# taz.de -- Vergessene Kolonialgeschichte: Eskalation in Neukaledonien
       
       > Den Unterdrücker dazu bringen zu verstehen, warum er unterdrückt: Joseph
       > Andras’ Buch „Kanaky“ arbeitet mit den Stimmen von Zeitzeugen.
       
 (IMG) Bild: Eine Gruppe maskierter Kanaky im Kampf für die Unabhängigkeit von Frankreich 1988
       
       Die Geschichte, wenn man so will, spielt auf Ouvéa. Ouvéa ist ein Atoll des
       Inselarchipels Neukaledonien, östlich von Australien gelegen und seit 1500
       vor Christus besiedelt, im Jahr 1853 von Frankreich erobert und bis 1931
       Straflager für „Mörder, Bettler und Prostituierte“. Die Nachkommen der
       ersten melanesischen und polynesischen Siedler in Neukaledonien nennen sich
       Kanaky, und nach dieser Gruppe, [1][die zuletzt im Jahr 2020 mit einem
       Referendum zur Unabhängigkeit von Frankreich scheiterte,] ist auch das
       neueste Buch von Joseph Andras benannt.
       
       Untertitelt ist es mit der Bezeichnung „Bericht“, aber als Dokumentarroman,
       Essay oder Untersuchung wäre es ebenso gut beschrieben, so viele Dinge
       gleichzeitig leistet Andras’ Werk. Zunächst scheint es vor allem die
       Autopsie der Biografie eines kanakischen Helden zu leisten: Alphonse Dianou
       führte im April 1988 eine Gruppe von Kanaky an, die für die Unabhängigkeit
       Neukaledoniens von Frankreich kämpften.
       
       Bei der Besetzung einer Polizeistation auf dem Ouvéa-Atoll, in der
       französische Gendamerie Dienst tat, starben in einer Eskalation zwischen
       Protestierenden und Polizei vier Gendarme, die anderen nehmen die
       Aufständischen als Geiseln und bringen sie in eine Höhle, die nur wenige
       Tage später von einem Einsatzkommando französischer Spezialkräfte gestürmt
       wird. Dabei sterben mehrere Kanaky, darunter Dianou, der im Buch als
       hippiesker und sich immer weiter radikalisierender Charismatiker
       beschrieben wird.
       
       ## Eine kollektive Biografie
       
       Allerdings nicht von Andras selbst, sondern vor allem von seinen
       Gesprächspartner:innen. „Kanaky“ ist ein Roman mit einem Erzähler, der aber
       die Stimmen vieler montiert, und die Geschichte eines Helden, der zwar
       charakterisiert wird, aber seltsam unpersönlich bleibt. So gelingt Andras
       eine kollektive Biografie, in der im besten Sinne exemplarisch erzählt
       wird: vom Einzelfall Dianou, der doch für das Schicksal der Kanaky im
       Ganzen steht.
       
       Von ihm erzählen Familienmitglieder Dianous ebenso wie Weggefährten. Andras
       will es ganz genau wissen: Wie hat Dianou gehandelt, hat er geschossen?
       Hat er den Tod der Gendarme herbeigeführt? Falls ja, wie wäre das zu
       bewerten? Aber auch der Befehlshaber, der den Angriff auf die Grotte
       leitete, in der die französischen Geiseln festgesetzt wurden und Dianou und
       seine Kameraden starben, kommt zu Wort.
       
       Es stellt sich heraus, dass Philippe Legorjus, so sein Name, bis heute
       darunter leidet, dass er für den Tod Dianous und der anderen
       Mitverantwortung trägt (die eigentliche Schuld weist er dem damaligen
       Präsidenten Mitterrand zu, der sich mit der Aktion gegenüber seinem
       Kontrahenten Chirac profilieren wollte). Die Auseinandersetzung mit
       Legorjus stellt eine Ausnahme in den Verfahren des durchaus parteiischen
       Andras dar, dessen Sympathie ganz eindeutig der Sache der Kanaky gilt, mit
       denen er die allermeisten Gespräche geführt hat, die Eingang in sein Buch
       gefunden haben.
       
       In ihrer herausgehobenen Position markieren sie sehr deutlich Andras’
       Position. Unterdrückung und Folter, der er sich immer wieder in ruhigem Ton
       und schneidenden Bildern widmet, sind nicht allein Verbrechen an den
       entmenschlichten Opfern, sondern auch freiwillige Entmenschlichungen der
       Täter:innen. So sagt Hélène, Dianous Witwe, zum Erzähler, Dianou „wollte
       immer den Unterdrücker dazu bringen zu verstehen, warum er unterdrückt“.
       
       ## Gemeinschaftliche Angelegenheiten
       
       Das Verdienst von „Kanaky“ ist nun nicht allein, diese Struktur sichtbar zu
       machen, sondern vor allem auch zu schildern, wer eben durch die
       französische Kolonisation unterdrückt worden ist. Der neukaledonische
       Kulturraum bietet einen Reichtum an Sozial- und Wirtschaftsformen an, die
       insbesondere durch ihr Verhältnis von Individuum und Kollektiv denen der
       Kolonisatoren entgegengesetzt sind.
       
       Wer einen Brunnen baue, spreche immer in der ersten Person Plural von
       diesem Einsatz, der Brunnen nütze schließlich allen – überhaupt sei das
       neukaledonische Verhältnis zu Arbeit, so der Erzähler Andras, „nicht
       zwangsläufig an eine Produktions- oder Handelsbeziehung gebunden, sondern
       verweist auf gemeinschaftliche Angelegenheiten“. Der respektvolle Umgang
       mit einem Gegenüber findet seinen deutlichsten Ausdruck in der
       habitualisierten Ehrerbietung der „cotume“, einer spezifisch kanakischen
       Form des Gabentausches, die bei jeder Begegnung stattfindet.
       
       In der deutschen Ausgabe von „Kanaky“ ist dieses französische Wort erhalten
       geblieben, weil seine Vielschichtigkeit vom deutschen „Brauch“ nicht
       aufgefangen wird. Claudia Hamm hat nicht nur diesen Aspekt, sondern auch
       viele andere Probleme bei der Übersetzung des Buches dokumentiert. Sowohl
       in einem Glossar am Ende des Buches als auch in einem eigenen
       Übersetzungsjournal ist nachlesbar, welche Herausforderung es gewesen ist,
       diesen Bericht von der kanakischen Kultur nach der Kolonisation des
       Territoriums nicht ein weiteres Mal in der Übersetzung unsichtbar werden zu
       lassen.
       
       Schaut man sich auf einer Karte Neukaledonien an, rechts oben von
       Australien liegend, wirkt es winzig. Mit seinem Buch hat Andras einen
       ersten Stein eines Mosaiks gelegt, dessen Motive und Muster hierzulande
       weitläufig unbekannt sind. Es ist Aufgabe seiner Leser:innen, auch im
       Dienst der derzeit vielbeschworenen Dekolonisation dem eigenen Erkennen
       weiter auf die Sprünge zu helfen.
       
       31 May 2021
       
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