlung erhalten,
       Familien einen Kinderbonus, Wohngeld- und BaföG-Empfänger einen
       Heizkostenzuschuss. Zum ersten Juni kamen der Tankrabatt und das sehr
       erfolgreiche Neun-Euro-Ticket, über dessen Weiterentwicklung ja schon
       munter debattiert wird. Und es stehen noch die 300 Euro
       [3][Energiepreispauschale] aus, die alle Erwerbstätigen erhalten.
       
       Die Pauschale muss versteuert werden, aber um die 174 Euro bekommen auch
       Gutverdiener wie Sie. Brauchen Sie das Geld, Frau Esken? 
       
       Nein. Wir haben diskutiert, ob wir die Pauschale auf bestimmte Einkommen
       begrenzen, aber das hätte die Sache komplizierter gemacht, deshalb haben
       wir uns entschieden, soziale Gerechtigkeit über die Steuerprogression zu
       erreichen. Gerade für Geringverdiener – auch für Selbständige oder
       Minijobber, die wir damit ebenfalls erreichen – ist das eine erhebliche
       Unterstützung.
       
       Reichen diese Maßnahmen bei knapp acht Prozent Inflation aus? 
       
       Das ist tatsächlich eine wichtige Frage, die ja auch damit zu tun hat, wie
       lange die Belastung andauert. Denn selbst wenn die Inflation sich
       normalisieren sollte, werden die Preise hoch bleiben. Deswegen müssen wir
       dafür sorgen, dass Menschen mit niedrigen Einkommen dauerhaft Unterstützung
       bekommen. Das kann aber nicht alleine der Staat leisten. Die Löhne müssen
       steigen.
       
       12 Euro Mindestlohn reichen nicht aus? 
       
       Der Mindestlohn stellt eine Haltelinie nach unten dar. Ab Oktober wird er
       wesentlich erhöht, und wir erreichen damit eine Lohnsteigerung für über 6
       Millionen Beschäftigte. Das ist großartig, aber natürlich ist das aber auch
       weiterhin kein Einkommen, das für ein gutes Leben reicht. Und die Inflation
       bringt auch Familien im Durchschnittseinkommen in Nöte. Deshalb müssen wir
       dafür sorgen, dass vor allem die unteren und mittleren Einkommen wesentlich
       erhöht werden. Im Tarif ist das Angelegenheit der Tarifpartner. Leider
       sinkt die Tarifbindung seit Jahren, für nicht einmal die Hälfte der
       Arbeitnehmer:innen gilt ein Tarifvertrag. Das ist vor allem im Osten
       ein Riesenproblem. Im Einzelhandel werden lausige Löhne bezahlt, obwohl
       einige – nicht alle – Unternehmen gerade in den letzten zwei Jahren dort
       richtig gutes Geld verdient haben.
       
       Treiben steigende Löhne nicht auch die Preise in die H ö he? 
       
       Nein. Sogar der Arbeitgeberpräsident sagt, dass die Löhne derzeit nicht der
       Preistreiber sind. Im Gegenteil richtet der Kaufkraftverlust der unteren
       Einkommensgruppen nicht nur sozialen, sondern auch volkswirtschaftlichen
       Schaden an. Durch steigende Niedriglöhne lösen wir ganz unmittelbar eine
       Lohn-Kaufkraft-Spirale aus, die die Binnennachfrage stärkt. Deswegen warne
       ich vor zu geringen Lohnabschlüssen.
       
       Die Politik kann nur appellieren, die Einkommen anzuheben. Mehr nicht. 
       
       Auf die Tarifbindung können wir mit einem Bundestariftreuegesetz Einfluss
       nehmen. Der Bund ist ein großer Kunde. Wenn er Tarifbindung als Bedingung
       vorgibt, ist das ein starkes Signal. Auch die Konzertierte Aktion muss sich
       aus meiner Sicht zum Ziel setzen, die Tarifbindung in den großen Branchen
       wieder wesentlich zu erhöhen. Die EU gibt uns als Zielmarke 80 Prozent vor
       – ich wäre mit einer Erhöhung von 50 auf 70 Prozent aber schon sehr
       glücklich.
       
       Ist es nicht ein wenig optimistisch, zu hoffen, dass die Tarifbindung die
       seit Jahrzehnten sinkt, binnen weniger Monate auf 70 Prozent steigt? 
       
       Der Bundeskanzler hat Kapital und Arbeit zur [4][Konzertierten Aktion]
       eingeladen, weil er in der aktuellen Situation mit horrenden
       Preissteigerungen, unterbrochenen Lieferketten und weiteren
       wirtschaftlichen Störungen eine gesamtgesellschaftliche Vorgehensweise
       vereinbaren will. Es geht darum, Wirtschaftskraft, Arbeitsplätze und den
       sozialen Frieden zu bewahren. Eine starke Tarifbindung, wie wir sie in
       Deutschland lange Zeit genießen durften, war immer ein Garant für sozialen
       Frieden. Olaf Scholz hat vom Unterhaken gesprochen. Die Erhöhung der
       Tarifbindung wäre ein deutliches Signal des Unterhakens.
       
       Ihre Parteifreundin, die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi schlägt vor, dass
       jede Bürger:in ein Grundkontingent Energie zu einem Festpreis erhält. Wer
       mehr verbraucht, muss dafür den Marktpreis zahlen. Ein guter Vorschlag? 
       
       Ein solcher Preisdeckel wäre durchaus hilfreich und sinnvoll, aber nur wenn
       wir ihn langfristig halten können und nicht nur für wenige Monate. Eine
       solche Maßnahme käme den Staat sehr teuer zu stehen, würde aber auch ein
       bisschen nach dem Prinzip Gießkanne entlasten. Denn der günstige Preis käme
       ja allen zugute.
       
       Sie sind also skeptisch? 
       
       Ich bin der Meinung, dass wir gezielt entlasten und zudem Sicherheit geben
       müssen, wo es am dringendsten gebraucht wird. Sicherheit bietet
       beispielsweise ein Kündigungsmoratorium. Wer jetzt die Miete oder
       Rechnungen für Strom und Gas nicht zahlen kann, darf nicht sofort aus dem
       Vertrag fallen. Bei Hartz-IV-Empfängern werden die Heizkosten ja
       übernommen. Da müssen wir sicherstellen, dass die Ämter die in voller Höhe
       bezahlen. Den Heizkostenzuschuss für die Empfänger von Wohngeld und BaföG
       haben wir ja auch verdoppelt. Es ist aber gut möglich, dass ein weiterer
       Zuschuss nötig wird.
       
       FDP-Finanzminister Christian Lindner hat aber schon klar gesagt, dass es
       mit ihm keine weiteren Entlastungen in diesem Jahr geben wird. Akzeptiert
       die SPD das? 
       
       Wenn wir sehen, dass weitere Entlastungen nötig sind, dann werden wir
       darüber sprechen. Dann wird auch der Finanzminister Wege finden müssen,
       damit umzugehen.
       
       Christian Lindner möchte lieber die kalte Progression abbauen, also den
       Effekt, dass man mit steigendem Lohn in einen höheren Steuersatz rutscht.
       Sind Steuererleichterungen in ihren Augen eine zielgerichtete Entlastung?
       
       Von Steuersenkungen profitieren doch immer die am meisten, die sehr viel
       verdienen, während das untere Drittel der Erwerbstätigen, die wegen ihres
       geringen Einkommens gar keine Lohnsteuer zahlen, gar nichts davon haben.
       Dieser FDP-Vorschlag geht also in die völlig falsche Richtung. Er ist sehr
       teuer und steht im Übrigen auch nicht im Koalitionsvertrag.
       
       Sagen Sie das im Koalitionsausschuss auch so Herrn Lindner? Oder nennen Sie
       ihn Christian? 
       
       Ich nenne ihn Christian.
       
       Sagen Sie also: 'Christian, das war so nicht abgemacht? 
       
       Wenn die FDP jede Überlegung, wie höhere Einkommen zur Finanzierung der
       notwendigen Investitionen beitragen können, mit „das steht nicht im
       Koalitionsvertrag“ abtut, dann braucht sie auch Ideen zur Entlastung von
       Gutverdienern nicht in Talkshows vortragen.
       
       Im Koalitionsvertrag steht aber die Kindergrundsicherung. Wann kommt die? 
       
       Anders als die große HartzIV-Reform hin zum Bürgergeld schaffen wir das
       sicher nicht zu Beginn des Jahres 2023. Die Ausgestaltung der
       Kindergrundsicherung ist nicht trivial. Die große Herausforderung wird
       sein, dass sie nicht nur auf Antrag bezahlt wird, sondern wir automatisch
       alle so erreichen, wie sie es brauchen.
       
       Also kommt die Kindergrundsicherung erst in zwei, drei Jahren? 
       
       Die Konzepte von SPD und Grünen liegen ja schon lange vor, jetzt wird
       zwischen den Ressorts und den Fraktionen beraten. Zur Überbrückung haben
       wir jetzt für alle Kinder in der Grundsicherung und im Kinderzuschlag einen
       Sofortzuschlag von 20 Euro pro Monat vereinbart, als Abschlag auf die
       Kindergrundsicherung.
       
       Im Konzept der SPD ist von einem Grundbetrag von 250 Euro und einem
       Maximalbetrag von 478 Euro die Rede. Sind das die Summen, mit denen
       Familien dann rechnen k ö nnen? 
       
       Diese Berechnungen sind ja schon etwas älter. Seitdem haben wir es mit
       massiv steigenden Preisen zu tun. Es ist vollkommen klar und ich werde
       notfalls dafür streiten, dass wir die Familien besonders schützen, die
       unter den Folgen der Pandemie und der Inflation leiden.
       
       Das heißt die Kindergrundsicherung wird am Ende h ö her sein? Im Konzept
       der Grünen ist von einem Grundbetrag von 280 Euro und einem Maximalbetrag
       von 503 Euro die Rede. 
       
       Wir werden uns in der Koalition dazu einigen, zwischen den Ressorts und den
       Fraktionen und – wenn nötig – auch im Koalitionsausschuss.
       
       Zu Beginn des Jahres 2023 soll das Bürgergeld für Menschen die derzeit
       Hartz IV beziehen kommen. Klappt das?
       
       Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat angekündigt, im Herbst einen
       Gesetzentwurf vorzulegen. Ich bin sicher, dass ihm das gelingt.
       
       Die Wohlfahrtsverbände haben ausgerechnet, dass der Satz von derzeit 450
       auf über 600 Euro steigen müsste, um armutsfest zu sein. Wie hoch soll die
       Grundsicherung für die 3,8 Millionen Berechtigten denn sein? 
       
       Zunächst einmal steckt in der Reform vor allem ein grundsätzlich anderer
       Umgang des Sozialstaats mit den Menschen, die seine Unterstützung
       benötigen. Wir werden das Sanktionsregime überarbeiten, die
       Zuverdienstregeln verbessern und die Bereitschaft zur Weiterbildung
       honorieren. Wir müssen aber auch die Berechnung der Regelsätze grundlegend
       ändern. Derzeit bezieht sich das Berechnungsmodell als Referenz auf die
       unteren 20 Prozent der Einkommensgruppen und rechnet bestimmte Bedarfe, zum
       Beispiel Energiekosten raus. Wir müssen also den Warenkorb verändern und
       die Berechnung muss sich mindestens auf die unteren 30 Prozent der
       Einkommensgruppen beziehen. Auf diesem Weg werden auch die Regelsätze
       wesentlich steigen.
       
       Eine Erhöhung der Regelsätze um 10 Prozent kostet etwa 14 Milliarden Euro.
       Die Kindergrundsicherung [5][kostet laut Ifo-Institut] bis zu 37 Milliarden
       Euro pro Jahr. Woher soll das ganze Geld kommen? Im Koalitionsvertrag sind
       keine Summen genannt. 
       
       Es fehlt in unserem Land nicht am Geld.
       
       Aha. 
       
       Ja. Deutschland ist ein sehr reiches Land. Das Vermögen der Allerreichsten
       ist in den letzten beiden Jahren der Corona-Pandemie um 20 Prozent
       gestiegen. In einer Phase, in der viele Menschen in existentieller Not
       waren.
       
       Die SPD hat ja im Wahlprogramm eine Vermögenssteuer für Superreiche
       vorgeschlagen. Die steht allerdings auch nicht im Koalitionsvertrag. 
       
       Die SPD wird in dieser Koalition auch weiterhin Mahnerin für
       Verteilungsgerechtigkeit sein, dafür stehe ich auch persönlich grade.
       Deswegen werden wir auch immer wieder den Finger heben und darauf
       hinweisen, dass sehr hohe Einkommen und sehr hohe Vermögen einen höheren
       Beitrag zum Gemeinwesen leisten müssen.
       
       So häufig hat man diesen Finger in den letzten Monaten nicht gesehen. 
       
       Das kann man nun wirklich nicht sagen. Die Diskussion um die
       Übergewinnsteuer hat das gezeigt und ich werde nicht müde, diese
       Verteilungsfrage deutlich hörbar zu stellen.
       
       Und was sagt Ihr Parteifreund Olaf dazu? 
       
       Wie sie selbst sagen, die Vermögenssteuer steht in unserem Wahlprogramm,
       dessen Autor auch Olaf Scholz ist. Wir sind uns da einig, mit ihm muss ich
       darüber also nicht sprechen. Die Frage der Finanzierung unserer
       Zukunftsaufgaben und der Bewältigung der Krisen werden wir in der Koalition
       klären. Wenn Kindergrundsicherung und Bürgergeld als Konzepte auf dem Tisch
       liegen, dann werden wir auch über die Finanzierung sprechen.
       
       Gehen die Vorstellungen von FDP einerseits und SPD und Grünen andererseits
       nicht gerade massiv auseinander? Der FDP ist es wichtig keine neuen
       Schulden zu machen und keine Steuererhöhungen zuzulassen, SPD und Grüne
       dringen auf teure Projekte wie Bürgergeld und Kindergrundsicherung. 
       
       In dieser Koalition haben sich drei unterschiedliche Parteien
       zusammengefunden. Wir haben über alle Verschiedenheit hinweg aber wichtige
       Zukunftsprojekte vereinbart, die wir gemeinsam verfolgen. Insofern ist es
       kein Drama, dass wir uns bei bestimmten Themen immer wieder einigen müssen.
       Dass es Unterschiede zwischen den Beteiligten gibt, darf auch immer wieder
       deutlich werden – die sind das Salz in der Suppe. Gleichzeitig muss man
       sagen: Keine Regierung seit 1949 hat eine so dramatische Situation
       vorgefunden wie wir. In so einer Situation müssen alle bereit sein,
       Zugeständnisse an die aktuelle Situation zu machen. Das gilt auch für die
       FDP.
       
       8 Jul 2022
       
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