# taz.de -- Künstliche Intelligenz in der Kunst: Tanzen nach Zahlen
       
       > Wenn Künstliche Intelligenz die Schritte lenkt: Die Choreografie für das
       > Stück „Deep Dance“ stammt von einem neuronalen Netzwerk.
       
 (IMG) Bild: Maschinendenken für Menschen verstehbar gemacht: Strichmännchen zeigen die Bewegungsfolgen
       
       Dass menschengemachte Maschinen unterhaltsam tanzen können, hat der
       US-Roboterhersteller Boston Dynamics gerade erst bewiesen: Zwei Humanoide,
       ein Roboterhund und ein Logistikroboter [1][hüpfen in einem Video vom
       vergangenen Dezember] munter zu schmissiger Musik herum, damit bloß keiner
       denkt, die Dinger und ihre immer autonomer und dabei auch noch vernetzt
       entscheidenden Elektronenhirne seien irgendwie bedrohlich.
       
       Und dass künstliche Intelligenz zwar noch ziemlich schlecht darin ist, aus
       Bewegungsmustern von Tanzenden ein bestimmtes Musikgenre abzuleiten, dafür
       aber überraschenderweise in der Lage ist, einzelne [2][Menschen an ihren
       charakteristischen Tanzbewegungen zu erkennen], haben finnische
       Forscher:innen schon ein Jahr zuvor herausgefunden. Nur beim Heavy Metal
       klappt das nicht. Zumindest im finnischen Sample gilt also offenbar: Beim
       Headbangen gibt es keine Individuen mehr.
       
       Noch ein Jahr zuvor haben Forscher:innen der University of California
       ein Deep-Learning-System entwickelt, das auf der Grundlage relativ mies
       getanzter Laien-Performances und großartig getanzter Videosequenzen
       professioneller Tänzer:innen [3][den ungelenken Laien-Stil ganz massiv
       verbessern kann] – jedenfalls im dann errechneten Video. Dafür muss man
       allerdings damit leben können, dass dabei zumindest vorübergehend und
       virtuell auch mal ein Körperteil verloren geht.
       
       Mit dem Zusammenhang von Tanz, Software und Technologie beschäftigt sich
       auch der Hamburger Choreograf [4][Jascha Viehstädt] schon länger, gemeinsam
       mit der offenen Formation [5][Costa Compagnie], dem Regisseur Felix
       Meyer-Christian und dem Künstler und Ingenieur Erik Kundt.
       
       ## Tänzer:innen befolgen digitale Befehle
       
       2018 entwickelten sie zusammen etwa die Performance [6][„Ok, Google“] rund
       um den und mit dem Stimmassistenten des Tech-Konzerns. Fünf
       Performer:innen unterhalten sich in einer Choreografie live auf der
       Bühne mit Googles Servern über alle möglichen Aspekte eines immer
       technoider werdenden Alltags, Googles Smart-Home-Assistent steuert dazu
       Licht und Ton der Performance.
       
       Für „Deep.Dance“ nun hat Viehstädt gemeinsam mit einem Team von
       Künstler:innen eine komplette Choreografie durch ein [7][künstliches
       neuronales Netzwerk] erstellen lassen, das sie eigens dafür programmiert
       haben. Drei Tänzer:innen führen sie bis ins letzte Detail aus.
       
       Auf diese Weise werde ein eindringlicher Blick auf eine sonst hermetisch
       abgeschlossen scheinende „hyperlogische Welt des Codes“ möglich, erklärt
       die Webseite zum Projekt. Auf der finden sich neben einem [8][Video der
       einstündigen Performance], das noch bis Sonntag, 27. Juni, 23.59 Uhr zu
       sehen ist, auch Texte über die Beziehungen zwischen künstlicher Intelligenz
       und Tanz sowie Erklärungen, wie Maschinen eigentlich Tanz und Choreografie
       lernen können. Nerds finden zudem Schnipsel des selbstgeschriebenen Codes.
       
       Die hinterm Projekt steckenden Fragen: Wie nützlich und realistisch ist die
       Nutzung der viel gehypten künstlichen Intelligenz in künstlerischer Arbeit
       – und wie wünschenswert ist das? Kann eine Software, kann eine [9][Maschine
       im eigentlichen Sinn kreativ sein]? Merkt man dem Ergebnis an, dass
       Unorganisches dahintersteckt? Und was unterscheidet ein menschliches Wesen
       dann überhaupt vom künstlichen?
       
       Technisch geht das Ganze so: Ein System nutzt [10][Maschinenlernen], um
       Bewegungssequenzen zu studieren und neue Sequenzen zu entwickeln.
       Visualisiert, also für Menschen leichter erkenn- und umsetzbar, werden
       diese Sequenzen anschließend mit einer Software. Eine weitere Software hat
       das Team noch entwickelt, die ein LED-Licht-Setup auf einer Bühne
       kontrolliert.
       
       Für die Daten, mit denen das neuronale Netzwerk gefüttert wurde, haben
       Tänzer:innen eine Reihe von vordefinierten Bewegungen ausgeführt. Bild
       für Bild wurden diese mit Software in eine Sequenz von Schlüsselpunkten
       verwandelt. Neue Bewegungen entstanden dann, weil ein rekurrierendes
       neuronales Netzwerk in der Lage ist, aus der Abfolge einer
       Schlüsselpunktserie Aussagen über den wahrscheinlichsten nächsten Wert zu
       treffen.
       
       ## Tanz der künstlichen Synapsen
       
       Damit die Performer:innen die so entstandene Choreografie exakt
       nachstellen können, hat das Team die Sequenzen mit Strichmännchen
       darstellen lassen: ein einfaches Tool mit Play-, Pause- und Stopp-Taste,
       das die einzelnen Tänzer:innen ganz unterschiedlich genutzt haben, um
       die KI-Bewegungen in einen Audiocode zu übersetzen. Der enthält Anweisungen
       in Form von Countdowns, gesprochenen Bildern oder rhythmischen Klängen, die
       jede:r der drei bei der Live-Performance – wieder mit der KI
       synchronisiert – über Kopfhörer umgesetzt hat.
       
       Das Ergebnis wirkt dann erstaunlich organisch und lebendig. Auf einem
       Quadrat mit weichen Matten, von der Seite mit LED-Leisten beleuchtet,
       tanzen die Performer:innen zu dritt, zu zweit, allein ein ganz
       typisches Repertoire, das auch ein:e Choreograf:in hätte vorgeben
       können: Schrittfolgen, Armbewegungen, Drehungen, Rollen und Liegen auf dem
       Boden. Nichts lässt erkennen, dass diese Bewegungsfolgen künstlich erzeugt
       wurden. Nichts wirkt ungewöhnlich, nichts unpassend.
       
       Aber es ist interessant, sich das Ganze mit dieser Frage anzusehen: Wo ist
       da etwas Künstliches? Wo entlarvt sich die KI sozusagen, wo zeigt sie
       vielleicht Mängel? Aber erst später gibt es kürzere Sequenzen zu sehen, die
       sich mit nur minimalen Nuancen wiederholen. Das wirkt dann analytischer,
       stockt im Fluss. Aber das tut menschliche Intelligenz ja auch. Noch später
       kommen die Audiocodes dazu. Wirkt das nun roboterhaft, wie die Anweisungen
       sich da so schnell immer wiederholen?
       
       Aber schauen Sie selbst, langweilig wird Ihnen bestimmt nicht. Denn eines
       kann dieses bedrohlich gut gelungene Zusammenspiel von künstlicher
       konzeptioneller und menschenkörperlich-motorischer Intelligenz genauso gut
       wie eine von einem lebenden Wesen erdachte Performance: für eine Stunde
       einen Raum eröffnen, in dem sich in Auseinandersetzung mit all diesen
       zumindest nicht alltäglichen Bewegungen und all den ausufernden Fragen im
       Angesicht des unbestritten immer technoider werdenden Alltags ein
       unterhaltsamer Tanz der Synapsen im eigenen Kopf einstellt. Man hätte jetzt
       zum Beispiel noch so gern gesehen, wie die putzigen Roboter von Boston
       Dynamics das Ganze aufführen.
       
       26 Jun 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.youtube.com/watch?v=FoyR1U7Y7Po
 (DIR) [2] https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/09298215.2020.1711778?journalCode=nnmr20
 (DIR) [3] https://www.techtimes.com/articles/233782/20180827/wannabe-dancers-rejoice-ai-will-have-you-dancing-like-a-pro-on-video.htm
 (DIR) [4] http://www.jaschaviehstaedt.com
 (DIR) [5] https://www.costacompagnie.org/de/
 (DIR) [6] https://www.costacompagnie.org/de/2018/08/07/ok-google/
 (DIR) [7] https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%BCnstliches_neuronales_Netz
 (DIR) [8] https://deep.dance/show/
 (DIR) [9] https://www.wissenschaftsjahr.de/2019/neues-aus-der-wissenschaft/das-sagt-die-wissenschaft/koennen-maschinen-kreativ-sein/
 (DIR) [10] https://de.wikipedia.org/wiki/Maschinelles_Lernen
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Robert Matthies
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Zeitgenössischer Tanz
 (DIR) Mensch-Maschine-Beziehung 
 (DIR) Choreografie
 (DIR) Schwerpunkt Künstliche Intelligenz
 (DIR) Queer
 (DIR) Performance
 (DIR) Installation
 (DIR) Digital
 (DIR) Virtual Reality
 (DIR) Roboter
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Queeres Tanztheater in Hamburg: „Mutig sein und Spaß haben“
       
       Fünf Performer*innen suchen das Gemeinsame ihrer vielfältigen
       Identitäten: Choreograf Raymond Liew Jin Pin über Queerness in Südostasien
       und hier.
       
 (DIR) Tanz am Seil: Fenstersturz der grauen Herren
       
       Mit dem artistischen Tanztheater „Timebank“ beginnt ein Summer of
       Performance im Revier Südost in den Ruinen einer alten Brauerei.
       
 (DIR) Im Labor mit der Künstlichen Intelligenz: Von Menschen, Maschinen und Moos
       
       In der immersiven Installation „Vyre“ lädt die Gruppe SV Szlachta in
       Hamburg zur Führung durch ein Biohacking-Labor, in dem gerade eine KI
       erwacht.
       
 (DIR) EU-Pläne für Künstliche Intelligenz: KI soll nicht ausspähen
       
       Menschliches Verhalten soll unangetastet bleiben, Massenüberwachung
       ausgeschlossen sein: Die Kommission hat ihren Gesetzesvorschlag zur KI
       vorgelegt.
       
 (DIR) Theatertipps der Woche: Neuronal vernetzt
       
       Künstliche Intelligenz, menschliche Schauspieler: im TD Berlin entfachen
       die CyberRäuber neue virtuelle Räume und das Junge DT lässt Demenz
       sprechen.
       
 (DIR) Lernende Maschinen: Entscheiden muss der Mensch
       
       Noch kratzen Forscher:innen bei der Künstlichen Intelligenz an der
       Oberfläche. Vieles ist bisher nur Wunsch und Utopie.