# taz.de -- Kulturwissenschaftlerin über Sklaverei: „Philosophen waren selbst Täter“
       
       > Iris Därmann hat sich mit der Geschichte des Widerstands Schwarzer
       > Menschen gegen Sklaverei befasst. Und mit der Haltung der westlichen
       > Denker.
       
 (IMG) Bild: Kette im Sklavereimuseum im Stadtteil Stone Town von Sansibar
       
       taz: Frau Därmann, „Die legitime proletarische Revolution sollte weiß
       sein“, fassen Sie Karl Marx ’ Haltung zur Sklaverei und der Selbstbefreiung
       der Sklaven zusammen. Wie kam der Befreiungsklassiker Marx zu dieser
       Einschätzung? 
       
       Iris Därmann: Ein Anliegen meines Buchs ist es, die Verstrickung
       politischer Philosophen mit der Sklaverei aufzuzeigen. Philosophen der
       Neuzeit und der Antike haben sich nicht nur auf die Seite der Täter
       geschlagen und die Gewalt der Versklavung legitimiert, sondern waren auch
       selbst Täter. Teils haben sie, wie Aristoteles, Sklaven gehalten, teils
       haben sie, wie John Locke, am transatlantischen Sklavenhandel verdient.
       Marx hatte ich schon lange nicht mehr gelesen, und ich dachte: Bei Marx
       wird alles anders!
       
       Und dann? 
       
       Als ich sein Werk, [1][auch die private Korrespondenz] wiedergelesen habe,
       ist mir klar geworden, dass Marx zwar gut unterrichtet war über die
       Haitianische Revolution, die revolutionäre Selbstbefreiung der SklavInnen
       in der französischen Kolonie Saint-Domingue, aus der Haiti 1804 als erster
       schwarzer Nationalstaat hervorging. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich aber,
       dass Marx – parallel zu seiner Berichterstattung über den US-amerikanischen
       Bürgerkrieg – die schwarze gegen die „weiße Sklaverei“ ausspielt. Er findet
       offensichtlich, dass die Versklavten in den Südstaaten gegenüber den weißen
       LohnarbeiterInnen in ihrem Kampf um den 8-Stunden-Tag zu viel
       Aufmerksamkeit erhalten.
       
       Im „Kapital“ entwickelt er daher Lektüreverfahren, um die
       Aufmerksamkeitsökonomie zu verschieben. Wenn er zeitgenössische Literatur
       zur Plantagenökonomie zitiert, fordert er seine LeserInnen auf: „Lies statt
       Sklavenhandel Arbeitsmarkt“, ersetze „Sklave auf der Plantage“ durch
       „weißer Lohnarbeiter“ in englischer Fabrik. Er hat das Leid der SklavInnen
       durch das Leid der ArbeiterInnen überschrieben. Maßgeblich war für Marx der
       Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Davon versprach er sich
       eine „totale Revolution“, die die gesamte Menschheit befreien werde,
       während die SklavInnen durch Flucht und Aufstände nur sich selbst befreien
       würden.
       
       Die Sklaven sind sozusagen egoistisch identitätspolitisch unterwegs? 
       
       Eine Art Überbietungswettkampf, ja. Man hätte sich vorstellen können, dass
       Marx den Kampf der Schwarzen und den des europäischen Proletariats
       miteinander verschränkt, im Sinne eines Trans- bzw. Black Atlantic, der
       Widerstandspraktiken afrikanischer, amerikanischer, karibischer und
       britischer Herkunft zu einer neuen revolutionären Kultur verbindet. Aber im
       „Kapital“ marginalisiert er die Widerstandspraktiken der Schwarzen:
       Rebellion, Streik, Flucht, Zerstörung von Ernten und Ackergeräten. Marx
       denkt die Sklaverei ökonomistisch: Für die Differenzen, die zwischen einem
       gewaltsam versklavten, „sozial toten“ Menschen und einem ausgebeuteten
       Lohnarbeiter bestehen, der ein Recht auf seinen eigenen Namen, seinen
       Körper, seine Sprache und Familie hat und der doch immerhin entlohnt wird –
       dafür zeigt er keine Sensibilität.
       
       Haben Sie auch Positives bei Marx entdeckt? 
       
       Ja. Was er in besonderer Weise anprangert, ist die Kinderarbeit in England.
       Er hat die arbeitenden Kinder selbst zu Wort kommen lassen: Sie schildern
       ihren Fabrikalltag, ihre Schmerzen und Entbehrungen. Marx entwickelt
       gewissermaßen eine Kritik des Kapitalismus, ausgehend vom Standpunkt der
       Kinder. Dem „Global Slavery Index“ zufolge leben heute weltweit rund 40
       Millionen Menschen in [2][moderner Sklaverei]; Menschen werden auf
       öffentlichen Märkten ge- und verkauft zu Zwangsarbeit, Zwangsehen,
       Zwangsprostitution, Organhandel. Frauen sind mit 71 Prozent, Kinder mit 25
       Prozent betroffen. Das ist die Rückseite der westlichen Konsum- und
       Dienstleistungsgesellschaften. Auch für eine Gegenwartskritik des globalen
       Kapitalismus aus der Perspektive von Kindern kann man sich auf Marx
       berufen.
       
       Ist es denn überhaupt angemessen, historische Denker an modernen Maßstäben
       zu messen? 
       
       Mir begegnet manchmal der Vorwurf der „moralischen Masturbation“. Mal
       abgesehen von der Wortwahl: Die Leute, mit denen ich mich beschäftige,
       nehme ich beim Wort. Wenn ein Klassiker wie John Locke sagt, alle Menschen
       sind gleich und frei geboren – dann hat er selbst ein universales
       Menschenrecht formuliert, das ihn jedoch nicht daran hindert, die Sklaverei
       zu legitimieren. Das Gleiche gilt für Marx und andere Denker, die
       universale Rechte formulieren, um sie dann wieder rassistisch aufzuteilen.
       Die Universalität der Menschenrechte eröffnet eine
       Demokratisierungsdynamik, die an kein Ende gelangen darf. Sie ist ein
       Prozess, der durch alle Organisationen, Institutionen, sozialen Medien,
       Verhältnisse hindurchgehen muss. „Mehr Demokratie wagen“ im Sinne Willy
       Brandts ist die zentrale politische Aufgabe: Die kommende Demokratie wird
       diversitätspolitische Ansprüche nicht gegen soziale, ökonomische und
       klimapolitische Gerechtigkeitsforderungen ausspielen.
       
       [3][Seit einiger Zeit lösen Videos über Polizeigewalt gegen Schwarze
       Menschen Debatten aus.] Die Frage, die sich bei aller aufklärenden Absicht
       der Verbreitung solcher Bilder stellt, ist: Wo bleibt die Würde der Opfer?
       Auch die Akteure der Abolitionsbewegung im 19. Jahrhundert, also die
       AktivistInnen der Sklavenbefreiung, griffen auf Kupferstiche von gequälten
       Schwarzen Körpern zurück. Was steckt alles in solchen Darstellungen? 
       
       Versklavte Frauen wurden mit entblößtem Oberkörper ausgepeitscht, Männer
       mit nacktem Gesäß. Als Begründer der „Plantagenpornografie“ gilt der
       schottische Söldner John Gabriel Stedman, der von 1772 bis 1777 in Surinam
       an der Niederschlagung von Sklavenrebellionen beteiligt war. In seinem zwei
       Jahre später publiziertem „Reisebericht“ hat er seinen Schilderungen von
       exzessiven Auspeitschungen junger, nackter Sklavinnen einschlägige
       Kupferstiche von William Blake beigefügt. Im Wechselspiel von Bild und Text
       werden seine Leser dazu animiert, die Haut der gewaltsam entblößten Frauen
       selbst imaginär bis aufs blutige Fleisch auszupeitschen. Dieses Genre war
       relevant auch für die englische Abolitionsbewegung, die mit Druckgrafiken
       sexualisierter Auspeitschungsszenen die Gewalt- und Schaulust der
       europäischen Sklavenhalter vor Augen führte. Die AbolitionistInnen haben
       nicht so sehr die sexualisierte Gewalt im Namen der SklavInnen angeprangert
       als vielmehr die moralische Korruption der europäischen Sklavenhalter.
       
       Und wenn wir jetzt zu den modernen Handy-Videos kommen? 
       
       Acht Minuten und 46 Sekunden hat die Tötung von George Floyd gedauert. Und
       er hat annähernd dreißig Mal gesagt, dass er nicht atmen könne. Wenn man
       sich damit als JournalistIn oder WissenschaftlerIn auseinandersetzt, muss
       man sich vor Augen führen: Wir haben es hier mit einem qualvollen
       Sterbeprozess zu tun. Müssen wir unsere Arbeit nicht auch als Trauerarbeit
       verstehen und uns fragen, welchen Gebrauch wir von den Handy-Videos machen?
       Sie stehen im Kontext der Gewaltgeschichte des Lynchens.
       
       Für die Mitglieder der schwarzen US-Bürgerrechtsbewegung stand es außer
       Frage, dass die Lynchgewalt nach Abschaffung der Sklaverei „weiße
       Vorherrschaft“ wiederherstellen sollte und Lynchfotografien dabei eine
       zentrale Rolle spielten: Im pornografischen Genuss der rassistischen
       Verbrechen war die weiße Täter- und Zuschauergemeinschaft noch in der
       „schrecklichen Intimität“ ihres Zuhauses miteinander vereint. Dagegen
       richteten sich die Bildpolitiken der Bürgerrechtsbewegung. Ida B.
       Wells-Barnett etwa hat Lynchfotografien erstmals als Beweise gegen die
       Täter und Zuschauer selbst gerichtet. Auch die Handy-Videos sind Beweise
       für die Tötung George Floyds, sie zeigen Täter, Zeugen, Filmende.
       
       Können wir verhindern, zu Komplizen wider Willen gemacht zu werden, wenn
       die Handy-Videos in Dauerschleife gezeigt werden? Ich denke, es ist vor
       allem George Floyds eigene Stimme, die das verhindert. Er hat mit seiner
       Stimme um sein Leben gekämpft und darum zu atmen. Er hat mit seiner Stimme
       eine internationale Black-Lives-Matter-Bewegung ins Leben gerufen, die
       seine Stimme politisch weiterträgt.
       
       Wozu dient genau der ungewöhnliche Begriff „Undienlichkeit“ im Titel Ihres
       Buchs? 
       
       Ich wollte Gewaltgeschichte aus der Perspektive derer schreiben, die sie
       erlitten und ihr widerstanden haben. In Gewalträumen erscheint Widerstand
       unmöglich. Und doch haben Menschen immer wieder das Unmögliche getan und
       sich mit body politics, Hungerstreik, Abtreibung, Selbstverstümmelung,
       Freitod, Flucht undienlich gemacht. Aktiver und passiver Widerstand kann
       nicht am Erfolg gemessen werden, sondern nur daran, dass er überhaupt
       stattgefunden, dass er die absolute Gewalt der Täter, und sei es auch nur
       für einen Augenblick, irritiert, geschwächt und geteilt hat. Diese
       niedrigschwelligen Widerstandsereignisse habe ich sichtbar machen wollen,
       damit die Gewalt nicht das letzte Wort hat.
       
       Iris Därmann: „Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische
       Philosophie“. 510 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin 2020. 38 Euro
       
       29 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /200-Geburtstag-von-Friedrich-Engels/!5729535
 (DIR) [2] /Internationaler-Tag-gegen-Kinderarbeit/!5688044
 (DIR) [3] /Gewaltdarstellung-im-Journalismus/!5704426
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ambros Waibel
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Sklaverei
 (DIR) Kolonialismus
 (DIR) Karl Marx
 (DIR) Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
 (DIR) US-Sklaverei-Geschichte
 (DIR) Philosophie
 (DIR) Kolumne Die Nafrichten
 (DIR) Black Lives Matter
 (DIR) Schlaf
 (DIR) Schwerpunkt Emmanuel Macron
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Gewalt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Reparationen für US-Sklaverei: Versöhnung ist nie verkehrt
       
       Kann man das Unrecht der Sklaverei wiedergutmachen? In den USA nimmt eine
       weiße Farmerin die Sache selbst in die Hand – und wird bedroht.
       
 (DIR) Erste Professorin für antike Philosophie: Philosophie ist weiblich
       
       Dorothea Frede ist Expertin für Aristoteles – trotz seines schwierigen
       Frauenbilds. Von männlichen Philosophen hat sie sich nie beirren lassen.
       
 (DIR) Wer schreibt die Geschichte?: Bürgis und Bismarck
       
       Wer Freiheit und Gleichheit in Kunst und Wissenschaft voranbringen will,
       wird oft beschuldigt, die Historie umschreiben zu wollen. Da ist was dran.
       
 (DIR) Ausstellung über Rassismus: Eine Form des Wahnsinns
       
       „Grief and Grievances“ heißt eine Ausstellung des verstorbenen Kurators
       Okwui Enwezor. Sie thematisiert Schwarzes Leiden in den USA.
       
 (DIR) Schlafen ist politisch: Träumt weiter!
       
       Schlaf gilt als privat. Gleichzeitig wird er durch Arbeit eingegrenzt, von
       Familie strukturiert, mit Apps optimiert. Aber der Schlaf hat Potenzial.
       
 (DIR) Proteste gegen Gesetz in Frankreich: Für den Rechtsstaat auf die Straße
       
       Hunderttausende haben in ganz Frankreich gegen das neue Sicherheitsgesetz
       protestiert, das Aufnahmen von Polizeieinsätzen verbieten würde.
       
 (DIR) Studie zu Rassismus in der Polizei: Andere Studie, trotz Bedarf
       
       Innenminister Seehofer vergibt bald den Auftrag für eine Polizeistudie –
       ohne Rassismus. Aktuelle Zahlen zeigen hingegen Forschungsbedarf.
       
 (DIR) Gewaltdarstellung im Journalismus: Die Grenzen des Sehbaren
       
       Explizite Videos haben Debatten über Polizeigewalt und Gewalt gegen
       Schwarze Menschen ausgelöst. Doch was ist mit der Würde der Opfer?