# taz.de -- Gregor Gysi zum Belarus-Konflikt: „An Putin führt kein Weg vorbei“
       
       > Um den Konflikt an der polnisch-belarussischen Grenze zu lösen, müsse der
       > russische Präsident mit ins Boot geholt werden, fordert Linken-Politiker
       > Gysi.
       
 (IMG) Bild: „Wir müssen mit Putin reden“ sagt Gregor Gysi
       
       taz: Herr Gysi, der belarussische Diktator Lukaschenko schickt Flüchtlinge
       an die EU-Grenze. Angela Merkel hat nun Russlands Präsidenten Putin um
       Vermittlung gebeten. Ist es wirklich klug sich mit einem Autokraten gegen
       einen Diktator zu verbünden? 
       
       Gregor Gysi: Es ist richtig, dass wir Russland dafür gewinnen, Einfluss zu
       nehmen auf Lukaschenko. Denn Lukaschenko fühlt sich ja nur sicher, weil er
       Russland im Rücken hat. Wenn wir die Situation jetzt weiter zuspitzen und
       den Druck auf Belarus erhöhen, denkt sich Lukaschenko was Neues aus. Es
       entspricht seiner Denkweise, die EU nun zu ärgern. Dafür missbraucht er
       auch die Migrantinnen.
       
       Aber Putin als Verbündeten zu gewinnen, ist wie sich mit Erdogan gegen
       Assad zu verbünden. Das geht schief. 
       
       Wir müssen mit Putin reden. Anders geht es nicht. Oder wir sanktionieren
       uns zu Tode. Ich stelle mir das so vor, dass wir wieder ein bisschen zurück
       zu Willy Brandt gehen, zum Wandel durch Annäherung. Die Politik der
       Sanktionen hat bislang in Bezug auf Russland nichts gebracht. Die
       Opposition ist nach wie vor sehr eingeschränkt, Menschenrechte werden
       verletzt.
       
       Der [1][Türkei-Deal mit Erdogan] hat auch nicht dazu geführt, dass Erdogan
       gemäßigter regiert. Im Gegenteil. Er erpresst die EU damit. 
       
       Das stimmt. Wir sollten uns von Putin auch nicht erpressen lassen wie von
       Erdogan. Aber auch Putin braucht auch die EU. Er steht an einem Scheideweg.
       Wendet er sich China zu oder versucht er in Europa zu bleiben? In dieser
       Situation müssen wir versuchen einzugreifen. Wenn Putin erst mal den Weg
       nach China geht, dann kann man das vergessen. Dann entsteht ein
       unkontrollierbarer Machtfaktor. China ist Wirtschaftsmacht, Russland ist
       und bleibt eine atomare Weltmacht. Ob uns das passt oder nicht.
       
       Deutschland sollte sich mehr um Putin bemühen? 
       
       Ja, aber natürlich immer unter der Bedingung, dass er dann auch etwas
       leistet. Es geht nicht darum, ihm sonst wohin zu kriechen. Ich bin auch
       sehr kritisch gegenüber Putin. Aber aus historischen und aus gegenwärtigen
       politischen Gründen benötigen wir ein anderes Verhältnis zu Russland. Es
       führt kein Weg an Putin vorbei. Wir können immer auch
       zivilgesellschaftliche Strukturen in Russland unterstützen. Aber diese
       haben letztlich nicht die Macht. Und wir kommen an der Macht nicht vorbei.
       
       Zurück an die belarussische Grenze. Putin um Vermittlung zu bitten ist das
       eine. Aber wie mit den Menschen umgehen, die dort gestrandet sind. 4.000
       sollen es aktuell sein, es kommen mehr. 
       
       Die 4.000, die jetzt konkret Hilfe brauchen, die verkraftet ganz Europa.
       Wir sollten sie also aufnehmen und sie über die EU verteilen. Gleichzeitig
       müssen wir aber auch dafür sorgen, dass dies nicht Methode wird. Wir müssen
       mit den Fluglinien reden, und zwar über Überflugrechte aber auch den
       Transport von Menschen nach Belarus. Auch dafür brauchen wir Russland.
       
       Fordern Sie Sanktionen gegen Fluglinien, die hilfebedürftige Menschen
       transportieren? 
       
       Ich spreche nicht von Sanktionen, sondern will mit ihnen reden. Mir ist es
       lieber, ich erreiche eine Übereinstimmung. Und wir brauchen drittens eigene
       humanitäre Aufnahmeprogramme, etwa für die Menschen, die Afghanistan
       verlassen wollen. Wir haben ja die Situation mit angerichtet. Da können wir
       jetzt nicht so tun, als ob uns das Ganze nichts anginge. Mich erreichen
       viele Mails. Da gibt es einen Mann, der lebt seit zig Jahren in
       Deutschland. Und weil er zu lange hier lebt, darf er seine drei Kinder
       nicht nachholen. Was völlig idiotisch ist, denn die sind jetzt wirklich in
       Gefahr.
       
       Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer hat gefordert, die
       EU-Grenze notfalls mit einer Mauer zu befestigen. Können Sie verstehen,
       dass die Leute Angst bekommen, wenn sich hunderte Menschen in Richtung
       Deutschland aufmachen? 
       
       Klar, die AfD wird das auch alles nutzen. Also steht tatsächlich Frage, wie
       wir das Ganze meistern.
       
       Sind wir gerade in einer ähnlichen Situation wie 2015? 
       
       Nein, bisher nicht. Es kommen doch keine Massen, die die Bevölkerung
       restlos überfordern. Wir müssen die Situation diesmal besonnener lösten und
       vor allem eine internationale Lösung finden.
       
       Merkel meinte damals „Wir schaffen das“. Die Debatte damals lief quer durch
       die Bevölkerung und auch durch ihre eigene Partei. Droht eine neue
       Zerreißprobe? Wenn Sahra Wagenknecht in der nächsten Talkshow einen
       Grenzzaun fordert. 
       
       Über Sahra Wagenknecht werden Sie von mir kein böses Wort hören. Ich hatte
       jetzt eine längere, gute Aussprache mit ihr. Sie hat das gute Recht ihre
       Meinung zu sagen und das kann auch eine andere sein, als die der Partei.
       Das muss sie dann aber eben sagen.
       
       Hat sich ihr Verhältnis zu Sahra Wagenknecht verändert? 
       
       Ja. Und zwar durch die Bundestagswahl. Weil ich erkannt habe, dass unsere
       jetzige Krise auch meine Verantwortung betrifft. Wir müssen als Linke ein
       anderes Verhältnis zueinander pflegen.
       
       Sahra Wagenknecht spricht für eine Gruppe von Menschen, die sich in der
       Linken an den Rand gedrängt fühlen. Was Migration, Umweltfragen, aber auch
       das Thema Impfen angeht. Wie bringt man beide Gruppen zusammen? 
       
       Das ist schwierig. Wenn die Grünen etwas gut gemacht haben, ist es, sich
       auf eine Klientel zu konzentrieren. Das sollten wir auch tun.
       
       Auf welche Klientel sollte sich die Linke denn konzentrieren? 
       
       Das ist die Friedens- und die soziale Frage und wir brauchen die
       Ostidentität zurück. Wir können den Osten nicht der AfD überlassen. Viele
       Ostdeutsche fühlen sich nach wie vor als Deutsche zweiter Klasse. Die
       Auswirkungen sind verheerend. Wenn ich im Osten Veranstaltungen mache, dann
       merke ich in Gesprächen auch, wie wichtig es den Menschen nach wie vor ist,
       dass die Linke für sie spricht.
       
       Die Linke hat inzwischen mehr Mitglieder im Westen als im Osten. Hat Ihre
       Partei nicht eher ein Stadt-Land-Problem? Die Linken in den Großstädten
       fordern autofreie Innenstädte und ein Verbot von Verbrennern, auf dem Land
       verteidigen sie den Diesel, weil sie auf das Auto angewiesen sind. 
       
       Wenn wir versuchen grüner zu sein als die Grünen werden wir nicht gewählt.
       
       Was meinen Sie mit „grüner als die Grünen“? 
       
       Wenn wir etwa noch früher aus der Kohle und noch konsequenter aus dem
       Verbrenner wollen. Deshalb wird keiner, der die Grünen aus ökologischen
       Gründen wählt, plötzlich uns wählen. Unser Stellenwert ist die soziale
       Frage. Und deshalb spreche ich immer von ökologischer Nachhaltigkeit in
       sozialer Verantwortung. Wir können ein Braunkohlerevier schließen, aber wir
       müssen den Braunkohlekumpeln sagen, welchen gleich bezahlten Job sie am
       nächsten Tag haben.
       
       Genau das können Sie aber nicht. 
       
       Wir brauchen dann auch einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor
       und öffentliche Förderung für Landwirtschaft und Umwelt. Wir sind als Linke
       immer zuständig dafür, dass die soziale Frage nicht vernachlässigt wird.
       
       Der Thüringer Ministerpräsident [2][Bodo Ramelow hat in der taz] kritisch
       angemerkt, dass es nicht reicht zu sagen „Wir sind die soziale Opposition“. 
       
       Aber er ist in einer anderen Situation als wir im Bundestag. Er ist der
       Regierungschef, die Bundestagsfraktion ist die kleinste Oppositionsfraktion
       mit einer relativ starken Regierung.
       
       Welche Rolle sollte die Linke in der Opposition spielen. Sind sie die
       Dauerkritiker:innen der Ampel? 
       
       Ja, wir sollten die Dauerkritiker sein, weil die Ampel eine
       Stillstandskoalition wird. Die einen wollten Steuern erhöhen, die anderen
       Steuern senken. Heraus kommt Null.
       
       Was, wenn [3][die Ampel ein Bürgergeld] beschließt und Sanktionen für
       Hartz-IV-Empfänger:innen abschafft. Kritisiert die Linke das dann auch,
       weil die Beträge nicht hoch genug sind? 
       
       Wenn die Ampel tatsächlich die Sanktionen abschaffen würde, werde ich dafür
       plädieren, dass wir dafür zu stimmen. Ich habe ja auch gesagt, es war ein
       großer Fehler von uns, nicht mit Ja zum Regierungsantrag für den Abzug der
       Bundeswehr aus Afghanistan und die Evakuierung der Ortskräfte dort zu
       stimmen. Es [4][war ein Abstimmungschaos.]
       
       Wie konnte es dazu kommen? 
       
       Weil die Linken in der Fraktion alle in kleinen Grüppchen existierten. Und
       ihnen ihre politische Heimat wichtiger ist, als die Wirkung auf die
       Wählerinnen und Wähler. Die einen haben mit Ja gestimmt, die anderen mit
       Nein, die meisten haben sich enthalten. Mir ist es sehr schwer gefallen,
       mich zu enthalten.
       
       Wieso haben Sie es dann getan? 
       
       Aus Disziplin. Weil ich den Kompromiss nicht verlassen wollte. Aber
       vielleicht müssen wir das alle lernen. Wir müssen als Linke lernen dann mit
       Ja zu stimmen, wenn etwas im Prinzip richtig ist.
       
       Hat nicht genau diese Abstimmung zur Afghanistan-Evakuierung gezeigt, dass
       die Linke weit davon entfernt ist, regierungstauglich zu sein. 
       
       Sie hat gezeigt, dass es Leute gibt, die auf gar keinen Fall in die
       Regierung wollen. Aber das sind ja jetzt nicht mehr so viele in der
       Fraktion.
       
       Mit 4,9 Prozent hat es die Linke nur dank der drei Direktmandate in den
       Bundestag geschafft. Wie ernst ist die Lage? 
       
       Sehr ernst. Ich glaube, dass sich die Spitzen von Partei und Fraktion
       treffen müssen und mit Zeit und Ruhe mal darüber nachzudenken haben, was
       eigentlich die künftige Rolle der Linkspartei in unserer Gesellschaft sein
       soll. Die ist nicht klar. Das ist ein Problem. Aber vielleicht reizt mich
       meine Partei auch deshalb wieder so. Zu Anwälten kommen nie glückliche
       Menschen, sondern Menschen mit Problemen. Das gilt auch für Parteien. Jetzt
       muss ich aufpassen, dass mich nicht die CDU reizt. Sie ist gerade auch in
       einer schwierigen Situation.
       
       Sie lachen. Noch schwieriger als die Linke? 
       
       Ja, noch schwieriger, weil sie bedeutender ist. Wir brauchen jetzt beide
       etwas Zeit und Ruhe und keine Hektik, um unsere Rollen neu zu finden und zu
       definieren.
       
       12 Nov 2021
       
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