# taz.de -- Schallschutz aus Lehm: Das Erbe von Beuys in der Prignitz
       
       > Im Dörfchen Nebelin baut die Künstlerin Ute Reeh an der sozialen Plastik.
       > Hier wird innovativer Lärmschutz aus Lehm entwickelt.
       
 (IMG) Bild: Statt Beton: am Rande der Autobahn zwischen Magdeburg und Prignitz soll Lehm vor Lärm schützen
       
       An einem heißen Tag im Sommer steht die Künstlerin Ute Reeh bis zum Bauch
       in einem Graben. Auf ihrem Hof im tiefsten Brandenburg gräbt sie mit Spaten
       und bloßen Händen nach einer defekten Wasserleitung. Der marode
       Vierseitenhof muss wieder an die Wasserversorgung, wenn sie Ernst machen
       und aus Düsseldorf in das 180-Seelendorf Nebelin in der Prignitz ziehen
       möchte.
       
       Auch in einem Gebäude selbst muss ausgebessert, müssen zugige Ritzen in den
       alten Lehmwänden verspachtelt werden. An diesem Tag, mit den Füßen im
       Graben, wird Ute Reeh 2014 klar, dass das Material für die Sanierung des
       Hofs direkt vor ihrer Tür liegt. Dass die lehmige Erde, die sie gerade
       ausgehoben hat, genau das ist, was sie für den Hof braucht.
       
       Zu den ersten Menschen, die die heute 58-jährige Künstlerin in Nebelin
       trifft, gehört ihre Nachbarin Edelgard Gielow. Gielow ist heute eine
       Vertraute Reehs und eine Referenz für die Stimmung im Dorf. Als die
       Künstlerin aus dem Westen sie das erste Mal anspricht, ist Gielow gerade im
       Garten beschäftigt. „Sie sagte zu mir, dass es hier so herrlich ruhig sei.
       Da habe ich gleich erwidert: ‚Noch ja, aber nicht mehr, wenn die Autobahn
       hier gebaut wird‘“, erinnert sich die 82-Jährige, die erklärte Gegnerin des
       Weiterbaus der Autobahn ist.
       
       ## Die Autobahn rückt näher
       
       Noch ist die Bundesautobahn 14 unvollendet. Das letzte Teilstück zwischen
       Magdeburg und der Prignitz soll bis spätestens 2030 geschlossen sein. Dann
       wird die Fahrbahn auf einen Kilometer an Nebelin heranrücken, wird das
       Biosphärenreservat Flusslandschaft Elbe-Brandenburg queren und damit
       bislang unzerschnittene Landschaft teilen. Ausgestattet mit diesem Wissen
       hätte die Großstädterin Ute Reeh aufgeben können, hätte den Hof verkaufen
       und zurück nach Düsseldorf ziehen können. Stattdessen wird sie den Hof zum
       „Zentrum für Peripherie“ und damit zu einem zentralen Ort ihrer Arbeit
       erklären.
       
       Als die Autobahnmanager im Februar 2019 in das Dorf kommen, dort Rede und
       Antwort stehen, kommt Reeh die Idee, der drohenden Flächenversiegelung eine
       Ausgleichsfläche entgegenzusetzen. Vertikal ausgerichtet und aus
       Naturmaterial. Wenn sich die Autobahn nicht verhindern lässt, soll
       zumindest das Dorf von ihr abgeschirmt sein: mit einer Lärmschutzwand aus
       Lehm.
       
       Kindern einer angrenzenden Schule werden der Idee später den Namen
       „Prignitzer Lehmlärmschutz“ geben. Die Raststätte, die nahe dem Dorf
       geplant ist, auch sie soll aus Lehm gebaut werden. Innerhalb von Monaten
       wird aus dieser Idee ein ökologisches Vorzeigeprojekt, das die
       Bundesanstalt für Straßenwesen ebenso interessiert wie die Bundesstiftung
       Baukultur. Erst Ende 2021 sind dem Vorhaben 880.000 Euro aus dem früheren
       Parteienvermögen der DDR zugesagt worden.
       
       ## „Naturschutz hochklappen“
       
       Noch ist nichts gebaut, aber was in dem kleinen Dorf erprobt wird, könnte
       bundesweit ausstrahlen. Dann nämlich, wenn die Idee des „Naturschutz
       hochklappen“ aufgeht und statt aus Aluminium oder Beton Wände aus bloßer
       Erde sich in die Landschaft einpassen und Insekten, Fledermäusen und
       Vögeln Unterschlupf bieten.
       
       Dennoch: Als ökologische Innovation für den Straßenbau wird man dem, was in
       der Prignitz geschieht, nicht gerecht. Ute Reeh ist bildende Künstlerin und
       macht als solche die Menschen aus der Region zu Mitstreitern, gewinnt
       Nachbarn, kommunale Vertreter und international renommierte Lehmbauer für
       ihre Idee.
       
       Es geht nicht nur darum, das anmaßende Bauvorhaben der selbsternannten
       „Alhambra Brandenburgs“ umzusetzen – auch die gewaltige mittelalterliche
       Palastanlage in Granada ist ein Lehmbauwerk. Ziel ist vielmehr, ein
       Umdenken im Bausektor zu provozieren, dem Lehm als Baumaterial zur
       Renaissance zu verhelfen und der Brandenburger Peripherie zu bundesweitem
       Ansehen.
       
       Für die selbsterklärte „Zwangsmanagerin“ Ute Reeh ist das Manövrieren
       zwischen der Realität des Asphalts und den Träumen der Kunst der politische
       Teil ihrer Arbeit, den es auszuhalten gilt. „Ich halte den Projektprozess
       wie eine Skulptur in den Händen, und zwar so behutsam wie möglich“,
       beschreibt sie den Kern ihrer Arbeit. Es ist die Idee der Avantgarde, die
       Kunst aus ihrem Korsett von Atelier und Galerie zu befreien und die Räume
       des künstlerischen Schaffens und der Alltagsrealität deckungsgleich werden
       zu lassen.
       
       ## Das Erbe von Beuys
       
       Die Herausforderung liegt weniger darin, Lehm zu einer fünf Meter hohen und
       hunderte Meter langen Mauer aufzuschichten, sondern darin,, „eine
       Gesellschaftsordnung wie eine Plastik zu formen“, [1][um den künstlerischen
       Übervater Joseph Beuys zu bemühen].
       
       Für Beuys lag das Erbe von Kunstströmungen wie Fluxus und Happening darin,
       weg von Skulpturen und Leinwänden zu kommen, vielmehr einen radikal
       erweiterten Kunstbegriff zu vertreten und die Menschen selbst zu Gestaltern
       ihrer sozialen, ökologischen, politischen Umwelt zu ermächtigen. Nichts als
       das steht hinter dem zu Tode zitierten Wort, dass alle Menschen Künstler
       seien. Dann nämlich, wenn sie mit an der sozialen Plastik bauen.
       
       Ute Reeh selbst weißt diesen Vergleich nicht zurück, schränkt aber ein.
       „Beuys ist ein Künstler, den ich schätze.“ Zugleich sei er, wie auch der
       Minimalist Donald Judd, einer von vielen künstlerischen Einflüssen. Sie,
       die in München geborene Tochter eines Quantenfeldtheoretikers und einer
       Mathematikerin, beginnt nach der Schule ein Mathematikstudium. Zwei Monate
       hält sie durch, entscheidet sich dann für ein Kunststudium in Kassel.
       
       Als Beuys dort 1982 anlässlich der Documenta 7 seine 7.000 Eichen pflanzt
       und „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ propagiert, ist die 24-Jährige
       vor Ort. Den Künstler mit Hut und Weste erlebt sie, als er ungeliebte
       Arbeiten von Studenten mit seiner Unterschrift versieht und sie so
       unantastbar macht. Später wird sie in Beuys Wahlheimat Düsseldorf studieren
       und Meisterschülerin [2][des Fluxus-Video-Künstlers Nam June Paik] werden.
       
       ## Die Kritiker werden weniger
       
       Mehr als 30 Jahre später ist Beuys lange tot, sein künstlerisches Erbe
       jedoch lebt auch dort, wo niemand danach sucht – im unscheinbaren Dorf
       Nebelin. Wenn Ute Reeh hier einen Workshop durchführt, Bauingenieure,
       Dorfbewohner und Wissenschaftler zusammenführt, dann werden alle
       gleichwertig einbezogen, ob Lehmbaukoryphäe oder Handwerker aus dem Dorf.
       Nicht jeden mag das überzeugen, aber die Zahl der Kritiker sinkt mit jedem
       überheißen Sommer, der den abstrakten Klimawandel greifbar macht.
       
       So hat es auch Martin Rauch erfahren, ein Pionier des Lehmbaus aus dem
       österreichischen Vorarlberg. Schon 1984 beteiligte er sich an einem
       Wettbewerb für innovativen Lärmschutz an Österreichs Autobahnen, den
       SPÖ-Bauminister Heinrich Übleis ausgerufen hatte.
       
       Der 26-Jährige gewann den ersten Preis in der Kategorie „Kunst“ und sollte
       nun seine Idee an einem 2,5 Kilometer langen Abschnitt nahe Graz
       verwirklichen. Dann kamen Wahlen und mit Robert Graf ein neuer Bauminister
       von der konservativen ÖVP. Das Vorhaben wurde eingestampft.
       
       Heute, ist Martin Rauch überzeugt, gibt es ein stärkeres Interesse an
       ökologischen Alternativen im Bauwesen. „Der größte CO2-Produzent ist die
       Baustoffindustrie. Wenn man das gravierend ändern will, kommt man
       zweifellos auf die Idee des Lehmbaus“, sagt er. Rauch selbst war in jungen
       Jahren schon auf Lehm als Baumaterial gestoßen – in Afrika. Als eines von
       sieben Kindern hatte er es seinen Geschwistern gleichgetan und war als
       Entwicklungshelfer in den Senegal gegangen, hatte dort die Vorzüge des
       Bauens mit Lehm erlernt.
       
       ## Kein Beton, kein Aluminium
       
       Kein Beton, kein Aluminium muss produziert und zur Baustelle gefahren
       werden. Die Erde, die beim Bau der A14 anfällt, könnte direkt zur
       vertikalen Ausgleichsmaßnahme aufgetürmt werden und so dem Flächenverbrauch
       entgegenwirken.
       
       Und: Durch die poröse Oberfläche ist Lehm überaus schallschluckend.
       Technisch lasse sich eine freistehende Schutzmauer aus Lehm umsetzen, sagt
       Rauch. „Die größte Herausforderung ist nicht die Technik, sondern es sind
       die Kosten und das Vertrauen. Noch will niemand Verantwortung für diese
       Bauweise übernehmen.“ Mit der ihr eigenen Hartnäckigkeit und dem Vermögen,
       Menschen für das Vorhaben zu begeistern, habe es Ute Reeh da schon weit
       gebracht.
       
       28 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fabian Lehmann
       
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