# taz.de -- Israel-Ermittlungen in Den Haag: „Was wird wem zur Last gelegt?“
       
       > Der Internationale Strafgerichtshof untersucht mutmaßliche
       > Kriegsverbrechen in Palästina. Experte Eliav Lieblich sagt, was davon zu
       > erwarten ist.
       
 (IMG) Bild: Mutmaßliche Kriegsverbrechen während des Gazakriegs 2014 werden untersucht
       
       taz: Herr Lieblich, die Chefanklägerin des Internationalen
       Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag, Fatou Bensouda, lässt
       [1][mutmaßliche Kriegsverbrechen in den palästinensischen Gebieten
       untersuchen]. Werden demnächst israelische oder palästinensische Beamte
       verhaftet? 
       
       Eliav Lieblich: Davon sind wir noch weit entfernt. Aber wenn israelische
       und palästinensische Behörden selbst nicht willens sind, eigene
       Untersuchungen zu den Vorwürfen anzustellen, dann kann die Chefanklägerin
       die Fälle vor Gericht bringen. Vor Gericht müssten die Verdächtigen
       anwesend sein, die Chefanklägerin könnte also Haftbefehle erlassen, die für
       alle Mitgliedstaaten des IStGH bindend sind. Bei einem Haftbefehl gegen
       einen israelischen Beamten wäre Deutschland bei dessen Einreise
       verpflichtet, ihn zu verhaften. Daran sieht man, wie politisch kontrovers
       sich die Dinge entwickeln könnten, zumal Deutschland in diesem Fall die
       Gerichtsbarkeit des IStGH nicht für gegeben hält.
       
       Ist es realistisch, dass es soweit kommt? 
       
       Es ist davon auszugehen, dass die Untersuchung Jahre dauert. Jetzt ist das
       Gericht erstmal verpflichtet, diejenigen Staaten über die Entscheidung zu
       informieren, die die Gerichtsbarkeit über eventuelle Kriegsverbrechen
       haben, in diesem Fall Israel und Palästina. Diese Staaten haben dreißig
       Tage, um zu sagen, dass sie selbst untersuchen. Nach sechs Monaten kann
       dann allerdings die Chefanklägerin das Vorgehen überprüfen, und wenn dies
       ergibt, dass die Untersuchungen nicht ernsthaft geführt werden, kann sie
       Schritte zur Wiederaufnahme des Verfahrens unternehmen.
       
       Wird Israel selbst Untersuchungen einleiten? 
       
       In Bezug auf Israel sollen vor allem zwei Gruppen mutmaßlicher Verbrechen
       untersucht werden: solche während des Gazakrieges 2014 und bei
       palästinensischen Demonstrationen am Zaun der Gazagrenze sowie solche, die
       die Siedlungsaktivitäten im Westjordanland betreffen.
       
       Es ist möglich, dass Israel die Operationen der israelischen Armee in Gaza
       selbst untersuchen lässt. Dann könnte es sein, dass der IStGH die Fälle
       nicht weiterverfolgt. Das war auch im jüngsten Fall so, der die britischen
       Aktionen im Irak betraf. Das Gericht entschied, [2][keine Untersuchung
       einzuleiten], weil davon auszugehen war, dass Großbritannien die
       Anschuldigungen ernsthaft untersucht.
       
       Was die [3][Siedlungen im Westjordanland] betrifft, wird Israel allerdings
       kaum eine Untersuchung einleiten, denn die Siedlungen sind eine erklärte
       Politik Israels. Israel betrachtet dies nicht als Verbrechen.
       
       Was genau wird Israel in Bezug auf die Siedlungen zur Last gelegt? 
       
       Der Transfer von Zivilbevölkerung einer Besatzungsmacht in das besetzte
       Gebiet gilt nach dem Römischen Statut als Verbrechen. Das bedeutet nicht,
       dass man als einzelne*r Siedler*in als Kriegsverbrecher*in
       angeklagt wird. Laut der Chefanklägerin geht es um die Personen, die diese
       Politik betreiben, die die Siedlungen planen und genehmigen, die Anreize
       für die israelische Bevölkerung geben, sich in den palästinensischen
       Gebieten niederzulassen.
       
       Und die palästinensische Seite? Wird sie selbst Untersuchungen einleiten? 
       
       Laut der Chefanklägerin haben die Palästinenser*innen niemals
       angekündigt, dass sie mögliche Kriegsverbrechen der Hamas oder anderer
       bewaffneter Gruppen in Gaza untersuchen werden. Es wird interessant sein,
       wie sie reagieren.
       
       [4][Im Juni wird der Brite Karim Ahmad Khan die amtierende Chefanklägerin
       Bensouda ablösen.] Wird er ihre Entscheidung, Ermittlungen einzuleiten,
       kippen? 
       
       Es gab Gerüchte, dass das israelische Establishment froh sei, dass Khan
       Chefankläger wird. Ehrlich gesagt, verstehe ich die Euphorie aus der
       Perspektive der israelischen Regierung nicht. Khan ist ein sehr angesehener
       und professioneller internationaler Anwalt. Ich sehe nicht, dass er eine
       Kehrtwende macht.
       
       Aus Israel kommt scharfe Kritik an Bensouda. Die israelische
       Mainstream-Politik versucht sie als antiisraelisch hinzustellen. Ich halte
       weder sie für antiisraelisch noch ihren Nachfolger für proisraelisch.
       Bensouda stand beispielsweise unter großem Druck, im Fall „Mavi Marmara“ zu
       ermitteln.
       
       Das Schiff wurde 2010 auf dem Weg nach Gaza von der israelischen Marine
       gestoppt, nachdem diese angekündigt hatte, es daran zu hindern, die
       Blockade des Gazastreifens zu durchbrechen. Neun Aktivist*innen der
       „Mavi Marmara“ wurden getötet. 
       
       Und Bensouda blieb standhaft bei ihrer Position und weigerte sich zu
       ermitteln, obwohl sie sogar vom Gericht selbst zu einer Untersuchung
       gedrängt wurde.
       
       Warum erkennt Israel den IStGH eigentlich nicht an? 
       
       Israel hat zwar im Jahr 2000 das [5][Römische Statut des IStGH]
       unterzeichnet, es aber nicht ratifiziert, also nicht in Kraft gesetzt.
       Israel ist mit dem Artikel nicht einverstanden, der den Transfer von
       Zivilbevölkerung in besetzte Gebiete als Verbrechen definiert. Das war der
       eigentliche Grund, auch wenn Israel heute sagt, das Gericht sei parteiisch.
       Wir hören einige Regierungsbeamte mit einer Rhetorik, die von Donald Trump
       kopiert ist.
       
       Man hört auch das Argument, dass das Datum, das Bensouda gesetzt hat,
       parteiisch sei. Die Ermittlungen sollen Verbrechen untersuchen, die seit
       dem 13. Juni 2014 stattgefunden haben. Das ist genau ein Tag, nachdem
       Hamasterroristen drei israelische Teenager entführten und ermordeten, was
       wohl Auslöser des Gazakriegs war. 
       
       Bensouda hat dieses Datum nicht gewählt. Palästina hat die Zuständigkeit
       des Gerichts nur für die Zeit nach diesem Datum gewährt. Ein sehr zynischer
       Schachzug von Palästina. Alle Verbrechen vor dem Ausbruch des Krieges
       werden nicht untersucht. Aber es ist nicht die Chefanklägerin, die sich das
       ausgesucht hat.
       
       4 Mar 2021
       
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