# taz.de -- 50 Jahre Radikalenerlass: Jagd auf Linke
       
       > Der Radikalenerlass verbaute Tausenden jungen Menschen den
       > Berufseinstieg. Es gab rund 3,5 Millionen Anfragen beim
       > Verfassungsschutz.
       
 (IMG) Bild: Studierende demonstrieren im Sommer 1976 in Bonn gegen Berufsverbote
       
       Hamburg taz | Das Problem mit den Berufsverboten, die Deutschland ab 1970
       ein Jahrzehnt beschäftigen sollten, fängt beim Verfassungsschutz (VS) an,
       hört dort aber nicht auf. Wenn der Inlandsgeheimdienst beurteilen soll, wer
       überwacht gehört, wer sich rechtfertigen muss, wem Zugänge zu bestimmten
       Berufen verwehrt werden – dann ist klar, dass es Probleme gibt. Wie sollte
       man auf eine valide Einschätzung der Behörde vertrauen, die nicht erst in
       jüngster Zeit durch Skandale wie Lauschangriffe auf Politiker*innen
       und Aktivist*innen geprägt ist, sondern auch den NSU unterstützte, Anis
       Amri gewähren ließ und Hans-Georg Maaßen als Chef tolerierte?
       
       In den 70er Jahren verbaute die Einschätzung des Verfassungsschutzes
       Tausenden jungen Menschen den Berufseinstieg und zerstörte Karrieren. Dabei
       muss man den VS in diesem Fall fast schon etwas entlasten, denn er folgte
       [1][einer politischen Anweisung, dem „Radikalenerlass“]. Also einem
       Einstellungsverbot für Bewerber, die sich in vermeintlich extremistischen
       Organisationen engagierten, auf Stellen für Angestellte im öffentlichen
       Dienst oder Beamt*innen.
       
       De facto ging es dabei fast immer um das Engagement in der seit 1968 wieder
       erlaubten Deutschen Kommunistischen Partei oder einer der zahlreichen
       kommunistischen Studentenorganisationen.
       
       Am 28. Januar 1972 verabschiedeten die Ministerpräsidenten unter
       Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) den Beschluss, der formell zum Ziel hatte,
       links- und rechtsextreme Verfassungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst
       fernzuhalten oder zu entfernen – in Wirklichkeit aber fast ausschließlich
       Linke traf.
       
       „Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt“, so der
       Wortlaut, „wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. Gehört ein
       Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt,
       so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die
       freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel
       rechtfertigen eine Ablehnung.“ Es folgte eine behördliche Hetzjagd auf
       linke Berufseinsteiger*innen, die sich in 3,5 Millionen Regelanfragen beim
       VS, 11.000 Berufsverbotsverfahren, 2.200 Disziplinarverfahren, 1.256
       Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen messen lässt.
       
       Hamburg nahm dabei eine unrühmliche Vorreiterrolle ein. Die Volks- und
       Realschullehrerin Heike Gohl erhielt am 23. November 1971, dem letzten Tag
       ihrer Probezeit, einen Brief der Schulbehörde. Man teilte ihr mit, dass sie
       entlassen werde, weil sie sich nicht bewährt habe. Als Grund dafür führte
       die Schulbehörde ihr Engagement bei der DKP und der Sozialistischen
       Deutschen Arbeiterjugend SDAJ an, und fügte einen Beschluss hinzu, der die
       Entlassung über den Einzelfall hinaus legitimieren sollte – zwei Monate vor
       dem Beschluss der Ministerpräsidenten.
       
       Obgleich es zuvor schon einzelne [2][politisch motivierte Entlassungen in
       Bremen] und Nordrhein-Westfalen gegeben hatte, war dies der entscheidende
       Schritt, die politischen Entlassungen zu institutionalisieren. Aber auch
       der Beschluss der Ministerpräsidenten war formal kein Gesetz und keine
       Verwaltungsanordnung, sondern lediglich eine politische Willensbekundung,
       wie die Historikerin Alexandra Jaeger festhält. „Es ging um
       gesellschaftliche In- und Exklusionsprozesse, wobei sich die Wahrnehmung,
       was als „normal und was als ‚radikal‘ galt, wandelte“, schreibt sie in
       ihrem beim Wallstein Verlag erschienenen Standardwerk „Auf der Suche nach
       Verfassungsfeinden“.
       
       ## Von Anfang an umstritten
       
       In der Fachliteratur sei der Beschluss auch damals schon umstritten
       gewesen, die meisten Jurist*innen fanden es durchaus heikel, jemanden
       wegen seiner Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Organisation
       auszuschließen. Als die Mitglieder der 68er-Studentenbewegung Ende der 70er
       Jahre nicht mehr als „radikal“ galten, endete die exkludierende Praxis.
       Wobei Bayern die „Regelanfragen“ beim Verfassungsschutz erst 1991
       einstellte.
       
       Aber wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass Schul- und andere
       Behörden linke Lehrer*innen, Zugfahrer*innen und Postbot*innen so
       sehr fürchteten – oder hassten – dass sie sie aus dem Staatsdienst
       fernhalten wollten?
       
       „Die gesellschaftliche Stimmung war geprägt vom Klima des Kalten Kriegs“,
       erinnert Jaeger. Nach dem Zerfall des Sozialistischen Deutschen
       Studentenbunds (SDS) 1970 erfuhren die K-Gruppen, die DKP und andere
       kommunistische Strömungen massiven Zulauf, „alle suchten ihren Weg zur
       Revolution“, sagt Jaeger. Ältere Politiker und Beamte habe das sehr nervös
       gemacht, die Stimmung sei aufgeladen gewesen, konfrontativ, polarisiert.
       
       Es sei oft um den Ernstfall gegangen, sagt Jaeger: den Krieg mit dem Osten.
       Wenn die Lehrer*innen ihre Schüler*innen zu Kommunist*innen
       erzögen und dann der Krieg käme, na dann gute Nacht, hätten die alten
       Herren der Bundesrepublik gesagt. Und auf Ausschlüsse, Verbote und
       administrative Maßnahmen gesetzt, weil sie zu Diskussion und
       Verständigungen nicht in der Lage gewesen seien. Es war auch ein
       Generationenkonflikt.
       
       ## Selbst Jusos verunsichert
       
       Die intransparenten Kriterien, nach denen aussortiert wurde, führten auch
       bei nicht politisch organisierten jungen Menschen [3][zu weitreichenden
       Einschüchterungen]. „Viele überlegten genau, welche Themen sie in einer
       Seminararbeit behandelten, welche Bücher sie mit Schüler*innen
       besprachen“, sagt Jaeger. Selbst bei den Jusos habe Verunsicherung
       geherrscht, auch linke Sozialdemokrat*innen waren teilweise von der
       Repression betroffen, die der Ur-Sozi Willy Brandt Jahre später als großen
       Fehler bezeichnete.
       
       Entschädigt wurde bis heute niemand. Einige Betroffene konnten bestenfalls
       die Erstattung von Rentenansprüchen durch die ihnen verbotenen Berufsjahre
       vor Gericht erstreiten.
       
       Linke zu drangsalieren, die ja wohlgemerkt so angepasst waren, dass sie in
       den Staatsdienst treten wollten, wirkt im Nachhinein bizarr. Welche
       Fantasien hegte man wohl erst gegen solche, die aus Ablehnung der
       bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Ausbeutung jede
       Lohnarbeit verweigerten?
       
       ## Es hatte auch sein Gutes
       
       Doch so fatal die Kommunistenjagd von heute aus betrachtet wirkt und auch
       damals schon – in den Worten des Betroffenen Hans-Peter de Lorent
       gesprochen –, „auf jeden vernünftig denkenden Menschen gewirkt haben muss“,
       hatte sie dennoch auch etwas Gutes. Denn der Schock darüber, was der Staat
       alles über einen erfuhr, sammelte und speicherte, schlug in der
       Gesellschaft ein. Dass Universitäten leichtfertig Geburts- und Meldedaten
       ihrer Studierenden herausgaben, entsetzte die Bürger*innen ebenso wie
       dass sie nicht wussten, was der Staat über sie wusste. In der Bevölkerung
       wuchs ein gesundes Misstrauen gegen den VS.
       
       Die Einführung des Parlamentarischen Kontrollgremiums zur Überwachung der
       Geheimdienste im Jahr 1978 ist auf dieses gewachsene kritische Bewusstsein
       zurückzuführen. Ebenso war eine Basis für den Widerstand gegen die geplante
       Volkszählung Anfang der 80er Jahre gelegt.
       
       Im Rahmen der Debatten um die Volkszählung und die gläsernen
       Bürger*innen fällte das Bundesverfassungsgericht ein bahnbrechendes
       Urteil, in dem es zum ersten Mal das Recht auf informationelle
       Selbstbestimmung etablierte – ein Meilenstein in der Geschichte des
       Datenschutzes. Dennoch: Der Preis, den die Gesellschaft dafür im Laufe der
       70er Jahre gezahlt hatte, war hoch.
       
       26 Dec 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Schipkowski
       
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