# taz.de -- Historiker über 32 Jahre Mauerfall: „Nicht nur friedlich“
       
       > Der Historiker Patrice Poutrus plädiert dafür, die Konfliktgeschichten zu
       > erzählen. Und heutige Probleme in Ostdeutschland klar zu benennen.
       
 (IMG) Bild: Jugendministerin Angela Merkel im Gespräch mit rechten Jugendlichen in Rostock 1992
       
       taz am wochenende: Herr Poutrus, Anlass für dieses Gespräch sind 32 Jahre
       friedliche Revolution in Deutschland. Was wäre ein angemessener Umgang mit
       diesem Jahrestag? 
       
       Patrice Poutrus: Das ist schwer zu sagen. Wende, Umbruch, friedliche
       Revolution, deutsche Einheit, Wiedervereinigung, Einheitskrise, Ausverkauf,
       Transformation – es gibt in der deutschen Gesellschaft schon mal gar keinen
       Konsens, wie man dieses Ereignis nennen soll, welcher Prozess damit
       umschrieben wird und wie man das bewertet. Ich finde das auch gar nicht
       schlimm. Es machte schließlich einen erheblichen Unterschied, ob jemand in
       der Stasi-Zelle gesessen hat oder ob man deren Schließer war, ob
       Grenzsoldat oder Ausreisender, ob man SED-Mitglied war – wie ich – oder in
       der Opposition. Das geht nicht alles unter einen Hut und kann auch nicht in
       eine Erzählung passen.
       
       Wie nennen Sie die Massendemonstrationen, in deren Folge am 9. November die
       Mauer fiel? 
       
       Das war eine Revolution, aber die war meines Erachtens in ihrem Verlauf und
       ihren Auswirkungen nicht nur friedlich. Auf manchen Montagsdemos kam es
       schon sehr früh zu ausländerfeindlichen Forderungen, insbesondere an Orten,
       wo Vertragsarbeiter*innen beschäftigt waren. Später, und keineswegs
       erst auf Forderung der Treuhand, wurden deren Wohnheime geschlossen,
       Arbeitsverträge aufgelöst, Kopfprämien für Rückreisen gezahlt. Das alles
       war begleitet von einem zusehends offen feindseligen bis gewalttätigen
       Klima gegenüber den Vertragsarbeiter*innen. Das Ergebnis war, dass im
       Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit 1990 befürchtet wurde, dass es zu
       schweren Ausschreitungen gegenüber Ausländer*innen kommen würde.
       
       Was ist ab 1989 sichtbar geworden? 
       
       Es wird viel zu wenig davon gesprochen, dass es 89/90 eine nationalistische
       Wende gegeben hat, die schließlich zur deutschen Einheit geführt hat. Das
       Denken in nationalistischen, chauvinistischen und rassistischen Kategorien
       war in der DDR keineswegs überwunden. Die Behauptung einer „Stunde null“
       war die beste Voraussetzung dafür, dass Leute sich nicht fragen mussten:
       Was ist denn der Nationalsozialismus jenseits seiner Verbrechen noch
       gewesen? Welche Vorstellungen von Volk und Welt, von guter Ordnung und
       Hierarchien hängen damit zusammen? Schließlich trat 89/90 offen hervor, wie
       mit Differenz in der DDR umgegangen wurde: mit Ausgrenzung und Gewalt.
       
       Haben Ostdeutsche – grob vereinfacht – bis heute ein Problem mit Differenz? 
       
       Ja, überwiegend. In den Diskussionen, die wir für ein Forschungsprojekt in
       Erfurt führen, höre ich immer mal Sätze wie: „Dann habe ich wohl in einer
       anderen DDR gelebt als Sie.“ Ich sage mittlerweile: „Ja, das war wohl so.“
       Und dann setzt das eigentliche Erstaunen erst ein. Viele Leute können sich
       schwer vorstellen, dass Menschen an anderen Orten mit anderen Erfahrungen
       andere Geschichten über die gleiche Zeit zu erzählen haben. Das geht über
       die Frage von Fremdheit oder Rassismus hinaus. Soziale und auch kulturelle
       Differenz galten in der DDR insgesamt als problematisch. Ob es sich nun um
       Jugendrebellion handelte, bestimmte Lebensformen oder die Frage, wer
       arbeitsfähig war und wer nicht – wer anders war, wurde vom SED-Staat sehr
       rabiat behandelt oder auch bekämpft, und das oft mit der Zustimmung der
       Mehrheitsbevölkerung.
       
       Diese Vereinheitlichung in der DDR romantisieren Leute in und aus
       Ostdeutschland gerne mit „Wir waren alle gleich“. Wie kann man über die
       Differenz in Austausch kommen? 
       
       Die Erinnerungskultur in Deutschland läuft ja nicht erst seit 1945 auf
       Homogenisierung hinaus. Das hat sehr viel mit der Meistererzählung des
       deutschen Nationalismus zu tun. Deshalb ist es nicht verwunderlich,
       [1][dass auch viele Ostdeutsche auf so eine vereinheitlichende Erzählung
       zurückgreifen]. Davon gilt es sich zu verabschieden und auch von der
       Vorstellung, dass Differenz und Streit darum etwas Schlechtes wären.
       Insbesondere in der Geschichtswissenschaft – meiner Disziplin – sollten
       eher Konfliktgeschichten erzählt werden statt harmonisierende Aufstiegs-,
       Fortschritts- oder Integrationsgeschichten. Es muss Beachtung finden, unter
       welchen Bedingungen, um welchen Preis und auch mit welchen Verlusten die
       deutsche Gesellschaft an den Punkt gekommen ist, an dem sie sich heute
       befindet.
       
       Bei der letzten Bundestagswahl bekam die AfD in Sachsen 24,6 Prozent, in
       Thüringen 24 Prozent der Zweitstimmen. Würden Sie wie der bisherige
       [2][Ost-Beauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz] sagen: Wer jetzt
       noch AfD wählt, nach allem, was wir von der Partei wissen, ist für die
       Demokratie verloren? 
       
       Das glaube ich, ja. Die AfD ist eine demokratiefeindliche Partei in ihrem
       Zusammenspiel zwischen parlamentarischem Populismus und
       außerparlamentarischem Rassismus. Und für mich ist klar: Die AfD ist in den
       Bundesländern am stärksten geworden, wo ihr über Jahre am weitesten
       entgegengekommen wurde. Und interessant ist ja, wie mit Wanderwitz in der
       CDU Sachsen umgegangen wird. Da redet jemand endlich Tacheles über die
       Gefahren für die Demokratie in Ostdeutschland und dann wird der Mann derart
       angegangen und abserviert. Das erklärt für mich anschaulich, warum es in
       Sachsen so ist, wie es ist.
       
       In Sachsen gab es viel Aufregung um Wanderwitz. Dabei könnte man als
       eine*r von 75 Prozent, die nicht AfD gewählt haben, auch sagen:
       interessante These. Aber viele haben das Gesagte persönlich genommen und
       sich angegriffen fühlt. Wo kommt diese Empörung her? 
       
       Die Empörung ist Teil des ostdeutschen Diskurses und hat mit einer
       bestimmten Haltung zu tun: „Ich bin nicht deiner Meinung und deshalb hast
       du kein Recht, in der Öffentlichkeit so zu reden.“ Diese Haltung hat sich
       verfestigt und da sind wir meines Erachtens auch bei den rassistischen
       Übergriffen der 90er Jahre. Die vorherrschende Diskussion ging immer in die
       Richtung, dass man die virulente Gewalt nicht überbetonen dürfe. Das ist
       aber genau der Modus, in dem jetzt mit den Aussagen von Wanderwitz
       umgegangen wird. Man setzt sich nicht mit den Aussagen selbst auseinander,
       sondern versucht sie irgendwie abzudrängen. Das muss sich ändern. Die
       weitere Demokratisierung des Ostens erfordert mehr als allein die
       Angleichung von Löhnen und Renten.
       
       Inwiefern? 
       
       Niemand wird ein rassistischer Straftäter, weil er oder auch sie arbeitslos
       wurde. Und umgekehrt werden Rassist*innen nicht damit aufhören, welche
       zu sein, weil sie in Arbeit kamen oder sind. Auch die Kriminalstatistiken
       bestätigen diese simple Annahme nicht. Wir müssen vielmehr aufhören, rechte
       Straftäter*innen und Aktivist*innen ständig zu ermutigen. Das
       geschieht aber, wenn im Umgang mit diesen Leuten die Position „Eigentlich
       habt ihr recht, Jungs, aber das ist jetzt ein bisschen eklig“ offen oder
       unterschwellig gezeigt wird. Das ist die Art, wie rassistische Angriffe
       seit 30 Jahren kommentiert werden. Leute, die kritisiert werden wegen
       menschenfeindlicher Ansichten oder Taten, sind nicht die Opfer des
       „Mainstream“.
       
       Im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP steht: „Auch mehr als 30 Jahre
       nach der friedlichen Revolution bleibt es unverändert Aufgabe, die innere
       Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden.“ Wie soll das gehen? 
       
       Ich habe keine Ahnung – und nach drei Jahrzehnten „Aufbau Ost“ halte ich
       das für eine Leerformel. Ökonomische Unterschiede hat es in der
       Bundesrepublik immer gegeben. Bremen, Gelsenkirchen oder Saarbrücken sind
       halt nicht Hamburg, Stuttgart oder München. Der reiche „Westen“ versus der
       arme „Osten“ ist eine wirklichkeitsferne Betrachtungsweise der
       Verhältnisse. So werden Illusionen geschürt, die diejenigen stärken, die
       ein autoritäres, chauvinistisches und rassistisches Angebot machen. Die
       politische Rechte hat ziemlich gut erkannt, dass Ostdeutschland für sie das
       Feld wird, in dem sie sich tief eingraben können.
       
       Was sollte die neue Regierung tun? 
       
       Neben einer auf Ausgleich ausgerichteten Sozialpolitik muss eine
       Auseinandersetzung geführt werden um die in der Verfassung
       niedergeschriebenen Grundwerte. In diesem Zusammenhang würde ich mir
       wünschen, dass die Bundeszentrale für politische Bildung vom
       Bundesinnenministerium gelöst wird. Es macht einen Unterschied, ob für eine
       demokratische Kultur gestritten werden soll oder ob Ruhe und Ordnung das
       übergeordnete Ziel ist. Auch sollte darüber nachgedacht werden, wie die
       staatlichen Institutionen in Ostdeutschland weiter demokratisiert werden
       und dafür der notwendige Nachwuchs auch vor Ort ausgebildet wird. Für diese
       Aufgabe sind die ostdeutschen Universitäten aber überwiegend
       unterfinanziert. Ob es dafür alte und teure Ideen für neue Symbolorte oder
       ein außeruniversitäres Institut für Transformationsforschung braucht – das
       bezweifle ich.
       
       Was braucht es stattdessen? 
       
       Eine anspruchsvolle Ausbildung von zukünftigen Lehrer*innen,
       Jurist*innen und anderem Personal des öffentlichen Dienstes basiert auf
       Hochschulen, die eine gesicherte Ausstattung besitzen und hochqualifizierte
       Forschung, gerade in den Geisteswissenschaften, ermöglichen. Das kostet
       Geld. Geld, das nicht allein vom Bund kommen kann, sondern auch von den
       Ländern kommen muss. Ich habe aber den Eindruck gewonnen, dass die
       Ost-West-Debatte den Verantwortlichen in Ostdeutschland sehr entgegenkommt,
       weil so nämlich über konkrete Zuständigkeiten nicht geredet werden muss,
       sondern über die „bösen Westdeutschen“. Wie soll die virulente
       Wissenschaftsfeindlichkeit, die in der Pandemie überdeutlich wurde,
       überwunden werden, wenn die Orte der Wissenschaft in Ostdeutschland selbst
       keine hinreichende Wertschätzung erfahren? Wir müssen eine politische
       Kultur entwickeln, die sich von der unterscheidet, die die Rechten
       präferieren, nämlich autoritär und homogenisierend.
       
       Innerhalb der Linken gibt es auch immer wieder den Wunsch nach mehr
       Homogenität, weil aus dem gegenseitigen Kritisieren keine breite
       gesellschaftliche Kraft entstehen könne. 
       
       Es muss diese linke Kritik aber geben. Auch in antirassistischen Bewegungen
       gibt es autoritäre Tendenzen nach dem Motto: Wir sind die Hegemonen von
       morgen. Davon verspreche ich mir überhaupt nichts. Ich finde es wichtiger,
       Konflikte offenzulegen. Vom Nichtstreiten profitieren nur diejenigen, die
       ohnehin in starken Positionen sind. Dass gesellschaftliche Veränderung zu
       einem Abschluss kommen könne und dann ist alles gut – daran glaube ich
       nicht.
       
       Dazu fällt mir der Begriff Plateauillusion ein: die Idee, dass man in
       Veränderungsprozessen irgendwann irgendwo ankommt, wo man sich ausruhen
       kann. Aber dieses Plateau gibt es nicht. 
       
       Ja genau. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich mittlerweile ein alter
       Sack bin, aber die Vorstellung, dass man gesellschaftlich so eine Art
       Urlaubsstadium erreichen könnte, ist Quatsch.
       
       9 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Debatte-30-Jahre-deutsche-Einheit/!5714410
 (DIR) [2] /Ost-CDU-vor-der-Sachsen-Anhalt-Wahl/!5772802
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Gottschalk
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Deutsche Einheit
 (DIR) Mauerfall
 (DIR) Schwerpunkt Neues Deutschland
 (DIR) Wende
 (DIR) DDR
 (DIR) IG
 (DIR) GNS
 (DIR) wochentaz
 (DIR) DDR
 (DIR) DDR
 (DIR) DDR
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Potsdam
 (DIR) Mauerfall
 (DIR) Mauerfall
 (DIR) 30 Jahre friedliche Revolution
 (DIR) Berlin
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Rassistische Ausschreitungen in Erfurt: Vom Verschwinden des 10. August
       
       Vor 50 Jahren jagten mehrere hundert Menschen algerische Vertragsarbeiter
       durch Erfurt – doch aus dem öffentlichen Bewusstsein ist das wie
       ausradiert. Was erzählen die Männer, die sich damals wehrten?
       
 (DIR) DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz gestorben: Ein fantasievoller Pragmatiker
       
       Der frühere DDR-Bürgerrechtler und langjährige Grünen-Abgeordnete Werner
       Schulz ist tot. Deutschland verliert mit ihm eine wache, kritische Stimme.
       
 (DIR) Ehemaliger DDR-Bürgerrechtler: Werner Schulz gestorben
       
       Schulz prägte die Oppositionsbewegung der DDR, später saß er für die Grünen
       im Bundestag. Am Mittwoch starb er während einer Veranstaltung im Schloss
       Bellevue.
       
 (DIR) DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam: Urlaub mit bösen Folgen
       
       Seit mehr als dreißig Jahren lebt und arbeitet Pham Phi Son in Sachsen.
       Chemnitz will den ehemaligen DDR-Vertragsarbeiter abschieben. Warum?
       
 (DIR) Neuer Ostbeauftragter Carsten Schneider: Verlorenes Vertrauen
       
       Durch die Pandemie schrumpft das Vertrauen in Politik, Medien und
       Wissenschaft. In Ost- und Westdeutschland.
       
 (DIR) Potsdam bekommt keine Förderung mehr: Es liegt nicht mehr im Osten
       
       Weil sich Potsdam wirtschaftlich zu gut entwickelt, soll es künftig weniger
       Fördergeld geben. Das hat teure Nebenwirkungen für die Stadt.
       
 (DIR) 60 Jahre Mauerbau: Mauer in der Stadt, Mauer im Kopf
       
       Die Diskussion „Wir und die Anderen“ bringt Erstaunliches zu Tage. Zum
       Beispiel, dass es vorm Mauerfall auch türkische Hausbesetzer*innen gab.
       
 (DIR) Dokument der Wende: The Revolution Has Been Televised
       
       Aram Radomski war 1989 zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Ohne ihn hätte
       es die Bilder von den Montagsdemos in Leipzig vielleicht nie gegeben.
       
 (DIR) Forschungsprojekt zu DDR-Unrecht: Leid, das bis heute anhält
       
       Welche Langzeitfolgen hatten Überwachung, Verhöre und Zersetzung in der
       DDR? Ein Forschungsverbund will dies nun untersuchen.
       
 (DIR) Berliner Stadtgeschichte: Die Ohren auf dem Lüftungsgitter
       
       Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Bis in die Musik
       hinein hat die Teilung Berlins die Stadt geprägt.