# taz.de -- Einstaatenlösung für Israel und Palästina: Schönes neues Heiliges Land
       
       > Im Vergleich zu den Problemen, die ein Staat für beide Völker mit sich
       > brächte, erscheint die Umsetzung der Zweistaatenlösung wie ein
       > Kinderspiel.
       
       Ein [1][Essay in der New York Times] reichte aus, um Israels Printmedien
       mit heftigsten und kontroversen Kommentaren zu füllen, sechs davon allein
       in der liberalen Tageszeitung Haaretz. Autor des umstrittenen Textes ist
       der US-amerikanische Politologe und Publizist Peter Beinart. Der
       praktizierende Jude, der, als man noch reisen konnte, regelmäßig zu Gast im
       Heiligen Land war, nimmt Abschied von der Zweistaatenlösung. „Ich glaube
       nicht mehr an den jüdischen Staat“, so der Titel seiner Abhandlung.
       Stattdessen stellt er sich eine jüdische Heimat in einem Staat vor, in dem
       Gleichberechtigung für alle BürgerInnen gilt.
       
       Mit seinem bereits im Juli erschienenen Essay, der kürzer ist als dieser
       Text, fordert Beinart die liberalen Zionisten auf, sich loszulösen von dem
       Ziel einer über die Jahre mehr und mehr zur Utopie gewordenen
       jüdisch-palästinensischen Trennung. „Akzeptiert das Ziel der
       jüdisch-palästinensischen Gleichberechtigung.“
       
       Beinart erfindet keineswegs das Rad neu. Schon in den frühen 1980er Jahren
       erklärte der israelische Politologe, Autor und ehemals stellvertretende
       Bürgermeister Jerusalems, Meron Benvenisti, es sei „unmöglich, dieses Land
       zu teilen“. Es sei [2][„fünf Minuten vor Mitternacht“], warnte er in einem
       1982 von der New York Times gedruckten Interview. Mithilfe einer
       umfassenden Datenbank dokumentierte Benvenisti die Verbreitung israelischer
       Siedlungen in den besetzten Palästinensergebieten und kam zu dem Schluss,
       Israel verhalte sich einerseits „wie eine vollblütige Demokratie, aber wir
       haben eine Gruppe von Leibeigenen, die Araber, für die wir diese Demokratie
       nicht gelten lassen“. Das Ergebnis sei, wie Benvenisti in einem
       [3][Interview in Haaretz 2012] erklärte, „eine Situation extremer
       Ungleichheit“.
       
       Vor zwei Wochen starb der 86-Jährige am [4][jüdischen Neujahrsfest Rosch
       ha-Schana], desillusioniert vom Zionismus und bis zum Ende festhaltend an
       der Überzeugung, dass die beiden Völker einfach lernen müssten, miteinander
       zu leben. Sein Tod stieß im Vergleich zum Aufruhr um Beinart auf wenig
       Aufmerksamkeit. Selbst Haaretz, die Zeitung, für die er regelmäßig Kolumnen
       verfasste, brachte keinen sehr umfassenden Nachruf auf den Mann, der in
       seiner Heimat ein einsamer Querdenker blieb.
       
       Anders als Benvenisti galt Beinart bislang als überzeugter Zionist. „Ich
       glaube, dass das jüdische Volk, nachdem es zweitausend Jahre heimatlos war,
       einen eigenen Staat verdient hat, der es in seiner historischen Heimat
       schützt“, schrieb er in dem 2013 veröffentlichten Buch „Die amerikanischen
       Juden und Israel“. Sein aktuelles Essay markiert eine recht dramatische
       Kehrtwende. Beinart zieht die Konsequenz aus dem mittlerweile 27 Jahre
       währenden, fruchtlosen Friedensprozess und – ähnlich wie Benvenisti – aus
       der massenhaften Ansiedlung von israelischen StaatsbürgerInnen im besetzten
       Palästinensergebiet.
       
       Beifall erntet er beim Nationalen Sicherheitsberater von Ex-US-Präsident
       Barack Obama, Ben Rhodes. Beinart sei [5][„mutig, umsichtig und in der
       Lage, Vorstellungen zu entwickeln“], twittert Rhodes und empfiehlt, den
       Essay „gründlich zu lesen“. Staranwalt und Trump-Verteidiger [6][Alan
       Dershowitz hingegen wirft Beinart vor, er trete für eine „Endlösung]“ ein.
       
       Dabei könnte doch alles ganz wunderbar sein. Das alte Palästina, das
       Heilige Land, müsste nicht geteilt werden. Die frommen Juden und Jüdinnen
       könnten zum heiligen Versöhnungstag Jom Kippur nach Hebron pilgern, und
       umgekehrt würde die PalästinenserInnen keine Straßensperre mehr aufhalten,
       wenn sie ihre Verwandtschaft in Nazareth oder Jaffa besuchen wollen.
       
       „Seit dem Wegfall der alten Grenzen brauchte man nur in ein Auto oder einen
       Bus der staatlichen Gesellschaft Egged zu steigen, um einen Ausflug an die
       Strände Tel Avivs zu machen“, schreibt der palästinensische Philosoph Sari
       Nusseibeh in seinem autobiografischen Buch „Es war einmal ein Land“.
       Nusseibeh, der seine Kindheit im einst von Jordanien besetzten Teil der
       geteilten Stadt Jerusalem verbrachte, erinnert sich gern zurück an seine
       erste Landung am Flughafen Ben Gurion kurz nach dem Sechstagekrieg 1967,
       als seine über so viele Jahre geteilte Heimat endlich wiedervereint war.
       Über Jahrzehnte predigte Nusseibeh die Einstaatenlösung und blieb wie
       Benvenisti mit seiner Haltung allein. Bis heute bilden die Palästinser, die
       sich eine friedliche [7][Einstaatenlösung mit gleichen Rechten für Araber
       und Juden] vorstellen können, eine kleine Minderheit. Zu schwer fällt der
       Abschied vom Traum der Eigenstaatlichkeit.
       
       Und in Israel? Da gibt es einen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, der
       zwar die Annexion großer Teile des palästinensischen Gebiets ankündigt,
       sich gleichwohl hütet, das Wort „Einstaatenlösung“ laut auszusprechen.
       Netanjahu zielt auf das Land, nicht auf die Leute. Nicht zuletzt wäre es um
       die Zukunft seiner Likud-Partei schlecht bestellt, wenn die arabische
       Bevölkerung im Land mal eben auf die dreifache Größe anwüchse. Schließlich
       soll Israel jüdisch und demokratisch bleiben. Seit zehn Jahren sind
       Neubürger sogar gesetzlich dazu verpflichtet, einen Eid auf ihre neue
       „jüdische und demokratische“ Wahlheimat zu leisten. In einem Staat für
       beide Völker funktioniert das nicht.
       
       Die jüdische Bevölkerung im Land hängt mehrheitlich an beiden Werten, und
       so stößt Beinarts Essay in Tel Aviv, Haifa und Westjerusalem auf ähnlich
       wenig Zuspruch wie in Ramallah oder Hebron, davon ausgehend, dass ihn auch
       dort jemand liest. Die Sorge um das jüdisch-demokratische Israel ist das
       zentrale Argument von PolitikerInnen wie Zipi Livni, einst Justizministerin
       und letzte Delegationschefin bei Friedensverhandlungen mit der PLO
       (Palästinensische Befreiungsorganisation), für die Zweistaatenlösung. Was
       weltliche, aufgeschlossene NormalbürgerInnen in dem vergleichsweise reichen
       Staat an der Perspektive auf nur einen Staat zusätzlich schreckt, ist das
       ökonomische Gefälle. Wer möchte sich schon gern zwei bis drei Millionen
       neue Arbeitslose ins Haus holen, noch dazu in Krisenzeiten wie diesen? Und
       dann ist da noch die Frage der Flüchtlinge. Hunderttausende
       PalästinenserInnen in libanesischen und syrischen Lagern träumen bis heute
       von der Rückkehr in die Heimat. Viele bewahren sorgsam die Schlüssel auf,
       die Oma und Opa bei sich trugen, als die israelischen SoldatInnen sie vor
       70 Jahren in die Fremde trieben. Niemand soll glauben, dass die Nachfahren
       der Flüchtlinge mal eben auf einen Kaffee vorbeikommen, um sich die alten
       Häuser anzugucken, und anschließend friedlich und zufrieden auf den Dünen
       Südhebrons die Zelte aufzuschlagen.
       
       Im Vergleich zu den Problemen, die ein Staat für beide Völker mit sich
       bringen würde, erscheint die Umsetzung der Zweistaatenlösung wie ein
       Kinderspiel. Die Hunderten Siedlungen und Siedlerstraßen machten aus
       Palästina einen Flickenteppich, sagen Zweifler. Na und? Es gibt
       Transitstraßen, Brücken und Tunnel. Ideen über Ideen lagen auf dem Tisch,
       als man in guten Zeiten des Friedensprozesses gemeinsam über
       Verbindungsmöglichkeiten zwischen dem Gazastreifen und dem Westjordanland
       nachdachte.
       
       Doch vor allem entscheidend ist, dass die Völker mit Ausnahme von Jerusalem
       und Hebron bereits physisch getrennt sind. Sie leben in verschiedenen
       Städten, Dörfern und Siedlungen, fahren mit unterschiedlichen öffentlichen
       Verkehrsmitteln, teils sogar auf verschiedenen Straßen. Letztendlich sind
       die beiden Gesellschaften auch in ihrer Mentalität sehr verschieden,
       sprechen entweder Hebräisch oder Arabisch, beten entweder in der Moschee
       oder in der Synagoge.
       
       Die Flucht in die Einstaatenlösung erscheint bei den wenigen VertreterInnen
       in Israel und den Palästinensergebieten, denen die Idee als die einzig
       realistische erscheint, beinah wie ein Verzweiflungsakt. Neben der weiteren
       Ausbreitung der Siedlungen in seiner Heimat fürchtet der Palästinenser
       Hamada Jaber „[8][den Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde
       (PA)“], sei es aufgrund ökonomischer Zwänge oder infolge des internen
       Konflikts zwischen den führenden Parteien Fatah und Hamas. Jaber ist
       Vorstandsmitglied der palästinensisch-israelischen Initiative One State
       Foundation, der ein paar Dutzend, höchstens einige Hundert Aktivisten
       angehören. Es sei von „strategischer und schicksalhafter“ Bedeutung, nicht
       auf den Zusammenbruch der PA zu warten, sondern ihre Auflösung aktiv
       voranzutreiben, um neben der PLO die Ortsverwaltungen, Bezirksräte,
       Rathäuser und Volkskomitees an Einfluss gewinnen zu lassen. Weder von der
       israelischen Politik noch von internationaler Seite sei Veränderung zu
       erwarten, schreibt Jaber. „Der Status quo zeichnet ein Bild einer
       Einstaaten-Realität, in der Israel tagtäglich mehr Tatsachen zu eigenen
       Gunsten schafft.“ Es sei an den Palästinensern, „den Rassismus dieser sich
       entwickelnden De-facto-Realität“ ans Licht zu bringen und die Gründung
       eines demokratischen Staates zu erzwingen.
       
       Ähnlich argumentiert Haaretz-Kolumnist [9][Gideon Levy in seiner Antwort an
       Peter Beinart], obschon er zur gegensätzlichen Schlussfolgerung kommt.
       Beinart habe „eine Erleuchtung“ gehabt. „Die schönen Jahre des
       berauschenden Glaubens, es sei möglich, liberaler Jude zu sein und
       gleichzeitig Israel zu unterstützen, sind vorbei.“ Seit 53 Jahren bestehe
       nun schon ein Staat, dessen „Apartheidsregime sich mit übelerregender
       Geschwindigkeit tiefer und tiefer verwurzelt“. Beinart stehe
       stellvertretend für die amerikanischen Juden, die anfangen, „einen klaren
       Blick auf Israel, ihren ‚Darling‘, zu werfen“. Genau das ist der Punkt, der
       den Essay des US-Politologen so hohe Wellen schlagen lässt: Das
       beunruhigende Wegbrechen der so selbstverständlichen Rückendeckung des
       US-Judentums. Für die Generation Beinarts spielt der Holocaust nicht mehr
       dieselbe Rolle wie für die ihrer Eltern, denen das Wissen um die Existenz
       Israels hilft, ruhig schlafen zu können.
       
       Die jungen US-Juden sind Ansprechpartner für die Palästinenser, um dem
       Unrecht ein Ende zu machen. Allerdings nicht mit einer Einstaatenlösung.
       „Man kann sich keine wahnhaftere Illusion vorstellen“, schreibt Gideon
       Levy. „Ein palästinensischer Staat wird ganz sicher kommen. Wartet nur ab.
       Ihr werdet schon sehen.“
       
       4 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.nytimes.com/2020/07/08/opinion/israel-annexation-two-state-solution.html
 (DIR) [2] https://www.nytimes.com/1982/11/01/opinion/abroad-at-home-5-minutes-to-midnight.html
 (DIR) [3] https://www.haaretz.com/.premium-zionism-was-not-born-in-sin-but-in-illusion-1.5179945
 (DIR) [4] /Juedisches-Neujahrsfest-in-der-Ukraine/!5713957&s=Benjamin+Netanjahu/
 (DIR) [5] https://twitter.com/brhodes/status/1280708091713994755
 (DIR) [6] https://www.newsweek.com/beinarts-final-solution-end-israel-nation-state-jewish-people-opinion-1517437
 (DIR) [7] https://www.washingtoninstitute.org/fikraforum/view/palestinian-majority-rejects-two-state-solution-but-backs-tactical-compromi
 (DIR) [8] http://pcpsr.org/sites/default/files/5%20One%20state%20solution_Hamada%20Jaber%20in%20design%20English%20transl.pdf
 (DIR) [9] https://www.haaretz.com/opinion/.premium-peter-beinart-s-great-change-1.8987401
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Knaul
       
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