# taz.de -- Afghan*innen in der Türkei: Flucht in die Perspektivlosigkeit
       
       > Zehntausende Geflüchtete aus Afghanistan leben in der Türkei. Aktuell
       > blüht das Schleppergeschäft wieder. Viele landen in der Illegalität.
       
 (IMG) Bild: Viele Geflüchtete haben Angst, von der türkischen Polizei aufgegriffen zu werden
       
       Istanbul taz | Aman ist müde, als wir ihn nach Einbruch der Dunkelheit in
       einem staubigen Stadtpark in Istanbul treffen. Seit er aus Afghanistan
       geflohen ist, schuftet er für einen Hungerlohn. „Ich arbeite schwarz, zwölf
       Stunden am Tag, und mache Hosen kaputt“, erzählt der 22-Jährige, „für 100
       Lira.“ Auf einem Video, das er auf seinem Handy zeigt, schmirgelt er Jeans
       ab. So gibt er neuer Kleidung den angesagten „used look“.
       
       Viele der Afghan*innen in der Türkei sind nicht erst nach der
       [1][Machtübernahme der Taliban im August], sondern schon vor Jahren vor den
       Islamisten geflohen. Aman kam vor drei Jahren ins Land. Nach UN-Angaben
       sind knapp 130.000 Afghan*innen in der Türkei registriert, doch die Zahl
       derer, die sich illegal aufhalten, dürfte weitaus höher sein. Die türkische
       Regierung spricht von etwa 500.000 Afghan*innen im Land.
       
       Obwohl sie in der Türkei Geflüchtete dritter Klasse sind, zwingt die Armut
       viele, im Land zu bleiben. Registrieren lassen können sich die
       Afghan*innen zwar, doch ist dies nicht einfach: „Kayseri zum Beispiel
       hat die Registrierungsbüros geschlossen, nachdem Kabul eingenommen wurde“,
       sagt Ali Hekmat von der NGO Afghan Refugees Solidarity Association. In
       Ankara, Istanbul, Izmir und Antalya könnten sich Flüchtlinge schon seit
       Jahren nicht mehr registrieren lassen. Diejenigen, die es dennoch schaffen,
       bekommen lediglich eine Aufenthaltsgenehmigung. Arbeiten dürfen sie, anders
       als die Syrer*innen, nicht.
       
       Wie Aman sind auch Usman und seine Freunde Yasin und Enyat schwarz in der
       Istanbuler Kleidungsindustrie untergekommen. Auch sie treffen wir in dem
       kleinen Stadtpark, einer Mischung aus Beton, Spielplatz und ausgetrockneten
       Rasenflächen. Die drei sind neu in der Metropole am Bosporus. Kurz vor der
       Eroberung Kabuls sind sie vor den Taliban geflohen.
       
       In Usmans Heimatstadt nahe der pakistanischen Grenze hatten die Taliban da
       schon längst die Kontrolle übernommen. Zu Fuß durchquerten die drei Freunde
       den Iran und schafften es nach mehr als 30 Tagen über die Grenze in die
       türkische Provinz Van. Über 1.000 US-Dollar zahlten sie pro Kopf für den
       beschwerlichen Weg, den sie mit Hilfe eines Schmugglers zurücklegten.
       
       ## Die Türkei baut eine Mauer
       
       Seit dem Machtwechsel in Kabul blüht das Geschäft der Schlepper. „Allein
       innerhalb [2][Afghanistan]s haben sich die Preise für Busse an die
       iranische Grenze fast verdoppelt“, erklärt der türkische Migrationsforscher
       Hidayet Sıddıkoğlu, der in Kabul zu afghanischen Binnenvertriebenen
       forscht. Während Tausende Menschen täglich versuchen, in die Türkei zu
       gelangen, rüstet das türkische Militär auf. Mit Drohnen, Stacheldraht,
       Grenztürmen und einer sich noch im Bau befindlichen Grenzmauer zum Iran
       versucht Ankara sich abzuschotten.
       
       „Wir werden unsere Arbeiten intensivieren und klarmachen, dass unsere
       Grenzen unüberwindbar sind“, gab der türkische Verteidigungsminister Hulusi
       Akar kürzlich in einem [3][Interview] zu verstehen. Die Bauarbeiten laufen
       auf Hochtouren. Insgesamt sollen 295 Kilometer Mauer gebaut werden. Laut
       dem britischen Guardian sollen für den Schutz der östlichen Grenze auch
       EU-Gelder zur Verfügung gestellt werden. So wurde auch bereits der Bau
       einer [4][Mauer an der türkischen Grenze] zu Syrien mitfinanziert.
       
       „Die Menschen legen ihr Leben in die Hände von Schleppern und haben keine
       Angst vor irgendeiner Mauer“, sagt Migrationsforscher Sıddıkoğlu, „der
       Mauerbau wird die Migration verstärken, weil die Menschen aufbrechen
       werden, bevor die Grenze komplett geschlossen ist.“
       
       Nachdem Usman, Yasin und Enyat es über die gut gesicherte Grenze geschafft
       hatten, nahmen sie von der Provinz Van aus den Landweg. Wie die meisten
       durchquerten sie die karge Region schnell weiter Richtung Westtürkei. Dort
       ist unter anderem die Aussicht auf Arbeit in einer der Großstädte besser.
       
       Als wir Usman, Yasin und Enyat das erste Mal treffen, verlassen sie gerade
       einen Barbershop. Die jungen Männer leben wie Aman, der für einen
       Hungerlohn Hosen kaputt macht, im Stadtteil Küçükköy, der bekannt ist für
       seinen Arbeiterstrich. Auch alle anderen Afghanen, die wir im nahegelegenen
       Park treffen, arbeiten schwarz in der Kleidungsindustrie. Dort finden sie
       schnell einen Job. „Die erste Phase der Flucht endet in der Türkei, die
       Menschen bleiben hier und arbeiten, verdienen etwas Geld und ziehen
       weiter“, erklärt Sıddıkoğlu.
       
       Eine langfristige Perspektive aber bietet die Türkei für sie nicht.
       Afghan*innen werden ausgebeutet, bekommen einen Bruchteil des Gehalts
       eines türkischen Arbeiters. Die türkische Wirtschaft befindet sich schon
       seit Jahren in einer Krise. Die Inflationsrate lag im September bei fast 20
       Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. Die Preise für Grundnahrungsmittel
       steigen, was vor allem die Mittellosen trifft.
       
       Er verdiene 30 Lira pro Tag, umgerechnet 2,70 Euro, erzählt der 17-jährige
       Enyat. Sechs Tage die Woche arbeite er in der Kleiderfabrik. Die
       Nachtschichten gehen von zwanzig Uhr bis drei Uhr morgens. Das Geld reicht
       gerade für das Nötigste. Mit elf anderen Afghanen teilt er sich eine kleine
       Wohnung.
       
       Aman erzählt, er schicke den Großteil seines Gehalts zu seiner Familie nach
       [5][Afghanistan]. Von dem was übrig bleibt, zahle er seine Miete.
       Schlussendlich habe er am Tag 2,30 Euro um zu überleben. „Wenn davon noch
       etwas übrig ist, spare ich es für den Schmuggler in die EU.“ Auch er will
       auf Dauer nicht in der Türkei bleiben.
       
       Er habe zuletzt versucht vor einem Jahr weiterzukommen, sagt Aman. „Ich war
       kurz vor Thessaloniki. Die griechische Küstenwache hat unser Boot auf dem
       offenen Meer zurückgedrängt.“ Laut Menschenrechtsorganisationen sind diese
       illegalen Pushbacks kein Einzelfall. Sie verstoßen gegen die
       EU-Grundrechts-Charta und die Genfer Flüchtlingskonvention.
       
       Zurück auf dem türkischen Festland schaffte es Aman, der Polizei zu
       entkommen. Die 2.000 Dollar, die er dem Schlepper für die Überfahrt nach
       Griechenland gezahlt hatte, waren weg – wie auch Amans Hoffnung. Er landete
       wieder in Istanbul, wieder in derselben Kleiderfabrik, wieder schmirgelte
       er in Zwölfstundenschichten.
       
       ## Fluchtursache Armut
       
       Alle jungen Männer, die wir in Küçükköy treffen, erzählen, sie seien nicht
       nur vor den Taliban geflohen, sondern auch wegen der Perspektivlosigkeit
       und Armut in Afghanistan. „Selbst diejenigen, die ihren Abschluss an
       berühmten Universitäten wie der American University in Kabul machten,
       fanden keine Jobs“, sagt Sıddıkoğlu, „aber sie hatten jedenfalls die
       Hoffnung darauf. Diese haben die Taliban nun auch zerstört.“
       
       In der Türkei sind sie nun zwar sicher vor den Taliban, doch auch hier
       leben sie in Furcht. „Wenn ich die Polizei auf meinem Weg zur Fabrik sehe,
       mache ich einen Umweg“, erzählt Usman. „Ich habe immer Angst, festgenommen
       zu werden.“ Er trifft sich oft nach Einbruch der Dunkelheit mit seinen
       afghanischen Freunden in dem Stadtpark. Alle, die hier gestrandet sind,
       versuchen, im Verborgenen zu leben.
       
       Obwohl er erst kurz in der Türkei ist, kennt Usman bereits Afghanen, die im
       Gefängnis gelandet sind. Die türkische Regierung will die illegal im Land
       lebenden Afghan*innen erst einsperren und dann zurück nach Afghanistan
       schicken, doch mit der Machtübernahme der Taliban konnten die
       Abschiebeflüge nicht mehr in Kabul landen.
       
       Greift türkisches Militär Geflüchtete in den Grenzregionen auf, werden sie
       oft direkt in den Iran zurückgedrängt. „Wer entdeckt wird, wird
       festgenommen und in ein Abschiebelager gesteckt. Dort müssen die Menschen
       ihre biometrischen Daten abgeben. Danach werden sie in Gruppen nachts in
       den Iran zurückgedrängt“, berichtet Ali Hekmat. Damit wird den
       Schutzsuchenden ihr Recht auf Asyl verwehrt.
       
       Human Rights Watch bestätigte diese illegalen Pushbacks in einem Mitte
       Oktober veröffentlichten [6][Bericht]. Zudem hätten türkische Soldaten an
       der iranischen Grenze afghanische Geflüchtete schwer misshandelt. Die
       Menschenrechtsorganisation fordert von den EU-Staaten, der Türkei den
       Status des sicheren Drittstaats für Afghan*innen abzuerkennen.
       
       Mit den Festnahmen und Zurückweisungen will die Regierung in Ankara
       klarmachen, dass Geflüchtete in der Türkei nicht mehr willkommen sind. Zu
       den Menschen aus Afghanistan kommen mehrere Millionen Geflüchtete aus
       Syrien. Im Jahr 2019 lebten nach Expertenangaben 3,6 Millionen
       Syrer*innen im Land, wobei unklar ist, wie viele mittlerweile
       zurückgekehrt sind.
       
       Kurz nach der Eroberung Kabuls treffen wir Aman erneut. Dieses Mal
       allerdings per Videocall, wir wollen über die neue Situation reden. „Ich
       hätte nie gedacht, dass die Taliban Kabul einnehmen würden“, konstatiert
       er. Als Aman 2018 floh, hatten diese gerade sein Dorf in der Provinz
       Nangarhar übernommen. Er habe Angst gehabt, nach Schulende von den Taliban
       rekrutiert zu werden und mit Waffen gegen die Regierung kämpfen zu müssen.
       
       Diesem Schicksal ist er entflohen. Auch der Armut in Nangarhar, der
       zweitärmsten Provinz Afghanistans, ist er entkommen. Doch nach drei Jahren
       als illegaler Arbeiter in der Türkei bleiben seine Zukunftswünsche
       unerfüllt – in Sicherheit leben, heiraten, ab und zu Cricket spielen und
       wieder mit der Familie zusammenleben.
       
       Mitarbeit: Mohammed Naeem Faizie
       
       28 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Evakuierung-aus-Afghanistan/!5792627
 (DIR) [2] /Schwerpunkt-Afghanistan/!t5008056
 (DIR) [3] https://www.hurriyetdailynews.com/turkeys-defense-chief-inspects-measures-taken-on-iran-border-167077
 (DIR) [4] https://www.spiegel.de/international/world/firing-at-refugees-eu-money-helped-fortify-turkey-s-border-a-1199667.html
 (DIR) [5] /Schwerpunkt-Afghanistan/!t5008056
 (DIR) [6] https://www.hrw.org/news/2021/10/15/turkey-soldiers-beat-push-afghan-asylum-seekers-back-iran
       
       ## AUTOREN
       
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