# taz.de -- Messerhändler über sterbende Betriebe: „Das Geschäft ist so gut wie tot“
       
       > Nach über 100 Betriebsjahren schließt Friedrich Jürges seinen Messer- und
       > Fleischereimaschinenhandel im Hamburger Schanzenviertel.
       
 (IMG) Bild: Friedrich Jürgens gibt einen 100 Jahre alten Familienbetrieb auf
       
       taz: Herr Jürges, kommen jetzt, wo Sie schließen, die Aasgeier in Ihren
       Laden? 
       
       Friedrich Jürges: Eigentlich erstaunlich wenig. Es gibt natürlich immer
       diese Couleur von Menschen, die dann irgendetwas kaufen, Hauptsache, es ist
       billig. Aber sonst hält es sich im Rahmen mit der Leichenfledderei. Viele
       sind uns ja seit ewigen Zeiten in irgendeiner Form verbunden. Viele bringen
       auch noch auf den letzten Drücker ihre Messer zum Schleifen.
       
       Wenn man an Ihrem Fenster vorbeiläuft und sieht, wie die Auslage immer
       leerer wird, fragt man sich schon, wie das für Sie ist, den Laden nach über
       100 Jahren Familienbetrieb zu schließen. 
       
       Wir haben uns ja lange mit der Situation vertraut gemacht. Mein Ladenleiter
       und meine Buchhalterin haben jeweils ihre 45 Berufsjahre schon zusammen.
       Und die haben mir schon vor Jahren erzählt, wie sie sich das vorstellen, zu
       welcher Zeit sie aufhören können. Und ich habe dann für mich selber
       ausgerechnet, dass ich dann 68 Jahre alt bin, und da macht es dann auch
       keinen Sinn mehr, mit neuen Leuten anzufangen. Ich habe probiert, jemanden
       zu finden, der das übernimmt, aber das ist so spezialisiert, was wir hier
       machen, da habe ich keinen gefunden.
       
       Warum nicht? 
       
       Es gibt ohnehin nur eine Handvoll Leute, die für eine Übernahme theoretisch
       infrage kommt. Die haben alle abgewinkt, weil die ein ähnlich gelagertes
       eigenes Geschäft haben und gar nicht in der Lage waren, hier in Hamburg
       auch wieder Leute abzustellen. Und da meine Kinder es auch nicht
       weitermachen wollten, war relativ schnell klar: das muss so zu Ende laufen.
       Das sieht natürlich ein bisschen traurig und wehmütig aus. Aber wir gehen
       hier ohne allzu große Schmerzen raus.
       
       Auf Ihrer Internetseite bieten Sie Fleischereimaschinen für
       Hausschlachtungen an. Als ich das las, dachte ich: Das klingt nach lange
       vergangenen Zeiten. 
       
       Vor 20 Jahren war Hausschlachtung fast völlig ausgestorben, auch durch alle
       möglichen Gesetzesverschärfungen, die das schwer gemacht haben. Aber in den
       letzten Jahren ist das in sehr kleinem Umfang doch wieder geläufiger
       geworden. Aber es wiegt bei Weitem nicht auf, was an klassischem Handel
       verloren gegangen ist. Nach dem Krieg haben sehr viele kleine Fleischereien
       angefangen, die dann auch alle selber produziert haben. In der Spitze gab
       es in Hamburg 1.000. Das heißt, da standen dann 5.000 Maschinen, die auch
       repariert werden mussten.
       
       Also goldene Zeiten? 
       
       Ja, bis Ende der 1960er, so hat mein Vater mir erzählt, da war die Spitze
       der Fleischerei erreicht, ab [1][da begann der Abschmelzungsprozess]. Die
       kleineren Firmen sind zugemacht worden und durch größere oder ganz große
       ersetzt worden. So eine riesengroße Fleischfabrik ersetzt 100 kleine. Die
       Supermärkte haben verstärkt angefangen, Fleisch zu verkaufen, und das ging
       dann ziemlich rapide, dass die Discounter den Handel übernommen haben.
       Fleisch ist dann richtig verramscht worden.
       
       Könnten Sie die großen Firmen auch mit Maschinen beliefern? 
       
       Die haben ihre eigenen Betriebsschlosser und kaufen ihre Sachen
       grundsätzlich nur über den Hersteller. Unsere Kundschaft, das waren immer
       die kleinen und mittelgroßen Betriebe.
       
       Was hat das für Sie bedeutet? 
       
       Wir haben uns in den späteren Jahren damit beholfen, dass wir sehr viel
       Gebrauchtmaschinenhandel betrieben haben, auch weltweit zum Teil. Wir haben
       20 Jahre parallel eine Werkstatt in Lettland geführt und haben dort auch
       für den osteuropäischen Markt Maschinen überholt und verkauft.
       
       Wie kamen Sie vom norddeutschen zum osteuropäischen Markt? 
       
       1992 sind da die großen Betriebe kaputtgegangen und aus einem großen
       Kombinat sind fünf kleine Betriebe entstanden. Es gab aber praktisch keine
       Maschinen für sie, weil das alles auf die großen Kombinate ausgerichtet
       war. Ich bin dann von den Partnern vor Ort angesprochen worden, ob das
       nicht ein Geschäftsmodell wäre. Dann haben wir in größerem Umfang die
       Maschinen dort hingebracht. Das ging einige Jahre sehr gut.
       
       Also die umgekehrte Bewegung zu der in Deutschland: Vervielfältigung statt
       Konzentration. 
       
       Das Geschäft lief sehr gut zwischen Mitte der 90er Jahre bis 2010. Aber
       inzwischen ist es auch so gut wie tot. Das hat damit zu tun, dass durch den
       starken Abschmelzungsprozess gar keine Maschinen mehr verfügbar sind. Wir
       konnten uns relativ lange über Wasser halten, weil wir durch die
       Betriebsauflösungen an die Maschinen gekommen sind und dann Wege gefunden
       haben, die zu renovieren und weiterzuverkaufen. Aber jetzt gibt es von den
       1.000 Geschäften noch 20, wo sollen da die Gebrauchtmaschinen herkommen?
       Und dann kamen die Förderprogramme der EU.
       
       War das schlecht oder gut für Sie? 
       
       Wenn wir in Lettland eine Maschine renoviert haben, dann mussten wir sie
       wirklich komplett nach der neuesten Norm umbauen. Dann kommen sie ungefähr
       auf ein Drittel vom Neupreis beim Verkauf. Die EU hat in den baltischen
       Staaten und auch in den Staaten, die in den letzten Jahren zur EU
       dazukamen, Förderprogramme entwickelt für neue Maschinen und bis zu 50
       Prozent Zuschuss gegeben. Das heißt, die Leute konnten für das halbe Geld
       Maschinen kaufen und deswegen ist das Geschäft am Ende kaputtgegangen. Die
       Differenz zwischen einer gebrauchten und einer neuen Maschine ist dann zu
       gering.
       
       Haben Sie Osteuropa in diesen Jahren richtig kennengelernt? 
       
       Ich war über lange Jahre eine Woche im Monat dort und kann ein bisschen
       Lettisch. Es war ein interessantes Leben, es war richtig wilder Osten,
       zumindest in den Anfangsjahren. Die baltischen Staaten wurden da erst
       gegründet und die neuen Grenzen hochgezogen. Es war eine wilde Zeit.
       
       Was war das Wilde daran? 
       
       Es war ein kompletter Bruch, aus einer Diktatur wurde eine Demokratie, es
       wurden neue Gesetze gemacht, alles wurde umgekrempelt. Manche Dinge wurden
       einfach im luftleeren Raum gemacht und keiner konnte einem sagen, ob das
       richtig oder falsch ist.
       
       Inzwischen ist in Deutschland die Fleischbranche [2][immer stärker in die
       Kritik] geraten. Was bedeutet das für Sie? 
       
       Der Fleischkonsum insgesamt ist ja rückläufig, seit einigen Jahren schon.
       Die Leute sind erschreckt durch die Art der Tierhaltung, zumindest in
       Teilbereichen. Es gibt durchaus auch Hersteller, die mit veganen Produkten
       angefangen haben.
       
       Könnten Sie rein theoretisch auch mit Ihren Maschinen die vegane Produktion
       beliefern? 
       
       Es sind ja insbesondere Zerkleinerungsmaschinen. Das heißt, man hat ein
       kompaktes Stück, das man verkleinern muss, und vegane Lebensmittel bestehen
       ja aus Pulver, da haben Sie diese Vorgänge nicht. Unser Geschäft hat sich
       insgesamt verändert, sonst hätten wir nicht so lange existieren können. Die
       Schlachter wurden weniger, aber parallel, der Wendepunkt war etwa 2000,
       wurden die Privatkunden ganz erheblich mehr. Mein Vater hatte noch so gut
       wie keine gehabt.
       
       Wollte er keine? 
       
       Schlachtmesser haben die Leute nicht gekauft und für die Kochmesser haben
       wir zwar ein bisschen Gewerbekundschaft gehabt, aber niemand hat damals 100
       Euro für ein Messer ausgegeben. Das ist erst richtig in Gang gekommen durch
       die Kochsendungen im Fernsehen. Es gab ja immer schon Kochsendungen, aber
       früher, als es drei Sender gab, war es nur eine. Jetzt sind es zwanzig. Und
       in den Kochsendungen wird ja grundsätzlich mit vernünftigem Werkzeug
       gearbeitet. Und da kommen viele Leute, die sagen: Ich hätte gerne ein
       Messer wie das, das ich in der Sendung gesehen habe.
       
       Ich persönlich glaube, dass vor allem Männer, die so ein gelegentliches
       Prunkkochen betreiben, teure Messer kaufen. Stimmt das? 
       
       Ja, das stimmt. Ich habe das insbesondere in der Coronazeit vergangenes
       Jahr gemerkt, als da der Zwang war, zu Hause selbst zu kochen. Da haben die
       Männer angefangen, bei Muttchen in der Schublade zu wühlen, und dann kamen
       sie hierher und sagten: „Jetzt brauche ich ein richtiges Werkzeug.“ Das hat
       noch einmal einen Schub gegeben.
       
       Ab wann wird es für Sie affig mit den Edelmessern im Privathaushalt? 
       
       Ich würde sagen, die Schallgrenze für das Hauptmesser liegt bei 100 Euro.
       70, 80 Euro geben die Leute für ein gutes Messer aus – alles über 100 Euro
       wird schwierig. Wir haben ein paar, die 200 Euro kosten, da merken Sie,
       dass es schon ganz erheblich weniger wird. Und alles was darüber
       hinausgeht, haben wir nur auf Bestellung verkauft. Das scheint mir auch
       nicht wirklich sinnvoll. Mit einem guten Gebrauchsmesser haben Sie schon 99
       Prozent der Möglichkeiten, und das letzte Prozent ist für mich Liebhaberei.
       Wenn Sie ein vernünftiges Gebrauchsmesser kaufen wollen, reicht es, 100
       Euro auszugeben, dann kriegen Sie ein super Messer, mit dem Sie
       jahrzehntelang klarkommen.
       
       Inzwischen wohnen in der Schanze die Besserverdienenden und Boutique reiht
       sich an Boutique. Stört Sie das? 
       
       Ich bin hier zur Schule gegangen, insofern kenne ich die Entwicklung. In
       den 60er Jahren war das eine sehr gemischte Struktur mit vielen Dingen für
       den täglichen Gebrauch. Rundherum waren hier zehn Fleischereien – alle
       nicht mehr da. Leute, die zum Teil Jahrzehnte hier waren, sind rausgedrängt
       worden durch die Mieten. Der Stahlwarenladen schräg gegenüber, der war auch
       Jahrzehnte da, der hat einfach keinen Nachfolger mehr gefunden.
       
       Fühlen Sie sich inzwischen fremd hier? 
       
       Ich bin ja mitgegangen und mitgewachsen. Ich kann es ohnehin nicht ändern.
       
       Wenn ich diese Läden sehe, dann denke ich: Diese Boutiquen verkaufen alle
       den gleichen Hipsterkram. 
       
       Ich bin da pragmatisch. Der klassische Handel kann einfach nicht mehr davon
       leben, und dann zieht man zwangsläufig Leute an, deren Gewinnmarge so ist,
       dass sie die Mieten zahlen können.
       
       Wie ist das bei Ihnen? Funktioniert es eigentlich als Geschäftsmodell,
       Messer zu verkaufen, die so haltbar sind, dass man eben nur nach zehn
       Jahren ein neues braucht, wenn überhaupt? 
       
       Der Markt ist ja groß, wenn Sie davon ausgehen, dass viele Leute immer noch
       keine guten Messer zu Hause haben. Bei Maschinen ist das anders. Aber uns
       gehört das Haus, das hat uns geholfen, die Kostenlage überblickbar zu
       halten. Wenn Sie sich umgucken, sitzen viele der Alteingesessenen auf
       eigenem Gelände.
       
       Sie saßen dann auch am längeren Hebel, als ein Investor sein Auge auf das
       Nachbargrundstück warf. 
       
       Das waren Versuche, möglichst alles komplett zu bebauen. Aber wir sind nie
       in ernsthafte Verhandlungen eingetreten, weil das, was uns geboten wurde,
       einfach uninteressant war. Wir sind ja, früher noch mehr als jetzt, an den
       Fleischmarkt hier im Viertel gebunden. Das heißt, ich kann jetzt nicht mal
       eben nach Altona oder Wandsbek gehen, weil die Kundschaft, die zu uns
       kommt, hier ist.
       
       Beim Vorbeigehen ist mir immer wieder die Bemalung an Ihrer
       Schaufensterscheibe aufgefallen: bunte, meereswesenartige Gebilde. Wie sind
       Sie dazu gekommen? 
       
       Da haben wir aus der Not eine Tugend gemacht. Vor 15 Jahren sind radikale
       Veganer durch Hamburg gezogen und haben sowohl Pelzgeschäfte angegriffen
       als auch Läden, die mit Fleischerei zu tun haben. Sie haben irgendeinen
       Säurekram gegen die Scheiben geworfen und damit verätzt. Danach habe ich
       mit der Versicherung telefoniert und die sagten: „Bruch wird bezahlt, Ätze
       nicht“.
       
       Und dann? 
       
       Wir haben überlegt, was wir machen, und während wir noch im
       Überlegungsprozess waren, kam eine Künstlerin und sagte: „Ich würde gern
       mal etwas darauf malen mit Wasserfarben – wenn es Ihnen nicht gefällt,
       können wir es gleich wieder abwischen.“ Das hat sie gemacht, man sah die
       Ätzstellen nicht mehr und eigentlich war es ganz originell. Dann haben wir
       sie gefragt, ob sie es auch mit Ölfarben machen kann, damit es beim
       nächsten Regen nicht abgewaschen wird. Sie hat gefragt, ob wir irgendwelche
       Vorgaben haben. „Nein“, habe ich gesagt, „so wie Sie es künstlerisch
       meinen, machen Sie es.“
       
       Hat Sie dieser Angriff der Veganer:innen beunruhigt? 
       
       Wir haben das nur durch die Polizei erfahren. Wir haben dann natürlich
       Anzeige erstattet. Die Polizei wusste aber, dass es auch acht andere
       Geschäfte getroffen hatte. Das war nichts Abschreckendes.
       
       Der Fleischkonsum wird immer kritischer gesehen, gleichzeitig heißt es in
       Texten über Ihren Laden, er habe Kultstatus. Wie geht das zusammen? 
       
       Wenn es um den Messerhandel geht: damit wird ja überwiegend Gemüse
       geschnitten. Aber der traditionelle Zweig, wo wir herkommen, die
       Fleischereimaschinen, macht nur noch 10 Prozent bei uns aus. Es gibt ja
       auch keinen Wettbewerb mehr. 1976, als ich angefangen habe, waren wir acht
       Mitbewerber. Da ist fast nichts von geblieben.
       
       Noch einmal zur Nachhaltigkeit Ihrer Waren: Bei Ihnen konnte man auch
       Messer schleifen lassen, das machte sie ja noch langlebiger. 
       
       Die Schleiferei gab es schon immer, die hat mein Großvater eingeführt, der
       Scherenschleifer aus Solingen war. Vor 100 Jahren wurden Scheren nicht
       industriell gefertigt, sondern waren sehr viel Handarbeit. Mein Großvater
       war im Ersten Weltkrieg in Hamburg stationiert, ist hiergeblieben und hat
       dann 1919 einen Schleifbetrieb gegründet, mit Stahlwarenhandel, also
       Bestecke und solche Dinge.
       
       Und wie kam die Familie von den Bestecken zu den Fleischereimaschinen? 
       
       Das hat mit der Nähe des Fleischmarkts zu tun. Tiere wurden damals
       verauktioniert und mein Großvater war in der Lage, Viehscheren zu
       schleifen, das sind ziemlich kompliziert gebogene Scheren, die man beim
       Schleifen leicht drehen muss. Da braucht man viel Gefühl, mein Großvater
       konnte das sehr gut. Und dann kamen die ersten Betriebe her, die mit
       Viehhandel zu tun hatten. Die Maschinen wurden erst nach dem Krieg
       entwickelt, dadurch kam mein Vater noch mehr mit den Fleischern in
       Berührung. Und nach dem Krieg gab es erheblich mehr Fleischer als davor.
       
       Was schneidet man eigentlich mit einer Viehschere? 
       
       Man hat damals die Tiere optisch schön gemacht, das heißt, sie haben das
       Fell geschnitten.
       
       So eine Art Friseurschere für Tiere? 
       
       Ja, zum Teil hat man auch Nummern in das Fell geschnitten.
       
       Haben Sie das noch miterlebt? 
       
       Nein, aber ich kenne die Geschichten. Mein Vater hat alles aufgeschrieben
       und mir erzählt, und ich kannte meinen Großvater noch. Ich bin damit
       aufgewachsen, ich bin ja schon als Vierjähriger hier rumgelaufen.
       
       Sie tragen denselben Vornamen wie Ihr Vater und Ihr Großvater. Ist das
       neben allem Familiensinn nicht auch unpraktisch? 
       
       Weil die Kunden nachgefragt haben, haben wir dann Friedrich Jürges I und II
       dazugeschrieben. Es ist bei uns sogar in der vierten Generation so.
       Manchmal haben wir uns einen Spaß damit gemacht und Sachen für den anderen
       unterschrieben, harmlose Sachen, keine Urkundenfälschung. Ich werde mit der
       Folge aber brechen, ich habe nur Töchter.
       
       Auch dieses Ende einer Tradition scheinen Sie gelassen zu sehen. 
       
       Töchter zu haben, ist trotzdem etwas Schönes.
       
       15 Nov 2021
       
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