# taz.de -- Die Seele von „Clärchens Ballhaus“: Nachruf auf Schnurrbart und Schnauze
       
       > Als Garderobier, Rausschmeißer und gute Seele prägte er Clärchens
       > Ballhaus über Jahrzehnte; 2019 musste er gehen. Günter Schmidtke ist
       > gestorben.
       
 (IMG) Bild: So kannten ihn viele: Günter Schmidtke 2008 im „Clärchens Ballhaus“
       
       Berlin taz | Ein Hinterhaus an der Auguststraße in Mitte, die graue, teils
       unverputzte Fassade bröckelt. Das Vorderhaus im Krieg weggebombt, rote
       Rosen säumen den weitläufigen Eingang des Gartens. Man kann da herrlich
       sitzen, speisen, den Geräuschen im Scheunenviertel lauschen.
       
       Im Sommer wird Clärchens Ballhaus, das legendäre Tanzlokal, wieder seine
       Türen öffnen. Nach einer längeren Ruhephase: Besitzerwechsel, Umbau,
       Lockdown. Die Gäste freuen sich schon jetzt über Konzerte, aber es fehlt
       irgendwas, irgendwer. Das bisherige Personal, aber ganz besonders Günter
       Schmidtke. Über fünfzig Jahre arbeitete er hier, war die gute Seele des
       Betriebs.
       
       Nach langer Krankheit ist Günter, ein Mann mit kunstvollem Schnauzer und
       schneeweißen Haaren, dessen ganze Familie seit eh und je in „Clärchens“
       arbeitete, gestorben, 85 Jahre wurde er alt. Mit seinem Fortgang endet eine
       Ära. Die Hauptstadt hat eines ihrer seltenen Originale verloren.
       
       Ich mochte seine Direktheit, seine Berliner Schnauze, seinen Humor. „Juten
       Tach, fliegender Holländer! Jib´ deine Gören mal jut wat ze essen, se sehen
       etwas blass aus! Und nimm deene Frau ihr Mantel ab und jib se mir!“, befahl
       der Garderobier, stets im Anzug und mit weißer Krawatte, der gleichzeitig
       auch Rausschmeißer war.
       
       ## „Zieh Bauch ein, Junge!“
       
       Immer hatte er einen Spruch drauf. Nicht nur für die, die reinkamen, in der
       Schlange standen, sondern auch für die, die nach dem Tanzen weiterzogen:
       „Paß uff deene Kleenen uff!“ Oder die, die gegangen wurden: „Wenn eener zu
       volle war, sich bei den Bräuten daneben benahm, den hab ick rausbugsiert“,
       sagte er einmal.
       
       Günters Fitness war auch im hohen Alter phänomenal. Seine rechte Direkte,
       auf meinen Solarplexus oder Magen gerichtet, war blitzschnell: „Zieh Bauch
       ein, Junge!“ Seine Muskulatur war durchtrainiert wie bei einem Profiboxer.
       Als würde er den halben Tag Sit-ups und Liegestütze machen.
       
       „Was ist dein Geheimnis?“, fragte ich ihn 2013, als das Ballhaus vor genau
       hundert Jahren von Clärchen gegründet worden war. „Ach“, sagte er, „von
       hart, ordentlisch und sauber arbeiten is noch nie eener jestorben“, nahm
       ein Schluck von seiner Pulle und zündete sich eine Zigarette an.
       
       Er saß genüsslich im Wintergarten, spielte mit seinem goldenen Siegelring,
       die Tür zum kleinen Innenhof geöffnet. Drinnen aßen die Gäste, der Saal war
       voll, weiße Decken auf den Holztischen, an den kahlen Wänden hingen
       silberne Lamettagirlanden. Pärchen und solche, die es werden wollten,
       nahmen währenddessen an einem Tangokurs teil oder schwooften sanft herum.
       
       ## „Weeßte, meen Kleener“
       
       Draußen vermischte sich die Schwüle von drinnen mit der etwas kühleren
       Abendluft. „Weeßte, meen Kleener, hier sah ick als junger Bursche de
       Russen. Det waren Kosaken, die ihre jestohlenen Pferde jefressen haben.“
       Günter war ein Trümmerkind aus der Kleinen Hamburger Straße, spielte
       zwischen den Ruinen der ehemaligen Reichshauptstadt mit Blindgängern.
       Stalins Soldaten gaben ihm etwas zu futtern: „Seitdem ess ick keen
       Pferdefleisch mehr.“
       
       „Keule“, so Günters Rufname, nach eigener Aussage geboren auf einem
       Kartoffelacker bei Berlin, war auch ein Kind der DDR. Als Nachkriegsjunge
       musste er im Oderbruch mit seinem Bruder Manfred Gemüse klauen. Früh
       verließ er die Schule, wurde Bauarbeiter an der Stalinallee, war Handwerker
       und Autoschrauber. Günter wurde Kraftfahrer, war beteiligt am Mammutprojekt
       Fernsehturm. Danach wurde er ausgezeichnet als „Held der Arbeit“. „Dafür
       musst’n wa den Schutt vom Stadtschloss wegfahren“, erzählte er mir in
       seiner Plattenbauwohnung hinterm Haus des Lehrers am Alexanderplatz. Um
       1968 kam er zum Ballhaus, damals in Händen von Clara Habermann, die neu
       geheiratet hatte. Seine Mutter Edith war an der Kasse, sein Bruder Manfred
       wurde Kellner.
       
       In den Jahren danach wurde Günter zum Gesicht des Tanzlokals. Nach der
       Wende, wieder eine Stunde null für Berlin, wurde das Geschäft schwieriger.
       „Mein Start vor Ort war 1991“, sagt seine jüngste Tochter Ilka, damals
       gehörte der Laden der Familie Wolff. Aber die NVA-Soldaten, die
       Westbesucher und das alte Publikum kamen immer weniger zum
       Gesellschaftstanz, stattdessen waren in den Brachflächen von Mitte das
       Kunsthaus Tacheles und Techno angesagt. Clärchens Ballhaus lag lange im
       Dornröschenschlaf, während das ehemals jüdische Scheunenviertel wie ein
       Magnet junge Abenteurer, Lebenskünstler, Studenten und Hausbesetzer aus der
       ganzen Welt anzog.
       
       „Um 2004 übernahmen wir das Traditionshaus“, erzählt Christian Schulz, „mit
       Schwung und neuem Konzept, aber auch mit dem alten Personal, Günter und
       seiner Familie.“ Es waren die Jahre nach dem Crash der Dotcom-Blase, Berlin
       war arm und sexy: „Die Leute sehnten sich nach einem neuen
       Gemeinschaftsgefühl“, so der vorletzte Betreiber.
       
       ## Bier und Bulette
       
       Schulz stand damals mit Günter zusammen an der Tür: „Durch Kommunikation
       mit Niveau und natürlich seine wunderbaren Späßchen redete er ältere Damen
       wieder herein. Er bot Ihnen Schutz. Unser Angebot: Tango und Swing,
       Foxtrott und Walzer, neben ofenfrischer Pizza, Bier und Bulette. Die
       jungen, hippen Leute sahen das, fanden’s toll und rannten uns die Tür ein.
       Alle suchten bei uns den Richtigen für den Abend.“
       
       An der Außenwand des „Clärchens“, benannt nach Clara Bühler, die in der
       Kaiserzeit mit ihrem Mann das Tanzhaus 1913 eröffnete, hängt ein hellblaues
       Schild mit Herzen an der Fassade. Vor sieben Jahren, als alle Welt zum
       Besuch war, kam eine Schleife dazu: „Hundert Jahre Hochbetrieb!“ Der
       Spiegelsaal oben war immer ausgebucht, eine Drehkulisse für
       Hollywood-Blockbuster wie „Inglorious Basterds“.
       
       „Er behandelte alle Menschen gleich“, erinnert sich Christian Schulz an
       Günter Schmidtke: „Er machte Witze mit Loriot, sprach mit Max Raabe oder
       Bundeskanzlerin Merkel wie mit unseren normalen Gästen.“ Günter war der
       bekannteste Pförtner der Stadt, auf einer Ebene mit Sven Marquardt aus dem
       Berghain.
       
       Im vergangenen Jahr musste Schulz nach einem Streit mit seinem
       Theaterfreund und Kompagnon David Regehr seinen charaktervollen schwarzen
       Hut nehmen. Das historische Haus wurde an einen reichen Kulturunternehmer
       und Milliardärsspross verkauft. „Auch Günters Familie, seine Tochter Ilka,
       ihr Mann Lothar und sein Enkelsohn Max, auch an der Garderobe, mussten
       gehen.“
       
       ## „Der Telesparjel“
       
       Das Drama hatte Günter sehr mitgenommen, die Schließung setzte ihm zu,
       berichtet seine Tochter Petra. Er zog sich zurück in seine Platte. Da bot
       er mir Kaffee und Zigaretten an, ich brachte ihm Kuchen. „Dit da“, wies er
       von seinem Balkon über den Alex, „is der Telesparjel. Den hab ick mit
       jebaut“, erzählte er meinen Söhnen: „Etwa 31.000 Tonnen Zement ham wa
       jeschleppt.“
       
       Als Rückzugsort hatte Günter immer seine Familie: vier Kinder, drei Enkel,
       sechs Urenkel. Seine Frau Margot starb vor einigen Jahren an Krebs. „Aba
       nur zu Hause hocken“, sagte er mir einmal, „dit is nüscht für mich. Da jeh
       ick ein.“ Fünf Mal kündigte er bei Christian Schulz, fünf Mal stellte der
       ihn wieder ein.
       
       Das Dasein als Witwer, hinter den Geranien auf dem Balkon, das war nichts
       für Günter: „Ick sitz nich zu Hause und trinke vor ma hin, wie de andern.
       Ick muss ooch wat dazuverdien, weil ick bekomm nur ne kleene Rente. Und die
       Miete hier anner Karl-Marx-Allee schluckt allet uff.“
       
       Gerne entspannte er beim Angeln, auf seiner Datscha mit seinem Enkel Max.
       1993 entstand ein herrlicher Dokumentarfilm über Günters Leben: „Schmidtke,
       der Mann vom Alex“. 2014 befragte ich ihn für ein Porträt im
       niederländischen Fernsehen zum Thema 25 Jahre Mauerfall.
       
       ## „Ein wichtiger Zeitzeuge“
       
       Günter war nachdenklich, als wir auf den Alexanderplatz gingen: „Berlin,
       meene Jeburtsstadt, hat sich sehr jeändert.“ Nicht alle Veränderungen nach
       der Einheit fand er gut. Das große Kapital, die vielen Zugezogenen aus der
       ganzen Welt, das war nicht so sein Ding, und das machte er auch deutlich.
       
       Als Kind gab es Pflichtschießen und Bombenangriffe, war er in der
       Hitlerjugend. „Da musst’n wa Sieg Heil brüllen.“ Im „Clärchens“ der
       Nullerjahre legte dagegen mein ungarischer Freund Charly jüdische
       Klezmer-Platten und Balkan-Beats auf. „Günter war ein wichtiger Zeitzeuge
       des letzten Jahrhunderts“, so Christian Schulz. Der alte Mann erinnerte
       mich daran, dass er in der DDR aufwuchs: „Stalins rote Ratten zwangen uns,
       die Faust stramm in die Luft zu halten. Sie wollten mit aller Gewalt gute
       Kommunisten aus uns machen.“
       
       Günters Metier wurde jedoch Garderobier. „Den Anordnungen ist unbedingt
       Folge zu leisten“, steht auf einem Schild neben der Theke, wo Günter auf
       einem Foto mit den Händen ausgebreitet steht. Es ist das erste Bild im
       faustdicken Band von Marion Kiesow, einer viel verkauften Kulturgeschichte
       des „Clärchens“.
       
       Günter bekam 1986 den Ehrentitel „Aktivist der sozialistischen Arbeit“,
       auch für seine „vorbildliche, aktive gesellschaftliche Arbeit“. In der
       Gesellschaft aktiv, das war Günter, ein Arbeiterkind. Ein Vorbild, das
       auch.
       
       12 Jun 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Rob Savelberg
       
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