# taz.de -- EU und Geflüchtete: Menschen als Waffe
       
       > Europa ist mitverantwortlich dafür, dass Menschen als Druckmittel
       > eingesetzt werden. Es macht sich erpressbar und spielt Autokraten in die
       > Karten.
       
 (IMG) Bild: Gestrandet in Belarus an der Grenze zu Polen im Dezember 2021
       
       Im Mai letzten Jahres zwang [1][Belarus einen Linienflug zwischen zwei
       Mitgliedsstaaten der EU zur Landung]. Angeblich aufgrund einer
       Bombendrohung, die jedoch erst nach dem ersten Kontakt zum Flugzeug an
       belarussische Behörden geschickt wurde – per Mail. An Bord des Flugzeugs
       befanden sich ein belarussischer Dissident und seine Freundin, beide wurden
       nach der Landung verhaftet.
       
       Diese staatlich organisierte Entführung ist der Beginn einer
       internationalen Erpressung, die bis heute fortwirkt. West und Ost befinden
       sich in einer Art neuem Kalten Krieg – mit völlig neuen Waffen: Menschen.
       
       Als Reaktion auf die Entführung von Roman Protassewitsch sperrte die EU
       ihren Luftraum für belarussische Fluggesellschaften. Sie bedachte die
       Diktatur Alexander Lukaschenkos mit weiteren Sanktionen. Der Machthaber
       kündigte Rache an: von nun an werde sein Land Flüchtende nicht aufhalten,
       wenn diese in die EU einreisen wollen. Belarus grenzt im Westen an Polen,
       im Nordwesten an Litauen.
       
       Im Juni berichteten polnische Anwohner erstmals von Geflüchteten, die durch
       ihre Heimat weiter nach Westen zogen. Es war der Startschuss zu einer
       systematischen Aktion. Das Ziel: die EU zu erpressen und ihre
       Doppelzüngigkeit aufzudecken.
       
       ## Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
       
       Viele der Flugverbindungen, die Flüchtende Richtung Belarus nutzen,
       existieren erst seit einigen Monaten. Die belarussische Fluggesellschaft
       „Belavia“, ein Staatsunternehmen, untersteht Diktator Lukaschenko.
       Ebenfalls auffällig ist, wie gerne Belarus plötzlich One-Way-Visa Richtung
       Minsk ausstellte, zu teils horrenden Preisen, von denen das
       sanktionsgebeutelte Land ebenfalls profitiert. Lukaschenko lockte also
       Menschen in prekären Situationen gezielt in sein Land, um sie dann Richtung
       polnische Grenze zu schicken.
       
       Die sieht mittlerweile gar nicht mehr nach einer grünen Grenze aus. Über
       180 Kilometer erstreckt sich ein Grenzzaun, aufgebaut im Eiltempo von
       polnischen Sicherheitskräften. Auch hier gibt es Stimmen, wie der
       sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer andeutete, dass auch Mauern
       an den EU-Außengrenzen wieder nötig wären.
       
       Es ist ein Stück weit verständlich, dass auf Erpressungsversuche von
       Lukaschenko, der das Ende aller Sanktionen im Gegenzug für die Beendigung
       des staatlichen Schleusens forderte, nicht mit der sofortigen Aufnahme
       aller Menschen an der Grenze reagiert wird. Denn das würde den Diktator in
       seinem erpresserischen Vorgehen bestätigen.
       
       Die abgeriegelte Grenze macht es jedoch denjenigen, die auf der
       belarussischen Seite sind, unmöglich, überhaupt erst einen Antrag auf Asyl
       zu stellen, und das ist nicht hinnehmbar. Über Bleiberechte in der EU
       entscheiden Asylverfahren und nicht die Frage danach, auf welcher Seite der
       Grenze sich ein Mensch befindet.
       
       ## Die polnische Regierung bricht geltendes Völkerrecht
       
       Schlimmer noch: Berichte über [2][Zurückschiebungen] durch Polen reißen
       nicht ab. Zurückschiebungen verstoßen gegen die Europäische
       Menschenrechtskonvention, und auch der Artikel 33 der Genfer
       Flüchtlingskonvention untersagt die Ausweisung von Flüchtenden in Länder,
       in denen Freiheit oder Leben aufgrund Nationalität oder Religion bedroht
       sein würden – in Belarus nichts Undenkbares.
       
       Polen aber hat die Grenzregion abgeriegelt, lässt sie militärisch bewachen.
       Die Presse bleibt ausgesperrt. Die Regierung weiß genau, was sie tut – sie
       bricht geltendes Völkerrecht.
       
       Die EU reagiert auf die Situation an der Grenze bisher mit Verschärfungen
       der Sanktionen und Schuldzuweisungen in Richtung Minsk – und, etwas leiser,
       gegen Moskau. Auch das ist verständlich, schließlich schwingt sich
       Lukaschenko mit Putins Rückendeckung zum Schleuser auf, um die EU zu
       erpressen.
       
       Was jedoch niemand in Brüssel gerne sagt: Würde die EU zu den Prinzipien
       ihrer Verträge und Identität stehen, wäre eine solche Erpressung unmöglich.
       Die EU ist in diesem Punkt nur verwundbar, weil sie [3][seit Jahren auf
       eine Politik der Abschottung] setzt, die mit der Beschreibung „Festung
       Europa“ treffend formuliert ist.
       
       Den Begriff Festung benutzen osteuropäische Politikerinnen inzwischen ganz
       ungeniert – bisweilen sogar stolz. Ungarns Justizministerin Judit Varga
       etwa, die in der FAZ erklärte: „Wir werden ohnehin keine illegalen
       Migranten reinlassen – die Festung Ungarn steht.“
       
       ## Ohne Schengen-Pass in Richtung EU
       
       Immer, wenn ein Autokrat wie Erdoğan oder ein Diktator wie Lukaschenko
       damit droht, Menschen ohne Schengen-Pass in Richtung EU zu schicken,
       sollten wir uns fragen, warum diese Drohung überhaupt wirkt. Gäbe es ein
       funktionierendes System der Verteilung innerhalb Europas und menschliche
       Bedingungen der Einreise in die Union, dann würde Minsk gar nicht erst auf
       die Idee kommen, Menschen als Druckmittel zu instrumentalisieren.
       
       Lukaschenko ist direkt verantwortlich für das Leid der Menschen, ja. Aber
       es ist die Politik der EU, die ihm den Weg bereitet. Seit Jahren stopft die
       Union jedes Loch in der Außengrenze, durch das Menschen einreisen könnten.
       Auch gibt es kein europäisches Einwanderungsgesetz, welches Migration
       legalisieren und ordnen würde – eigentlich etwas, wonach Europas Politik
       ständig ruft. Denn nicht alle Menschen an der Grenze sind Fliehende, manche
       von ihnen wollen einfach ein besseres Leben. In jedem Fall hat es niemand
       verdient, so behandelt zu werden.
       
       Nur durch rigorose Abschottung wird eine Lücke in der Außengrenze erst so
       interessant, dass Menschen in Syrien, Afghanistan, dem Irak und Iran und
       weiteren Ländern bereit sind, alles zu riskieren. Es ist also die
       unmenschliche Ausgangssituation, welche die EU selbst geschaffen hat, die
       Lukaschenkos menschenverachtende Erpressung erst ermöglicht.
       
       Auch unterstützt die Reaktion der EU das zentrale Argument osteuropäischer
       Antidemokraten: Demokratie existiert nicht, alle Systeme sind gleich und
       haben ihre Schatten- und Lichtseiten. Die gleiche Union, die, völlig zu
       Recht, Menschenrechtsverletzungen in Belarus anprangert, verweigert seit
       Jahren effektiv Tausenden das Recht auf ein Asylverfahren. Das ist ein
       schweres Vergehen an den eigenen Werten.
       
       15 Jan 2022
       
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 (DIR) Robert Saar
       
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