# taz.de -- Musiker über Livestreamkonzerte: „Wir ziehen das wirklich durch“
       
       > Als The Swingin’ Hermlins geben David und Rachel Hermlin jeden Tag
       > Konzerte per Videokonferenz. Weitermachen wollen sie bis zum Ende der
       > Pandemie.
       
 (IMG) Bild: Swing in stilvollem Ambiente: Rachel und David Hermlin in heimischer Umgebung
       
       taz am wochenende: Frau und Herr Hermlin, in diesem Wohnzimmer hier in
       Berlin-Pankow, in dem wir gerade sitzen, hat Ihr Großvater, der bekannte
       Schriftsteller Stephan Hermlin, 1976 den Künstlerprotest gegen die
       [1][Ausbürgerung des DDR-Liedermachers Wolf Biermann] initiiert. Mit der
       Biermann-Affäre begann das Ende der DDR, sagen einige Historiker. Hatte es
       Sie als Kinder interessiert, in einem so geschichtsträchtigen Haus
       aufzuwachsen?
       
       David Hermlin: Unser Großvater ist ja 1997 gestorben, sodass wir ihn leider
       nie kennengelernt haben. Trotzdem kennen wir natürlich seine spannende
       Lebensgeschichte durch unsere Großmutter und unseren Vater, aber auch aus
       Zeitungsberichten. Ja, in diesem Haus hat sich Historisches ereignet, aber
       eben vor unserer Zeit. Trotzdem ist es schön zu wissen, so eine
       interessante Familiengeschichte zu haben.
       
       Rachel Hermlin: Viele Dinge, die wir in der Schule nicht gelernt haben,
       haben wir durch unseren Vater erfahren, der als Jugendlicher einiges von
       den Ereignissen persönlich mitbekam. Mich hat das immer sehr interessiert.
       
       Jetzt findet in diesem Wohnzimmer auf andere Art Geschichtsträchtiges
       statt. Seit zwei Jahren veranstalten Sie hier Hauskonzerte, um der
       Coronakrise zu trotzen. 
       
       Rachel Hermlin: Ja, wir spielen hier jeden Tag eine Session, die wir live
       ins Internet streamen. Es ist schon irre, Medien aus aller Welt haben
       darüber berichtet.
       
       Wie hat alles begonnen? 
       
       Rachel Hermlin: Wir hatten am 10. März 2020 einen Auftritt in der Berliner
       Philharmonie, bei dem wir erfuhren, dass wegen eines Lockdowns bald alle
       Clubs und Konzerthäuser schließen würden. Obwohl sich das abgezeichnet
       hatte, waren wir geschockt.
       
       David Hermlin: Ich hatte am 14. März noch ein letztes Konzert zusammen mit
       meinem Vater und einigen anderen Musikern in einer Musikkneipe. Der war so
       fantastisch, dass wir sagten, wir müssten das in irgendeiner Form
       weiterführen. Zunächst dachten wir an Hauskonzerte mit wenigen Gästen, aber
       die wären natürlich nicht erlaubt worden. Unsere Mutter hatte dann die
       Idee, warum nicht einen Livestream mit dem Handy machen.
       
       Am 15. März haben wir begonnen und gleich 15.000 Zuschauer erreicht. Mit
       dabei waren auch ein paar Musiker, die wir kurz zuvor bei einem Konzert
       kennengelernt hatten. Unter anderem ein Rapper aus Burundi, der durch den
       Lockdown in Berlin festsaß.
       
       Wollten Sie mit den Konzerten ein paar Euro dazuverdienen oder vor allem
       gegen die eigene Langeweile anspielen? 
       
       Rachel Hermlin: Die Streams sind generell kostenlos, aber die Zuschauer
       dürfen gern etwas spenden. Uns ging es darum, Freude zu bereiten und die
       Leute bei Laune zu halten, uns eingeschlossen. Viele Musiker wollten ja
       während der Pandemie keine Livestreams machen, weil die kein echter Ersatz
       für ein Konzert mit Publikumskontakt sind. Oder weil sie dachten, das mit
       dem Lockdown dauert alles nicht so lange. Das dachten wir ja anfangs auch.
       Aber nun machen wir unsere Streamingkonzerte schon zwei Jahre und das jeden
       Abend. Wir sind wohl die einzige Band in Deutschland mit so vielen
       Auftritten in der Pandemiezeit.
       
       Sie kommen dann immer um 19 Uhr nach Hause? 
       
       Rachel Hermlin: Nein. Wenn wir reguläre Auftritte haben, verbinden wir die
       mit der Sendung. Wir beziehen das Konzertpublikum einfach mit ein oder
       improvisieren. Einmal hatten wir ein Konzert in der Berliner Philharmonie.
       Weil man dort nicht filmen darf, sind wir vor dem Auftritt in die Garderobe
       gegangen und haben dort gespielt und das gestreamt. Selbst als mal während
       eines kleinen Open-Air-Konzerts in Charlottenburg mittendrin der Blitz in
       unser Bühnenzelt einschlug, ging der Livestream weiter. Wir ziehen das
       wirklich durch, so lange, bis die Krise vorbei ist.
       
       Das heißt, bis alle Beschränkungen aufgehoben sind, die aktuell in Berlin
       noch bis Ende März gelten? 
       
       David Hermlin: Uns ist klar, dass das Coronavirus nicht verschwinden wird.
       Wir wollen deshalb nicht warten, bis das Virus weg ist, aber wir wollen
       zumindest so lange unsere Sessions machen, bis wir wieder so Konzerte geben
       können wie früher und auch keine Masken mehr für die Konzertbesucher
       vorgeschrieben sind.
       
       Zu Beginn Ihrer Hauskonzerte haben Sie gesagt: „Wir blühen in der Krise
       auf.“ Erleben Sie die Krise als Fluch und kreativen Segen zugleich? 
       
       David Hermlin: Wir haben schnell gemerkt, dass die Krise lange anhalten
       wird und wollten nach vorne schauen. Einfach nicht in Schockstarre
       verharren. In der Krise habe ich zum Beispiel so viele Songs gelernt wie
       nie zuvor. Wir hatten über die Jahre ja immer die gleichen Stücke gespielt,
       nun hatten wir jeden Tag ein paar neue eingeübt. Es herrscht ja kein Mangel
       an Swingtiteln aus der Zeit zwischen den 20er und 40er Jahren. Dazu habe
       ich erstmals auch eigene komponiert. Auch meine Musikerkollegen haben
       eigene Arrangements geschrieben, jeder in unserem Team war sehr motiviert.
       
       Klingt fast euphorisch, gar nicht nach Krisenstimmung. 
       
       David Hermlin: Bitte kein Missverständnis: Die Beschränkungen haben gerade
       die Musiker und Künstler extrem getroffen. Aber „hätte, hätte,
       Fahrradkette“ hilft uns ja nicht. Wir haben uns lieber an unserer Musik
       selbst aufgerichtet. Swing ist zeitlos, mit ihm kann man jeden erreichen.
       Das war ja schon in der Weltwirtschaftskrise in den Dreißigern so, wo die
       Swingmusik vielen verzweifelten Menschen Hoffnung gab.
       
       Rachel Hermlin: Wir haben für alle möglichen Leute gespielt. An Heiligabend
       sind wir einfach zu dritt mit einem Keyboard zur Suppenküche hier in der
       Nähe gezogen. Die Menschen, die uns dort zuhörten, haben sich total
       gefreut. Genauso die alten Leute, für die wir vorm Pankower Altersheim
       spielten. Ich finde, wir müssen in der Krise füreinander da sein, sonst
       stehen wir die nicht durch. Vor allem müssen wir aufeinander schauen, auch
       mal aus anderer Perspektive. Nicht immer nur auf der eigenen Meinung
       beharren. Diese Sturheit in vielen Ansichten macht die Leute doch
       mittlerweile ganz kirre.
       
       Gab es bei Ihren spontanen Straßenkonzerten auch mal Ärger mit den
       Ordnungshütern? 
       
       Rachel Hermlin: Als wir im Monbijoupark spielten, kamen gleich die Polizei
       und das Ordnungsamt. Am Kollwitzplatz wurde das sogar von Anwohnern geholt,
       weil ihnen nicht gefallen hatte, dass wir ein paar Lieder im Freien
       spielten. Da kamen auf einmal 15 Polizisten, die sofort losbrüllten und den
       Auftritt verboten, obwohl wir eine Ausnahmegenehmigung besaßen.
       
       Da kann es online ja keine Probleme geben. Welches Publikum versammelt sich
       im Internet bei Ihren Livestreamkonzerten? 
       
       David Hermlin: Da hat sich mittlerweile eine feste Community gebildet. Sie
       reicht von Amerika bis China, von Kenia und Uganda bis Venezuela und
       Zypern. Die Leute schreiben sich untereinander, kommentieren unseren
       Auftritt, tauschen sich aus. Es ist eine richtige Swinggemeinde, die sich
       sogar einen eigenen Namen gegeben hat: Hermlinville, das Hermlindorf. Das
       hat uns veranlasst, monatlich eine Hermlinville Times herauszugeben. Die
       Zeitung verkaufen wir unter anderem bei unseren Konzerten.
       
       Was steht in der Zeitung? 
       
       David Hermlin: Texte von Freunden. Zum Beispiel von Erik Kirschbaum, einem
       Autor der Los Angeles Times, von dem Schriftsteller Volker Braun oder von
       Klaus Lederer, dem Berliner Kultursenator. Es gibt Artikel über historische
       Gebäude, die mit Swing zu tun haben, Bilder von unseren Konzerten oder es
       werden Musiker unserer Band vorgestellt.
       
       Sie sind beide früh im [2][Swing Dance Orchestra Ihres Vaters] aufgetreten.
       Warum haben Sie sich darauf eingelassen, wo sich Künstlerkinder
       normalerweise eher von den Eltern emanzipieren wollen? Sie pflegen sogar
       die Swingmode nach dem Vorbild Ihres Vaters. 
       
       Rachel Hermlin: Bis zu meinem 14. Lebensjahr konnte ich mit Swing nicht
       viel anfangen. Als ich mal bei meinen Verwandten in Kenia war und mich zu
       Hause sehr langweilte, habe ich mir notgedrungen DVDs mit Filmen aus den
       30er Jahren angeschaut, darunter „Swing Time“ mit Ginger Rogers und Fred
       Astaire. Ich fand total cool, wie sie tanzten, auch die Outfits. Ich fing
       vorm Fernseher gleich an zu steppen und kam auf den Geschmack.
       
       2018 hat mich mein Vater gefragt, ob ich nicht mit dem Orchester I Saw
       Mommy Kissing Santa Claus singen würde, was zuvor immer David als kleiner
       Junge machen musste. Danach habe ich auch in der Schule immer mal gesungen
       und Swing hat mich in seinen Bann gezogen. Vor allem dieses irre Gefühl,
       auf der Bühne zu stehen und eine Big Band im Hintergrund zu haben.
       
       David Hermlin: Bei mir fing es sehr früh an. Wenn wir lange Strecken in den
       Urlaub fuhren, habe ich im Auto Benny Goodman gehört oder die Soulsängerin
       Mahalia Jackson. Bereits als Dreijähriger war ich von unserem
       Bandschlagzeuger fasziniert und die Tanzszenen in den Fred-Astaire-Filmen
       haben mich ebenfalls begeistert. Später habe ich Michael Jackson entdeckt
       und mir selbst das Tanzen beigebracht. Ich war dann auch Tänzer am
       Friedrichstadtpalast und Songs schrieb ich auch noch.
       
       Mit Swing verbinden sich Eleganz und Stil, seine Geschichte ist aber auch
       geprägt von schlimmen Dingen. Bei den Nazis galt die Musik als entartet.
       Beschäftigen Sie sich mit solchen gesellschaftspolitischen Hintergründen? 
       
       David Hermlin: Man kann die Swingmusik nicht von ihrer Historie trennen.
       Mich hat immer interessiert, was hinter den Aufnahmen steckt. Wir haben ja
       auch ein Konzertprogramm „Bei mir bist du schön – Die Juden im Jazz“, das
       an jüdische Protagonisten des Jazz erinnert.
       
       Auch im Ursprungsland Amerika ist Swing vielfach mit Diskriminierung und
       Rassismus verbunden. 
       
       Rachel Hermlin: Manchmal kann man das gar nicht glauben. Swing hört sich so
       cool an und wirkt so glamourös, aber in der Realität sah das früher oft
       ganz anders aus. Als [3][Billie Holiday] 1938 von Artie Shaw als eine der
       ersten schwarzen Sängerinnen für eine weiße Band engagiert wurde, sorgte
       das für einen Skandal. Sie selbst erlebte große Demütigungen. Während die
       weißen Bandmusiker im New Yorker Lincoln Hotel zwischen dem Auftritt schön
       im Restaurant essen konnten, musste sie in der Küche sitzen und warten, bis
       sie wieder dran war. Oder die schwarze Jazzsängerin und Schauspielerin Lena
       Horne, sie ist für mich eine Ikone.
       
       Warum? 
       
       Rachel Hermlin: Sie war eine extrem starke Frau. Wenn ihr etwas nicht
       passte, hat sie es auch gesagt. Sie wollte zum Beispiel im Film kein
       Dienstmädchen spielen, sondern sich darstellen, wie sie ist: als
       wunderschöne junge Dame. Dass sie kaum Hauptrollen bekam, hat sie lieber in
       Kauf genommen, als sich zu verbiegen.
       
       David Hermlin: Es wurde nicht gern gezeigt, dass Schwarze genauso gepflegt
       und schön gekleidet waren wie Weiße. Andererseits hatte man in der
       Unterhaltungsszene keine Scheu, von den Schwarzen zu kopieren. Das wurde
       dann nur ein wenig verändert dargeboten. Das war beim Rock ’n’ Roll so und
       auch beim Swing. Ohne seinen schwarzen Arrangeur Fletcher Henderson wäre
       Benny Goodman nie zum King of Swing geworden. Es gab auch etliche schwarze
       Bands, die noch besser waren als Benny Goodman.
       
       Die Zeiten haben sich zum Glück geändert. Oder erleben Sie oft Situationen,
       in denen Ihnen mehr oder weniger dezent deutlich gemacht wird, dass Sie
       nicht weiß sind? 
       
       Rachel Hermlin: Erlebnisse wie in der Grundschule, als man mir sagte, ich
       solle mal mein dreckiges Gesicht waschen, habe ich nicht mehr. Jetzt erlebe
       ich eher Alltagsrassismus, also dass einem einfach mal in die Haare gefasst
       wird, weil die so wuschelig aussehen. Menschen ohne persönlichen Bezug zu
       Rassismus erkennen das gar nicht als eine Form von Rassismus. Bei den
       jungen Leuten aus meiner Generation ist so etwas aber weniger ausgeprägt.
       Die sind meistens sensibler, haben aber auch eigenartige Sachen drauf. Da
       wird man dann gefragt: Kannst du mir den N-Pass geben?
       
       Das heißt? 
       
       Rachel Hermlin: Sie möchten von mir die Erlaubnis, das N-Wort, weil es ja
       auch im Rap vorkommt, benutzen zu dürfen. Das kann ich, ehrlich gesagt, gar
       nicht in Worte fassen.
       
       David Hermlin: Im Vergleich zu früher gibt es natürlich eine große
       Veränderung. Die 30er Jahre, obwohl die goldene Zeit des Swing, wünsche ich
       mir wirklich nicht zurück oder nur mal für einen Tag, um eine Band von
       damals anzuschauen. Trotzdem gibt es weiter auch bei uns Rassismus, er
       kommt jedoch anders daher, gar nicht immer mit böser Absicht. Aber die
       Frage „Wo kommt ihr denn eigentlich her?“ verstehen wir natürlich als
       Ausdruck, dass man als etwas Fremdes betrachtet wird und wir ja wohl keine
       Deutschen sein können.
       
       Es ist nicht immer einfach, auf solche Situationen angemessen zu reagieren.
       Die einen nervt es mehr, andere weniger. Ich versuche es oft mit einer
       ironischen Spiegelung. Wenn mir jemand sagt: „Sie sprechen aber gut
       Deutsch“, antworte ich: Sie aber auch. Manche merken dann tatsächlich, was
       ich meine.
       
       27 Mar 2022
       
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