# taz.de -- Menschenrechte im WM-Land: Nichts ist gut in Katar
       
       > Die Fußball-WM 2022 könne helfen, das Emirat Katar zu liberalisieren,
       > hieß es einmal. Doch die Menschenrechtslage wurde immer prekärer.
       
 (IMG) Bild: Baustelle des Stadions für das Finale der Weltmeisterschaft 2022 in Katar
       
       Keine Frage: Natürlich darf jeder Mensch einen Boykott der WM in Katar für
       wenig sinnvoll halten und ablehnen. Kein Problem, solange weiterhin die
       Missstände im Land angeprangert und nicht schöngeredet werden.
       
       Letzteres war in den letzten Wochen und Monaten aber wiederholt der Fall.
       Nicht nur seitens der Verbände Fifa und DFB, von denen nichts anderes zu
       erwarten ist. Auch kritische Stimmen waren nicht davor gefeit, jede noch so
       kleine Reform im autoritär regierten Emirat zu einem epochalen Ereignis
       hochzujazzen. Garniert mit der Behauptung, dass wir die Veränderungen im
       WM-Austragungsland allein der WM zu verdanken hätten! Gab es diesbezügliche
       Rückschläge, hüllte man sich in Schweigen.
       
       Als dass Fifa-Exekutivkomitee im Dezember 2010 pro Katar entschied, standen
       die Menschenrechte nicht zur Debatte. Nicht bei den korrupten Fifa-Granden
       und auch nicht bei den Katarern. Daran hat sich nichts geändert.
       
       Für gigantische Sportereignisse gibt keinen besseren Partner als ein
       autokratisches Regime, das Sportwashing betreibt. Gianni Infantino zieht es
       noch mehr an die Seite von Autokraten als seinen Vorgänger Sepp Blatter.
       Besonders die Golfregion hat es ihm angetan, da diese immense Summen in den
       Weltfußball spült.
       
       Die Funktion von Menschenrechtsorganisationen sieht Infantino in diesem
       Kontext so: Sie sollen einen Schutzschild aufbauen, hinter dem der
       Fifa-Boss mit den Autokraten ungestört kuscheln kann. Die
       Menschenrechtsorganisationen sollen den Veranstaltungen der Fifa eine
       Unbedenklichkeitsbescheinigung ausstellen.
       
       ## Der Debatte fehlt Ehrlichkeit
       
       Thomas Hitzlsperger wäre lieber, wenn die Organisatoren des Turniers
       ehrlich wären. „Meine Hoffnung auf Verbesserung hält sich in Grenzen. Es
       wird der Fifa nicht schwerfallen, vier Wochen lang Bilder zu zeigen, die
       den Eindruck von Fortschritt vermitteln, ohne dass sich im Land in den
       kommenden Jahren grundsätzlich etwas ändert. Russland ist nach der letzten
       WM auch nicht demokratischer und liberaler geworden.“ Es wäre besser, „wenn
       man knallhart sagt: Die arabische Welt ist ein wichtiger Markt mit potenten
       Sponsoren, sie haben eine Top-Bewerbung abgegeben, also spielen wir da“.
       
       Besonders die Abschaffung des [1][Kafala-Systems] wurde von der Fifa und
       den Katar-Lobbyisten frenetisch gefeiert. Unabhängig recherchierende
       Journalisten, also Journalisten, die nicht am Händchen von katarischen
       Offiziellen das Land besichtigen, zu nennen ist hier insbesondere der
       mutige Benjamin Best, waren schon vor Monaten zu der Erkenntnis gelangt,
       dass es mit der Reformbereitschaft des Regimes nicht weit her ist. Und dass
       sich die Dinge in einigen Bereichen sogar verschlechtert haben.
       
       Nun grätschte auch [2][Amnesty International] dazwischen. Das Kafala-System
       sei keineswegs Geschichte. „Alle bisherigen Fortschritte werden zunichte
       gemacht, wenn sich Katar damit zufriedengibt, dass viele Maßnahmen quasi
       nur auf dem Papier existieren und in der Praxis nicht umgesetzt werden“,
       sagt Katja Müller-Fahlbusch, AI-Expertin für die Region Naher Osten und
       Nordafrika. Anders als die Gruppen in der Schweiz und Österreich war AI
       Deutschland bis dahin etwas handzahm mit dem Turnier umgegangen, was zur
       Gründung einer oppositionellen Untergruppe führte, die allerdings nicht im
       Namen von Amnesty International sprechen kann. „Forty7Rights“ versammelt
       teilweise langjährige AI-Aktivisten und -Aktivistinnen, die mit der oft
       zögerlichen AI-Politik unzufrieden sind, gerade auch in der Katar-Frage.
       
       Beim Schönreden der Verhältnisse in Katar schoss Sylvia Schenk,
       Sportexpertin von Transparency International, den Vogel ab. Als im Frühjahr
       leichte Boykottstimmung aufkam, geriet die „agile Karrieristin und
       vermeintliche Korruptionsbekämpferin“ (11 Freunde) in Panik und ging die
       Nationalspieler heftig an. Diese hatten es sich erlaubt, vor einem
       WM-Qualifikationsspiel mit T-Shirts aufzulaufen, auf denen „Human Rights“
       geschrieben stand. Obwohl die Spieler auf einen direkten Bezug auf Katar
       verzichteten – für Schenk war bereits dieses oberflächliche Bekenntnis zu
       viel: „Es sollte doch wohl um die Migrantenarbeiter auf den Baustellen
       Katars gehen. Da gibt es keinen Grund für Protest.“
       
       Derartige Statements mögen die Fifa, den Emir in Doha, die deutsche
       Wirtschaft und die bundesdeutschen Katar-Lobbyisten (Sigmar Gabriel & Co)
       begeistern, nicht aber die streikenden und protestierenden Gastarbeiter,
       denen Schenk damit in den Rücken fiel.
       
       ## Keine Einzelfälle
       
       Schenk empfand die harmlose Aktion der Nationalspieler als störend. Wie
       überhaupt Verweise auf anhaltende Menschenrechtsverletzungen in Katar. Man
       solle sich „freimachen von Einzelfällen“, sagt sie. Für Schenk sind
       „Einzelfälle“ nur ein Ärgernis und müssen dem großen Ganzen geopfert
       werden.
       
       Für die Nationalspieler war diese Kritik eine völlig neue Erfahrung. In der
       Vergangenheit wurden sie eher dafür gescholten, dass sie sich nicht
       ausreichend zu gesellschaftspolitischen Themen äußern würden. Nun war das
       Gegenteil der Fall. Tatsächlich ist eine Reihe von Profis deutlich
       kritischer als mancher vermeintliche Menschenrechtsaktivist.
       
       Einer dieser „Einzelfälle“, die den Katar-Lobbyismus stören, ist Abdullah
       Ibhais. Im August 2019 demonstrierten in Katar Hunderte Gastarbeiter gegen
       ausbleibende Löhne, eingezogene Ausweispapiere und schlechte Unterbringung.
       Sie taten dies trotz Verbot.
       
       Vor einigen Wochen berichtete das norwegische Fußballmagazin Josimar, wie
       WM-Organisationschef Hassan Al-Thawadi eine Berichterstattung über
       ausbeuterische Arbeitsbedingungen auf WM-Baustellen verhindern wollte.
       Abdullah Ibhais, Kommunikationsdirektor des WM-Organisationskomitees, wurde
       zu fünf Jahren Haft verurteilt. Dem Jordanier wurde unter anderem
       Missbrauch von Geldern und Bestechung vorgeworfen.
       
       Die Wahrheit ist wohl, dass Ibhais Al-Thawadi widersprach, als dieser
       Berichte über die Streiks der um ihr Gehalt betrogenen Gastarbeiter
       unterdrücken wollte. Al-Thawadi hatte darauf gedrängt zu verbreiten, dass
       die Demonstrationen und Streiks nichts mit der WM zu tun hätten. Human
       Rights Watch und Fairsquare protestierten gegen das Urteil. Ansonsten
       herrschte peinliches Schweigen. Und die Fifa? Infantino & Co decken das
       Vorgehen des Regimes.
       
       ## Die Situation wurde immer schlechter
       
       Die renommierte Nichtregierungsorganisation Freedom House bewertete das
       politische System in Katar noch in den 1980er Jahren als „teilweise frei“;
       seither ist es konstant als „nicht frei“ eingestuft. Im „Demokratie-Index“,
       den die britische Zeitschrift The Economist ähnlich wie Freedom House
       jährlich und weltweit misst, dümpelt Katar seit Jahren konstant auf dem
       126. Platz und damit in der schlechtesten Kategorie „autoritäres Regime“.
       
       Noch aufschlussreicher ist das Urteil von „Reporter ohne Grenzen“. Als
       Katar 2008 seine Bewerbung für die WM startete, lag das Land im Ranking der
       Pressefreiheit auf einem soliden Mittelplatz: 74. von damals bewerteten 172
       Staaten. Seither ist Katar – parallel zu den sich entwickelnden
       internationalen Sportkontakten – kontinuierlich abgerutscht. Als der FC
       Bayern München 2011 erstmals sein Wintertrainingslager dort aufschlug, war
       es schon Platz 114. Und aktuell im Jahr 2021 liegt es auf Platz 128 (von
       180 Staaten). Die Bedingungen für die Medien haben sich also stark
       verschlechtert. Und im jüngsten Gay Travel Index, der jährlich
       veröffentlicht wird und der die Situation der LGBTIQ-Community weltweit
       bewertet, liegt Kanada ganz vorne. Und Katar? Auf Platz 190 (von 202).
       Immerhin knapp vor Afghanistan.
       
       Dass sich in Katar wenig verbessert hat, manches hat sich sogar
       verschlechtert, daran tragen die Fifa und die Schönredner:innen der
       Verhältnisse eine Mitschuld.
       
       Noch einmal: Selbstverständlich kann man einen Boykott der WM ablehnen. Es
       gibt Menschenrechtsorganisationen, die dies tun – und trotzdem weiterhin
       den Finger in die Wunde legen.
       
       Wer aber die Boykottforderung als störend beim Dialog mit dem Regime
       empfindet, hat wenig Interesse, Druck auf dieses auszuüben und tatsächlich
       etwas zu verändern.
       
       ## Dialog mit dem Regime
       
       Wie niedrig manche das Stöckchen halten, über das die Autokraten und
       Diktatoren springen sollen, demonstrierte erst kürzlich einmal mehr Sylvia
       Schenk in einem Extra der ARD-Sportschau zum Thema „Peking und Katar –
       Milliarden statt Moral?“ Als ein Pressemann des IOC begründen
       wollte/musste, warum das IOC im Zusammenhang mit der bevorstehenden
       Winterolympiade in Peking nichts zu den massiven Menschenrechtsverletzungen
       in China sagen will, stellte Schenk die „kritische“ Frage, ob denn
       sichergestellt sei, dass im Olympischen Dorf keine Produkte aus
       Zwangsarbeit zu finden seien. Soll das das Kriterium sein? Und was
       außerhalb des Olympischen Dorfes passiert, ist uns egal? Wer das Stöckchen
       dermaßen niedrig hält, kann mit jeder Diktatur der Welt ins Geschäft
       kommen, dem geht es in erster Linie um das Stattfinden der Veranstaltung.
       Hierfür werden Missstände klein- und Verbesserungen großgeredet.
       
       Menschenrechtler und ihre Organisationen können und müssen mit Regimen
       verhandeln. Sie dürfen aber nie Partner dieser Regime werden. Wie
       glaubwürdig ist eine International Labour Organisation (ILO), die Katar
       zunächst kritisierte, dann aber den Sound wechselte, als das Regime ein
       Kontrollbüro der Organisation in Doha finanzierte? Wer sich von autoritären
       Regimen subventionieren und hofieren lässt, ist nicht wirklich frei in
       seinem Urteil.
       
       Es geht um viel mehr als nur um ein Fußballturnier. Beteiligen wir uns am
       Downgrading der Bedeutung von Menschenrechten, assistieren wir autoritären
       Regimen beim Sportwashing, oder sind wir weiterhin bereit, den Finger in
       die Wunde zu legen? Eine Politik des Downgrading würde über die WM hinaus
       fatale Folgen zeitigen.
       
       20 Nov 2021
       
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