# taz.de -- Globaler „Game Jam“: Game Over? Restart!
       
       > Jedes Jahr schließen sich tausende Menschen zusammen, um Computerspiele
       > zu entwickeln. Sie wollen Regeln brechen, um Neues zu entdecken.
       
 (IMG) Bild: Entwurfszeichnungen zu einem Game-Projekt
       
       Nach all den schlaflosen Stunden am Computer wird nun der Bildschirm
       schwarz, und darauf steht in weißer Schrift: „Our minds are funny things
       really“. Unser Bewusstsein ist schon etwas Schräges. Dann beginnt der
       Abstieg in die Träume und Erinnerungen eines Mädchens, in eine Welt aus
       Schwarz und Weiß, in der Monster wohnen und Worte heilen. Gleichzeitig
       macht sich ein betrunkener Wikinger auf die Suche nach seiner Axt. Ein
       riesiges Hühnchen droht das Dorf anzugreifen. Ein Roboter sucht nach
       verlorenen Dateien, um sie wiederherzustellen. Ein Schatten sucht seinen
       Besitzer.
       
       All diese Computerspiele sind an einem einzigen Wochenende entstanden. In
       ihnen stecken der Wille, Regeln zu brechen und neu zu erfinden, kein Geld,
       dafür viel Druck. Alljährlich am letzten Januarwochenende schließen sich in
       allen Teilen der Welt gleichzeitig Tausende Teams aus Programmierern,
       Designern, Musikern und Autoren von Freitag bis Sonntag von der Welt weg,
       um ihre eigenen digitalen Universen zu bauen, nur so aus Spaß. Der „Global
       Game Jam“ ist das zentrale Event einer wachsenden Szene aus unzähligen
       kleinen und einigen großen solchen Events. Es ist [1][eine Szene außerhalb
       kommerzieller Strukturen], die wie eine brodelnde Ursuppe unterhalb der
       etablierten Games-Branche existiert.
       
       Lalanda Hruschka hat die Monster für das Spiel mit dem Mädchen in der
       schwarz-weißen Welt entworfen. Auch die Figur mit dem schwarzen Umhang, der
       die Figur bei ihren Streifzügen durch den düsteren Keller immer wieder
       begegnet. Erst bei Interaktionen blendet sich die simpel animierte,
       zweidimensionale Spielwelt aus und die Zeichnung der jeweiligen anderen
       Figur ein, dazu der Dialogtext – wie in der guten, alten Zeit, als Games
       noch auf Disketten passten. Auch das Kampfsystem ist eine nerdig-liebevolle
       Referenz an „Pong“, eines der ältesten Computerspiele überhaupt. Die
       Monster schießen niederdrückende Worte von der einen Seite des Bildschirms,
       man selbst, auf der anderen Seite, muss ihnen ausweichen, ermunternde Worte
       eintippen und die Buchstaben zurückschießen. Eine Geschichte über
       psychische Gesundheit mit Arcade-Mechaniken.
       
       Hruschka ist Visual Designerin und denkt sich besonders gern Figuren für
       Computerspiele aus. Wie viele in der Branche ist sie Freiberuflerin. Die
       Herausforderung, sagt sie, sei der gemeinsame Wettlauf gegen die Zeit –
       „als gemeinsames Puzzle zusammenzupassen“, mit völlig Fremden. Manche sind
       langjährige Profis, andere haben nichts weiter dabei als ein paar Skizzen
       oder ein Saxofon, für den Soundtrack.
       
       In Hruschkas sechsköpfigem Team fing es in der Nacht von Samstag auf
       Sonntag an, zu knirschen im Getriebe. Wenn nicht gerade Pandemie ist, leben
       die Teams wie Mönche in Klausur, die Nächte verbringen viele Teilnehmer in
       Schlafsäcken neben dem Computer. Dieses Jahr trat Hruschka am Sonntagmorgen
       auf ihren Balkon, wo sie ihre Decke zum Lüften vergessen hatte – sie war
       schneebedeckt und klatschnass. Zu diesem Zeitpunkt war schon recht klar,
       dass das Spiel wohl nicht fertig werden würde. Im Kanal für die
       Besprechungen, der das ganze Wochenende über offen war, wurde der Ton
       nervöser.
       
       ## Gegenentwürfe zu anspruchsvollen Spielewelten
       
       Geradezu archetypisch für den Jam ist das Spiel „Baba is you“, das 2017 auf
       dem Nordic Game Jam entstand – und zwei Jahre später einer der Releases des
       Monats auf der Spieleplattform Steam war. Fast alle Jams haben ein Thema,
       mit dem sich die zu entwickelnden Spiele beschäftigen müssen, das Thema
       damals lautete „Not there“.
       
       Unter den Teilnehmern war auch der Entwickler Arvi Teikari. Beim Wort „not“
       habe er an einen logischen Operator beim Programmieren denken müssen,
       erzählte er später. Plötzlich habe er ein Bild eines Eisblocks, der in Lava
       nicht schmilzt, vor Augen gehabt, denn: „Lava is not melt“. So erfand er
       ein geniales Spielprinzip: Man steuert die Figur Baba durch ein Labyrinth,
       in dem sich allerlei blockförmige Gegenstände und Worte befinden, die Baba
       verschieben kann – und weil auch die Logik der Spielwelt aus Worten
       bestehen, kann Baba zum Beispiel festlegen, dass er nicht mehr die Flagge
       erreichen muss, um das Level zu beenden („Flag is Win“), sondern einen
       Stein („Stone is Win“). Oder die Spielerin steuert fortan einen Stein
       („Rock is You“). Man muss die Regeln der Welt umschreiben, um das Rätsel zu
       lösen.
       
       Solche Spiele sind auch Gegenentwürfe zu den immer opulenteren, aber auch
       [2][immer weniger anspruchsvollen Spielewelten der großen
       Entwicklerstudios]. Dort reitet man auf Drachen durch gewaltige
       Fantasiereiche, man bewundert, wie realistisch der der Dreck im
       Schützengraben spritzt, die Spielmechaniken aber – das, was im emphatischen
       Sinne ein Spiel erst zu einem Spiel macht – verändern sich im
       Blockbuster-Segment nur in Nuancen. Weil darin hohe Millionenbudgets
       stecken, haben die Publisher Angst, die Leute mit etwas Neuem, Gewagtem zu
       verschrecken. Das ist in der Filmbranche ähnlich, aber für Filme, die ohne
       Budget gedreht wurden, muss man schon sehr schmerzbefreit sein.
       
       [3][Gamer hingegen wollen oft gar keine perfekte Grafik], keine von
       Symphonieorchestern aufgenommenen Soundtracks, keinen Gastauftritt von
       Keanu Reeves. Sondern einfach nur spielen. Diese antikommerzielle Dynamik
       löst sich durch die zunehmende Professionalisierung der Branche nicht etwa
       allmählich auf. Sie wird immer stärker.
       
       ## Die Szene wächst
       
       Der Softwareentwickler Sebastian Standke, der auf seinem Blog
       game-curator.com regelmäßig die besten Jam-Games kuratiert, verfolgt die
       wachsende Szene. Im Jahr 2002 startete das „Lugdum Dare“ als ein kleiner,
       über ein Internetforum organisierter Wettbewerb für Hobby-Spieleentwickler,
       heute sind es pro Edition mehrere tausend Teilnehmer. Das habe mit neuen
       Plattformen wie itch.io zu tun, wo Minigames ein Publikum finden, aber auch
       damit, dass Spiele zu entwickeln immer einfacher werde, sagt Standke. Heute
       existieren viele kostenlose Gameentwickler-Tools, mit denen man schnell zu
       Ergebnissen kommt, mit einigen muss man kaum noch selbst programmieren
       können. Diese Demokratisierung, sagt Standke, habe den Fokus verschoben –
       vom genialen Software-Nerd, der im Keller blinkende Welten aus der Maschine
       zaubert, was außer ihm keiner kann, hin zu kreativen Prozessen im Team. Die
       Geschichten werden wichtiger. Manchmal auch: die Politik.
       
       Als der Entwickler des Handyspiels „Candy Crush“ die Markenrechte an den
       Wörtern „Candy“ und „Saga“ für sich beanspruchte, rief jemand einen Jam ins
       Leben, dessen Vorgabe war: die Spiele müssen die Wörter „Candy“ oder „Saga“
       beinhalten. Als Donald Trump an die Macht kam, entstand ein Jam-Game, in
       dem es darum geht, schlecht zu regieren, ohne die Welt zu zerstören, und
       zwischendurch zu golfen. Im Frühjahr hatte ein Team die Idee eines simplen
       Spionagethrillers, in dem man die geheimen Machenschaften hinter den
       Engpässen von Klopapier und Nudeln aufklären muss. Ab dem vergangenen März
       beschäftigen sich viele Jams plötzlich mit dem Thema Isolation.
       
       Ein besonderes Projekt wurde beim „Lugdum Dare“-Jam im April entwickelt.
       Dort treten die fertigen Spiele zum Schluss in einem Wettbewerb
       gegeneinander an. „thiswebsitewillselfdestruct.com“ hat es unter knapp 5000
       Einreichungen auf einen sehr respektablen 79. Platz geschafft.
       
       Das Spiel, sofern man es so nennen will, ist eine Website, die sich selbst
       löscht, wenn 24 Stunden lang niemand dort eine Nachricht hinterlassen hat,
       „aber das ist okay“, so heißt es auf der Seite, „bis es soweit ist, lasst
       mich wissen, wie es euch geht“. Nun hinterlassen dort jeden Tag unzählige
       Menschen Nachrichten, in denen sie schildern, womit sie zu kämpfen haben,
       oder in denen sie andere ermuntern, an sich zu glauben, es werden bessere
       Zeiten kommen. Manche schreiben sinngemäß „Stirb bitte nicht, liebe
       Website“. Links führen zu Hilfsangeboten bei psychischen Krisen. Ein Spiel
       für den Lockdown. Ein Jam-Spiel: Einfach, menschlich – und das ganze
       Internet kann mitmachen.
       
       Das Spiel über den Keller mit den Monstern, die man mit heilenden Worten
       beschießt, ist am Ende nicht fertig geworden. Lalanda Hruschkas Team hat es
       nicht rechtzeitig geschafft. Es bleibt, wie viele Jam-Spiele, erst mal ein
       Prototyp. Aber das macht nichts. Auch Jams insgesamt sind Spiele. Wer kein
       funktionierendes Produkt abliefert, hat lediglich das Spielziel verfehlt.
       Game Over. Und dann? Restart.
       
       14 Feb 2021
       
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