# taz.de -- Koblenzer Prozess zu Folter in Syrien: Caesars Geheimnis
       
       > Ein Mann musste Tausende Leichen fotografieren. Ihm gelang es zu fliehen
       > und die Bilder außer Landes zu bringen. Nun sind sie Beweismittel.
       
 (IMG) Bild: Aufnahmen des Fotografen mit dem Decknamen „Caesar“ wurden im März 2015 in New York ausgestellt
       
       Um kurz vor zwölf am Dienstagvormittag ruft Markus Rothschild in seiner
       Power-Point-Präsentation den nächsten Abschnitt auf. Ein neues Bild wird
       oberhalb der Richterbank an die Wand projiziert. Es zeigt die Leiche eines
       Mannes, der verhungert ist. Sein nackter Körper ist ausgezehrt, das Skelett
       tritt deutlich hervor.
       
       Es folgen zwei ähnliche Bilder, dann klickt Rothschild weiter zur nächsten
       Todesursache: dem Ersticken. Jetzt zeigt er einen Mann, bekleidet nur mit
       einer Unterhose, dessen Hals sich lila verfärbt hat, auch der oberere
       Brustkorb ist blutunterlaufen. „Da könnte jemand draufgetreten oder
       -gesprungen sein“, sagt Rothschild.
       
       Seit kurz vor zehn Uhr an diesem Dienstagmorgen sagt der Leiter des
       [1][Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Köln] als
       Sachverständiger in Saal 128 des Koblenzer Oberlandesgerichtes aus. Seitdem
       hat er Tabellen, Statistiken und viele Bilder an die Wand geworfen. Es geht
       um Todeszeichen und Ernährungszustand, um Verletzungen, Fesselungen und
       Belege für Folter. Auf den Fotos ist mal ein ganzer Körper zu sehen, mal
       nur sind es Teilaufnahmen von Oberkörper, Gesicht oder Beinen. Manche der
       Leichen sehen unauffällig aus, manche ausgehungert, andere sind voller
       Striemen, Blutflecken und Verletzungen. Die Toten sind mit Nummern
       markiert, oft direkt auf die Haut geschrieben.
       
       Die Bilder, die der Rechtsmediziner Markus Rothschild zeigt, sind eine
       Auswahl der sogenannten [2][Caesar-Files]. Es sind Bilder, die ein
       ehemaliger syrischer Militärfotograf mit dem Decknamen „Caesar“ bei seiner
       Arbeit für Assads Regime heimlich kopiert hat und die später außer Landes
       geschmuggelt wurden. Insgesamt über 53.200 Fotos. 28.707 von ihnen zeigen
       die Leichen von Menschen, die in Gefängnissen der syrischen Geheimdienste
       gestorben sind, es sind Fotos von 6.787 Personen. Rothschild und seine
       Kollegin haben die Bilder forensisch untersucht, beauftragt hat sie die
       Bundesanwaltschaft.
       
       Jetzt erklärt der Rechtsmediziner dem Gericht, welche Verletzungen auf den
       Fotos zu sehen sind, wie häufig sie im Datensatz vorkommen und was sie
       verursacht haben könnte. Rothschild betont, dass ihre einzige Quelle die
       Bilder seien, vieles also für sie nicht sichtbar sei. Und doch wird in
       seiner Präsentation klar: Er sieht in den Fotos klare Belege für
       Foltermethoden, von denen zahlreiche Überlebende in dem Koblenzer Prozess
       bereits berichtet haben.
       
       ## Der Prozess gegen Anwar R.
       
       Die Casar-Files werden in diesen Tagen in Koblenz erstmals als Beweise in
       ein Strafverfahren eingeführt. Seit April stehen dort zwei Syrer wegen
       Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht. Der [3][Hauptangeklagte
       Anwar R.], 57, hat bei dem syrischen Allgemeinen Geheimdienst gearbeitet
       und in der Abteilung 251 die Unterabteilung „Ermittlungen“ geleitet. Dazu
       gehört „al-Khatib“, ein berüchtigtes Gefängnis im Zentrum von Damaskus.
       Dort sollen, so heißt es in der Anklage, allein von April 2011 bis
       September 2012 systematisch Tausende Menschen gefoltert worden sein, manche
       seien an den Folgen gestorben.
       
       Anwar R. soll dafür verantwortlich sein. Deshalb hat ihn die
       Bundesanwaltschaft wegen 58-fachen Mordes und Folter in mindestens 4.000
       Fällen, wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung angeklagt. Der Prozess
       ist eine internationale Premiere: Mit Anwar R. und seinem Mitangeklagten
       müssen sich erstmals weltweit zwei mutmaßliche Folterknechte des Regimes
       von Baschar al-Assad vor Gericht verantworten. Nach dem Weltrechtsprinzip
       kann die deutsche Justiz Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch dann
       verfolgen, wenn weder Täter noch Opfer Deutsche sind.
       
       Während Rothschild die Bilder erklärt, sitzt Anwar R. hinter ihm, auf der
       rechten Seite des Saals, wie alle Prozessteilnehmer hinter Plexiglas, das
       vor Corona schützen soll. Der Mann mit dem auffälligen Muttermal unter dem
       linken Auge schaut starr auf die Bilder an der Wand. Was in ihm vorgeht,
       ist ihm nicht anzusehen.
       
       ## Die Zeugin, die „Caesar“ ausfindig machte
       
       Seit der vergangenen Woche beschäftigt sich das Gericht mit den
       „Caesar-Files“. Zunächst hatte die französische Journalistin [4][Garance Le
       Caisne] dazu ausgesagt. Le Caisne, 54, eine kleine Frau mit dunklen Locken,
       ist Expertin für den Nahen Osten. Sie hat lange in Ägypten gelebt, war
       mehrfach in Syrien, auch nach Beginn des Bürgerkriegs. Nachdem die
       „Caesar“-Fotos im Frühjahr 2014 erstmals öffentlich vorgestellt wurden,
       habe sie im Herbst dieses Jahres damit begonnen, nach dem ominösen „Caesar“
       zu suchen, sagt sie vor Gericht. „Caesar“ lebt seit seiner Flucht aus
       Syrien aus Angst um sein Leben und das seiner Familie versteckt, inzwischen
       irgendwo in Nordeuropa.
       
       Le Caisne wollte seine Geschichte und die seiner Bilder erzählen, vor allem
       aber von den Verbrechen berichten, die in syrischen Gefängnissen begangen
       werden. Monatelang versuchte sie, über Mittelsmänner an „Caesar“
       heranzukommen. Im März 2015 hatte sie Erfolg: „Caesar“ erklärte sich
       bereit, sie zu treffen – und berichtete ihr in mehr als 40 Stunden
       dauernden Gesprächen als einziger JournalistIn seine Geschichte. Inzwischen
       ist ihr Buch darüber erschienen, seit 2016 auf Deutsch unter dem Titel
       „[5][Codename Caesar]“ erhältlich. Von ihren Treffen mit „Caesar“ und den
       Gesprächen mit Überlebenden soll sie in Koblenz berichten. Der ehemalige
       Militärfotograf selbst wird nicht aussagen.
       
       Schnell sei ihr klar gewesen, sagt Le Caisne, dass es nicht nur um „Caesar“
       gehe. „Man spricht die ganze Zeit von einer Person, aber eigentlich sind es
       zwei“, sagt sie. Le Caisne spricht Französisch, ruhig und sachlich trägt
       sie vor, die Dolmetscherin, die neben ihr sitzt, übersetzt.
       
       „Caesar“ habe vor Beginn der Proteste gegen das Regime im März 2011 bereits
       als Militärfotograf gearbeitet, sagt sie. Seine Aufgabe sei es gewesen,
       Tatorte zu fotografieren, an denen Soldaten ums Leben gekommen sind, auch
       durch Verkehrsunfälle oder Suizide. „Er mochte seinen Beruf.“ Mit dem
       Beginn der Revolution habe sich das geändert.
       
       Jetzt musste „Caesar“, so Le Caisnes Aussage, vor allem die Leichen von
       Gefangenen fotografieren, die in den Haftanstalten der Geheimdienste
       gestorben waren. Als Todesursache hätten die Rechtsmediziner meist
       Herzstillstand oder Atemnot angegeben, doch das habe mit den Verletzungen
       der Toten nicht übereingestimmt. „Einige der Leichen hatten keine Augen
       mehr, einige hatten die Haut verletzt, einige hatten rote Male am Hals,
       einigen konnte man ansehen, dass sie verhungert waren“, sagt Le Caisne.
       „Caesar“ sei geschockt gewesen, habe erwogen zu desertieren und mit einem
       Freund darüber gesprochen. Der Freund, ein Bauingenieur mit dem Decknamen
       „Sami“ und Kontakten zur syrischen Nationalbewegung, habe ihn bewegt zu
       bleiben und die Bilder zu kopieren. „Ich denke, Sami war klar, dass die
       Fotos irgendwann wichtige Beweisstücke sein könnten“, sagt Le Caisne. Die
       beiden Männer hätten ja damals geglaubt, dass das syrische Regime in
       wenigen Monaten stürzen würde.
       
       ## Drei bis vier Fotos pro Leiche
       
       Zwei Jahre lang, von Mai 2011 bis August 2013, kopierte „Caesar“ heimlich
       Fotos auf einen USB-Stick, den er versteckt im Gürtel oder im Schuhabsatz
       aus dem Büro herausschmuggelte. Den Stick brachte er zu „Sami“, der die
       Fotos zu Hause ungeordnet auf seinen Rechner kopierte und die Dateien auf
       dem Stick löschte. Damit zog „Caesar“ dann wieder los.
       
       Drei bis vier Fotos hätten „Caesar“ und seine sieben Kollegen von jeder
       Leiche machen müssen – Aufnahmen vom Gesicht, der Brust, dem ganzen Körper.
       „Die Arbeit wurde immer mehr, es gab immer mehr Leichen“, sagt Le Caisne.
       Anfangs habe „Caesar“ täglich nur wenige Bilder gemacht, am Ende habe er
       jeden Tagen bis zu 50 Leichen fotografiert. Zunächst musste er dazu in den
       Leichenraum des Militärkrankenhauses Tischrin im Norden von Damaskus
       kommen. Doch bald sei der Platz dort zu knapp geworden, die Toten hätten
       auf den Gängen gelegen. Dann sei man in das deutlich größere
       Militärkrankenhaus Mezee ausgewichen. Dort hätten die Leichen auch draußen
       auf dem Gelände gelegen, zum Teil in einer Garage. Schon von draußen habe
       man die Toten gerochen.
       
       Nach dem Fotografieren hätten „Caesar“ und seine Kollegen in ihrem Büro
       Formulare ausfüllen und Akten anlegen müssen. „Zunächst ein Formular pro
       Leiche“, sagt Le Caisne. Später habe es ein Formular für mehrere Tote
       gegeben. Ihre Bilder hefteten die Fotografen einfach hinten dran.
       
       Aber warum dokumentiert ein Regime akribisch die eigenen Verbrechen? Es
       könne aus der Routine heraus geschehen sein, vermutet Le Caisne. Das Regime
       Assad erfasse und archiviere überhaupt sehr viel. Zudem, auch das ein
       möglicher Grund, belegten die Fotos für die Untergebenen, dass sie die
       Anweisungen von oben befolgt hatten.
       
       Die Gespräche mit „Caesar“, berichtet die Journalistin, seien anfangs nicht
       leicht gewesen. Beide Seiten waren ängstlich. „Ich habe versucht, ihn
       einfach reden zu lassen, aber das wollte er nicht. Dann habe ich gefragt,
       und er hatte das Gefühl, es ist ein Verhör.“ Manchmal habe „Caesar“
       Zeichnungen gemacht, um etwas zu verdeutlichen. Überlassen hat er ihr diese
       nicht. „Er wollte nicht, dass ich Papiere mit seiner Handschrift habe.“
       
       Anfangs, sagt Le Caisne, hätten laut „Caesars“ Bericht die Leichen noch
       Namen getragen, bald aber nur noch zwei Nummern, die entweder mit Filzstift
       direkt auf die Leichen geschrieben wurden oder auf Klebeband, das auf der
       Stirn befestigt war. Die erste steht für den Gefangenen, die zweite für die
       Geheimdienstabteilung, in der er inhaftiert war. Der Rechtsmediziner gab
       den Leichen eine dritte Nummer für seinen Bericht. Dabei fing er bei 1 an
       und hörte bei 5.000 auf, dann begann er wieder von vorne und hängte an die
       Zahl einfach einen Buchstaben an, bis er wieder bei 5.000 war. Dann kam der
       nächste Buchstabe.
       
       „Für Caesar und Sami ging es darum, der Welt diese Fotos zu zeigen“, sagt
       Le Caisne. Sie hätten aber auch die Familien darüber informieren wollen,
       was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Viele Menschen seien einfach
       verschwunden, „diese Haftanstalten sind ein schwarzes Loch“.
       
       ## Die Flucht aus Syrien
       
       „Caesar“ habe sich mit der Zeit immer unwohler gefühlt. Er habe heimlich
       gegen das Regime gearbeitet, aber für die Opposition sei er ein Mann des
       Regimes gewesen. „Er war zwischen beiden eingekeilt“, sagt Le Caisne.
       „Caesar“ habe befürchtet, dass das Regime ihn erwische und er wie die
       Menschen auf den Fotos ende. Aber auch, dass die Opposition ihn erwischen
       könnte, weil er als Teil der Regimes galt.
       
       Im Sommer 2013 verließen „Sami“ und „Caesar“ Syrien, die Festplatte mit den
       Bildern wurde von einer dritten Person außer Landes geschmuggelt. Schon
       2012 hatte „Sami“ damit begonnen, die Fotos – in komprimierter Form – in
       einer Cloud hochzuladen. In der Türkei begannen „Sami“ und zwei
       Mitstreiter, ein Informatiker und ein Arzt, die in den Berichten ebenfalls
       Decknamen tragen, Bilder zu katalogisieren.
       
       Mithilfe der Syrischen Nationalbewegung gelang es, das Emirat Katar zur
       Finanzierung einer ersten Überprüfung der Authentizität der Bilder zu
       gewinnen. Im Auftrag Katars setzte eine Londoner Anwaltskanzlei dazu eine
       Expertengruppe unter der Leitung des Briten Desmond de Silva ein, des
       ehemaligen Chefanklägers im Kriegsverbrechertribunal für Sierra Leone. Der
       Bericht der Kommission wurde Anfang 2014 vorgestellt, die deutsche
       Übersetzung am vergangenen Mittwoch in Koblenz in Saal 128 verlesen. Die
       Kommission, die „Caesar“ aus Sorge um sein Leben seinen Decknamen gab, hält
       diesen für glaubwürdig, die Fotos für authentisch. Sie seien „eindeutige
       Beweise für systematische Folter und Tötungen von Inhaftierten durch das
       syrische Regime“. Längst haben auch Untersuchungen des US-amerikanischen
       FBI und von Human Rights Watch die Fotos als echt eingestuft.
       
       Auch das Bundeskriminalamt hat keine Zweifel an ihrer Authentizität. Der
       BKA-Beamte, der die Ermittlungen geleitet und den Mann mit dem Decknamen
       „Sami“ in Berlin vernommen hat, erklärte am vergangenen Donnerstag dem
       Gericht, wie die „Caesar-Files“ aufgebaut sind. Erhalten hat das BKA den
       Datensatz im Februar 2016 von der Liechtensteiner Justiz: zwei Festplatten
       mit insgesamt 97.693 Dateien darauf, über 30 Gigabyte. Ein Mitglied der
       Syrischen Nationalbewegung hatte die „Caesar-Files“ zur Sicherheit in das
       Fürstentum geschickt, aus „Neutralitätsgründen“, wie es der BKA-Beamte
       nennt. Seine Behörde habe Liechtenstein um Rechtshilfe gebeten.
       
       Die Dateiordner auf den beiden Festplatten seien nach
       Geheimdienstabteilungen sortiert gewesen. In Dateiordner 251, benannt nach
       der Abteilung des Hauptangeklagten Anwar R., finden sich 446 Aufnahmen von
       99 Personen. „Das sind 1,49 Prozent der Gesamtaufnahmen“, so der Ermittler.
       Wie viele Dateien davon den Jahren 2011 und 2012 zuordenbar seien, will die
       Vorsitzende Richterin wissen. Das war der Zeitraum, in der der angeklagte
       Anwar R. für das Al-Khatib-Gefängnis verantwortlich war. Aus 2011 keine,
       antwortet der Beamte. Von Mai 2012 gebe es mehrere Dateien zu einer Person.
       Dieser Mann, sagt Rechtsmediziner Rothschild am Dienstag, sei
       wahrscheinlich an seinen Schussverletzungen gestorben. Der Körperzustand
       sei unauffällig, Folterspuren gebe es nicht.
       
       Dass es diesen einen Fotosatz aus al-Khatib gibt, heißt aber nicht, dass es
       in dieser Zeit dort nur einen Toten gab. Zum einen schmuggelten „Caesar“
       und „Sami“ nur einen Teil der gemachten Fotografien aus Syrien hinaus.
       Zudem gebe es bei Damaskus noch ein drittes Militärkrankenhaus, sagt der
       BKA-Mann. Laut Ermittlungen wurden die Toten aus al-Khatib ins
       Militärkrankenhaus Harasta gebracht. „Davon gibt es beim BKA aber keine
       Bilder.“
       
       Der Prozess gegen den mutmaßlichen syrischen Folterer Anwar R. und seinen
       Mitangeklagten wird am Mittwoch fortgesetzt.
       
       4 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [3] /Spektakulaerer-Syrien-Prozess-in-Koblenz/!5714262
 (DIR) [4] https://geschwister-scholl-preis.de/preistraeger/2016/
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