# taz.de -- Osteuropa-Historiker über Putin: „Keine Politik ohne Raum“
       
       > Karl Schlögel über Wladimir Putins Choreografien, russische Ressentiments
       > und die unklare Haltung der deutschen Politik zu alldem.
       
 (IMG) Bild: Hat wieder mal eine große Choreografie entwickelt: Putin beim Treffen mit Scholz am 15. Februar
       
       taz am wochenende: Herr Schlögel, was war Ihr Eindruck von Olaf Scholz’
       Moskau-Besuch am Dienstag? 
       
       Karl Schlögel: Ich war gespannt. Die russische Seite hatte wieder mal eine
       große Choreografie entwickelt. In diesem schwierigen Rahmen hat Olaf Scholz
       eine ganz gute Figur gemacht.
       
       Was meinen Sie mit „großer Choreografie“? 
       
       Nicht nur die Bilder des langen Tischs. An dem Tag des Besuchs gab es
       mehrere Nachrichten, die nicht zufällig kamen. Da war die Meldung vom
       angeblichen oder wirklichen Teilrückzug bestimmter Militärkräfte von der
       ukrainischen Grenze. Gleichzeitig verabschiedet die Duma einen Beschluss,
       die Gebiete in der Ostukraine mit den separatistischen Aufständen als
       eigene Staaten anzuerkennen – und so ihre Abtrennung von der Ukraine
       einzuleiten.
       
       Das ist das Gegenteil von Entspannung. 
       
       Wladimir Putins Sprecher Dimitri Peskow kommentierte den Beschluss mit den
       Worten, dieser bringe den Willen des russischen Volkes zum Ausdruck. Es ist
       natürlich Teil der psychologischen Kriegsführung, zu signalisieren, dass
       man jetzt bereit ist, diesen Schritt zu gehen. Und es gehört ebenfalls zur
       Choreografie, dass der Beschluss nun bei Putin liegt und er am Ende
       entscheidet. Damit wird seine ungeheure Macht demonstriert: Wird der
       Beschluss der Duma zur Staatspolitik – oder ist der Präsident so großzügig,
       das abzuwehren und so der Diplomatie noch eine Chance zu geben?
       
       Im Netz gibt es gerade viele Witze über Putins Tisch. 
       
       In russischen Zeitungen finden sich auch Karikaturen dazu. Zum Beispiel in
       der Nowaja Gaseta, in der der Tisch in eine endlose Schlange überging. Ich
       vermute aber, dass die Auftritte von Emmanuel Macron, Viktor Orbán oder
       Olaf Scholz im Kreml beim russischen Fernsehpublikum großen Eindruck
       hinterlassen. Die ganzen Regierungschefs kommen nach Moskau – auf die
       Bühne, die Putin errichtet hat. Er beherrscht das Verfahren.
       
       Der Aufmarsch von 130.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze hat sich für
       ihn bereits ausgezahlt? 
       
       Ja, der Effekt der militärischen Drohung ist ja längst eingetreten. Es ist
       Putin gelungen, wieder eine Situation zu produzieren, in der die ganze Welt
       aufgeschreckt ist und nach Moskau blickt. Seine Forderungen werden ernst
       genommen, man spricht über sein Ultimatum. Und zugleich haben der Aufmarsch
       und der damit verbundene psychische Druck der Ukraine schon jetzt sehr
       geschadet. In einem Land, das es schon schwer hat und sich irgendwie immer
       wieder berappelt, werden Investoren abgeschreckt, Ausländer verlassen es,
       der Austausch kommt zum Erliegen.
       
       Hierzulande hat sich vor allem die SPD schwergetan, eine klare Haltung
       einzunehmen. 
       
       Das ist aber nicht nur das Problem der SPD, sondern der deutschen
       Befindlichkeit insgesamt. Es ist immer noch nicht so richtig angekommen,
       dass die alte Welt mit ihrer klaren Ost-West-Teilung Vergangenheit ist. Und
       dass die neue Welt offener und viel unsicherer ist. Ich vermisse eine
       Debatte darüber, wohin unser Land da eigentlich will. Ist es beispielsweise
       der Meinung und bereit, die Lebensform, die man sich aufgebaut hat, auch zu
       verteidigen? Und was bedeutet dann Verteidigung, wenn diese in Gefahr ist?
       
       In der Debatte heißt es oft, Russland handele so, weil es verletzt sei und
       sich vom Westen bei der Nato-Osterweiterung über den Tisch gezogen fühle. 
       
       Vor allem die wohlmeinenden Freunde Putins benehmen sich oft wie
       Psychotherapeuten. Also, je weicher und verständnisvoller man das
       Putin-Regime anfasse, desto größer seien die Chancen auf ein friedliches
       Miteinander. Was sie übersehen: Eine große Macht lässt sich nicht von außen
       definieren, was sie macht und was sie unterlässt. Wir investieren viel zu
       wenig Energie darein, die innere Mechanik Russlands besser zu begreifen.
       Die verstehen wir nicht wirklich. Und weil man so wenig weiß, nimmt man zu
       Projektionen Zuflucht. Das russische Verhalten wird nur als Reaktion auf
       Aktionen des Westens erklärt, nicht als Handeln aus eigenem imperialen
       Antrieb.
       
       Das sei halt Geopolitik, hört man auch oft. 
       
       Die inflationäre Rede von der Geopolitik ist eigentlich nur ein Symptom
       dafür, dass wir nicht wirklich wissen, wie Russland tickt. Ich kann mit
       einigem Recht davon sprechen, weil ich als Historiker eigentlich mein
       ganzes Leben lang für die Rehabilitierung des Raumes gekämpft habe. Dafür
       bin ich oft angegriffen worden, weil das konservativ, reaktionär und
       vielleicht noch Schlimmeres sei. Mir ging es eigentlich nur um eine
       Selbstverständlichkeit, nämlich dass Geschichte eben nicht nur
       chronologisch, in der Zeit, abläuft, sondern auch an Schauplätzen
       stattfindet. Seit Putin redet man nun ständig von Geopolitik. So als hätte
       es nicht auch eine des Kalten Krieges gegeben. Ja, es gibt überhaupt keine
       Politik ohne den Raum, aber die entscheidende Frage ist: Mit welchem System
       haben wir es zu tun, das diesen Raum neu gestaltet?
       
       Was ist mit der Erklärung, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion als
       Demütigung wahrgenommen wurde und Putin deshalb heute zu alter Größe
       zurückstrebt? 
       
       Das Ende des Imperiums wurde von vielen Menschen als Katastrophe oder
       Schock empfunden. Ich bin damals dort hin gereist und habe vor Ort gesehen,
       was es bedeutet, wenn übergreifende Infrastrukturen und Institutionen
       plötzlich zerfallen. Dass es zum Beispiel auf einmal neue Grenzen gibt.
       Vielen Sowjetmenschen war nicht bewusst, dass es Grenzen gibt, weil sie in
       dem Riesenreich nie an eine stießen. Sie hatten in der Regel keine
       Auslandspässe. Im Bus von Litauen nach Kaliningrad habe ich 1991
       Heulanfälle von Menschen erlebt, die plötzlich eine Grenze passierten, für
       die sie keine Pässe hatten. Es war für viele eine demütigende Erfahrung,
       das Scheitern eines Systems zu erleben. Die Frage ist, ob man einen Weg aus
       dieser deprimierenden Erfahrung heraus findet – oder ob man jemanden sucht,
       den man für alles verantwortlich machen kann.
       
       Die russische Regierung sucht eher Schuldige. 
       
       Ich nenne das die Bewirtschaftung des Ressentiments. Es gibt eine neue
       Generation von Medienleuten, die Karriere mit der Abrechnung mit den
       chaotischen 90er Jahren machen. Und es werden immer neue
       Bedrohungsszenarien produziert. Der Soziologe Lew Gudkow beschreibt das so:
       Das Riesenland, das sich eigentlich neu aufstellen müsste, wird eher durch
       Bedrohungs- und Feindbilder, durch negative Integration, zusammengehalten.
       Man kennt das in allen autoritären und totalitären Regimen. Wenn man selber
       keine positive Entwicklungsperspektive angeben kann, braucht es einen
       gemeinsamen Feind. Deshalb wird den Russen immer wieder eingeredet, der
       Westen bedrohe und demütige ihr Land.
       
       Sie haben im Januar zusammen [1][mit anderen deutschen Osteuropa-Experten
       einen Aufruf unterschrieben, der eine neue deutsche Russlandpolitik
       fordert]. Die EU-Sanktionen nach der Annexion der Krim seien zu milde und
       keine ausreichende Antwort auf die russische Aggression gewesen, heißt es
       darin. Das habe die neuen Aggressionen erst ermutigt. 
       
       Die bisherige deutsche Russlandpolitik hat in den vergangenen Jahren nicht
       wirklich zur Kenntnis genommen, dass Russland der militärische Gegner eines
       mit uns befreundeten Landes ist. Lange hat man noch über
       Modernisierungspartnerschaften geredet, dass die Verknüpfungen immer enger
       werden müssen, aber die Situation der militärischen Bedrohung der Ukraine
       wurde nicht ernst genommen. Eigentlich ist es ja großartig, wenn es viele
       enge Verbindungen nach Russland gibt – nur in dieser Situation laufen all
       diese Verbindungen Gefahr, instrumentalisiert und für destruktive Aktionen
       benutzt zu werden. Ich unterstütze die Initiative für diesen Aufruf, weil
       ich sicher bin, dass sich etwas ändern muss.
       
       Was sind denn Ihre Erwartungen an die deutsche Russlandpolitik? 
       
       Es sind einfache Sachen wie: die Dinge beim Namen zu nennen. Dass man
       Schluss macht mit der postmodernen Rede, dass es eigentlich keine Wahrheit,
       sondern nur unterschiedliche Sichtweisen gebe. Und dass man sich
       eingesteht, dass es Situationen gibt, in denen Politik und Diplomatie auch
       erst einmal am Ende sind.
       
       Was macht man dann? 
       
       Warten, warten, warten. Man darf sich nicht ins Bockshorn jagen und
       erpressen lassen. Und man muss sich nicht die Tagesordnung diktieren lassen
       von jemandem, der an den internationalen Regeln nicht interessiert ist. Was
       das für unsereins bedeutet, die nicht in der Politik oder der Wirtschaft
       tätig sind? Man richtet sich auf harte Zeiten ein, die man früher schon mal
       kennengelernt hat: dass man kontrolliert wird, dass man bespitzelt wird,
       dass man sich nicht einfach zu Konferenzen treffen kann. Wenn man kritisch
       über Themen wie den Hitler-Stalin-Pakt spricht, ist das in Russland heute
       ein Fall für Strafverfolgung. Wie sollen Historiker aber in einem Forum
       zusammenarbeiten, in dem es untersagt ist, diese Fragen zu besprechen?
       
       20 Feb 2022
       
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