# taz.de -- Mythen über Corona in Ostdeutschland: Die da oben, wir hier unten
       
       > Für manche Ostdeutsche liegt der Vergleich von Coronapolitik und
       > DDR-Zeiten nahe. Eine privilegierte Regierung erwartet Vertrauen von der
       > Bevölkerung.
       
 (IMG) Bild: Demonstration gegen Corona-Beschränkungen in Stuttgart
       
       An die Regierung! Wann dürfen wir freie Menschen sein? Die Sklavenzeit ist
       doch längst vorbei.“ So beginnt ein anonymer Brief an Erich Honecker aus
       dem Jahr 1983. Der Absender beklagt sich bei dem DDR-Staatschef über
       Mangelwirtschaft, fehlende Reisefreiheit und schlechte Luft: Aber auch über
       die vielen Polen, die in Ostberliner Geschäften einkaufen. Der Brief ist
       eine Mischung aus Hilflosigkeit, Wut und Ressentiment, der Ton schwankt
       zwischen Beleidigung und Pathos. „Man hat uns alles genommen“, schreibt der
       Verfasser und verweist auf die Nazizeit. „Unsere Großväter meinen, dafür
       haben sie nicht gekämpft und gelitten! Wir wollen die FREIHEIT!!!“
       
       Briefe wie diesen gab und gibt es schon immer. Menschen wenden sich an ihre
       Regierung, die sie als Obrigkeit verstehen. Als verstrickten Klüngel, den
       man verachtet, von dem man als „kleiner Mann“ jedoch unglücklicherweise
       abhängig gehalten wird. Mit den Protesten gegen die Politik der aktuellen
       Bundesregierung in Zeiten von Covid-19 verhält es sich ähnlich. Viele
       Protestierende, man sieht es an ihren Plakaten und Parolen, verstehen sich
       als staatliche Verfügungsmasse, der „die Wahrheit“ nicht zugetraut wird und
       über deren Leben und Fortkommen durch anonym waltende, ins Unkenntliche
       verflochtene Kräfte verfügt wird.
       
       Man kann sich darüber leicht lustig machen – Menschen, die Angela Merkel
       für eine Reptiloide halten oder meinen, einer Gehirnwäsche über das
       Trinkwasser unterzogen zu werden, entmachten sich als handelnde Individuen
       ja vorsorglich selbst. Verschwörungsmythen machen die Problemlage angenehm
       schlicht. Aber das allenthalben zu beobachtende Misstrauen in die Politik
       und ihre VertreterInnen ist natürlich auch das Ergebnis jahrzehntelangen
       Handelns. Das Versprechen des hochtourigen Neoliberalismus lautet grob
       gesagt: Macht keine Scherereien, seid gute KonsumentInnen, und fragt nicht
       nach den globalen Folgen unserer Politik. Im Gegenzug hält Vater Staat euch
       Ärger vom Hals. Er belohnt die Reichen, hält die Prekären auf niedrigem
       Niveau bei Laune und gibt allen ein Gefühl von Überlegenheit anderen
       gegenüber. Vertraut uns einfach!
       
       ## Das Vertrauen erschüttert
       
       Der weltweite Ausbruch der Coronapandemie bringt dieses Prinzip an sein
       vorläufiges Ende. Menschen sind durch ein unsichtbares Virus bedroht.
       Covid-19 kann sie das Leben kosten. Und plötzlich ist es überhaupt nicht
       mehr egal, ob man seinem Staat nur halbwegs vertraut. Bis Angela Merkel „Es
       ist ernst, nehmen Sie es auch ernst“ sagte, vergingen wertvolle Wochen. Es
       fehlte an Schutzmasken und Desinfektionsmitteln, vor allem aber an
       verlässlichen, verifizierbaren Informationen und nachvollziehbaren
       Handlungsempfehlungen. Das macht misstrauisch. Wer misstraut, macht Fehler.
       Und wer Fehler macht, kann an deren Folgen tatsächlich: sterben.
       
       Während die Regierung also ab Mitte März Milliarden ins Land pumpte und
       Bilder der Einigkeit und Tatkraft produzierte, gingen nach und nach die
       MinisterpräsidentInnen eigene Wege. Spielplätze ja, Schwimmbäder nein,
       Kitas vielleicht, Schulen stufenweise – alles komplett unübersichtlich und
       sechzehnmal anders verordnet.
       
       Doch wehe, es wird sich nicht daran gehalten. Der Staat kann sehr
       ungemütlich werden, wenn Menschen zu zweit auf Parkbänken sitzen. Aber auch
       sehr nachsichtig, wenn es um die Bundesliga geht. Oder wenn 3.000 statt der
       angemeldeten 80 Anti-Corona-DemonstrantInnen ohne Mundschutz und
       Mindestabstand auf dem Münchner Marienplatz eintrudeln.
       
       Das Chaos wird perfekt durch Politiker wie Christian Lindner und Thomas
       Kemmerich, die öffentlich einen Freund innig umarmen oder zusammen mit
       Nazis gegen die Bundesregierung demonstrieren. Oder Boris Palmer, der
       meint, die Freiheit der Mehrheit auf Kosten jener Menschen durchsetzen zu
       können, „die in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Das sind Handlungen
       und Äußerungen, die durchaus den Verdacht nähren können, dass
       PolitikerInnen sich Dinge herausnehmen, weil nicht einmal sie selbst dem
       Staat vertrauen, den sie repräsentieren. Weil sie über Wissen und Schutz
       verfügen, deren andere nicht teilhaftig werden.
       
       ## Der Vergleich zur späten DDR
       
       Für viele, vor allem Ostdeutsche, liegt hier der Vergleich zur späten DDR
       nahe. War es nicht damals auch schon so, dass für die da oben andere Normen
       galten, andere Gesetze, Privilegien vor allem? Dass die politische Führung
       Einsatz und Vertrauen verlangte, während sie selbst den Mangel nicht
       kannte, reisen durfte und sogar bessere ÄrztInnen hatte als die Mehrheit?
       Weil sie Zugang hatte zu einem Bereich der Macht, wo das eine gesagt wird,
       aber das andere getan? Ostdeutsche, die unter den politischen Verhältnissen
       in der DDR konkret gelitten haben, können sich aktuell in ihrem Gefühl der
       Machtlosigkeit durchaus bestätigt fühlen.
       
       Man kann das absurd finden. Oft ist es das auch. Denn selbstverständlich
       macht es einen Riesenunterschied, ob man eine Krise in einem repressiven
       und misstrauischen Land wie der DDR erlebt – ohne freie Presse und freie
       Wahlen, ohne unabhängige Justiz und ohne das Vertrauen der Politik in die
       BürgerInnen (und umgekehrt). Die ostdeutsche Erzählung der politisch
       Privilegierten lebt bis heute fort. Die da oben – wir hier unten. Und
       selbst wenn am Ende die Wasserhähne in den Häusern der Politbüromitglieder
       doch nicht wie erwartet vergoldet waren – die Erfahrung von Unterlegenheit,
       von Uninformiertheit, von Machtlosigkeit und nie zu erreichender Teilhabe
       ist noch immer in Teilen der Bevölkerung präsent.
       
       Gerade in Ostdeutschland erinnert die Tonalität des aktuellen Protests
       irritierend an diese Zeit. Ein Brief an die in Sachsen-Anhalt erscheinende
       Volksstimme fasst das Gefühl von Vergeblichkeit und Ressentiment gut
       zusammen: „Im Osten trifft das Virus auf Gegner und nicht auf Opfer“,
       schreibt ein Leser. Es klingt wie eine nur mäßig witzig formulierte
       Drohung.
       
       Mag sein, dass die aktuellen Zustimmungswerte der Bundesregierung mit zwei
       Dritteln auskömmlich sind. Gerade mal jedeR fünfte BürgerIn befürchtet,
       dass Grundrechte dauerhaft eingeschränkt werden könnten. Und selbst Angela
       Merkel findet, diese Krise sei „eine Zumutung für die Demokratie“. Daraus
       abzuleiten, dass der Bundesregierung umfassend vertraut würde, geht aber
       fehl. Im Gegenteil, das Misstrauen wächst. Wie schrieb 1983 der DDR-Bürger
       an Erich Honecker? „In unserem feinen Staat darf ja kein Mensch seine freie
       Meinung äußern. Dafür haben wir ja Maulkörbe bekommen!“ Damals wie heute –
       derselbe Sound.
       
       22 May 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Maier
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Coronavirus
 (DIR) Verschwörungsmythen und Corona
 (DIR) DDR
 (DIR) IG
 (DIR) Schwerpunkt AfD
 (DIR) Schwerpunkt Pegida
 (DIR) Bauernfrühstück
 (DIR) Bauernfrühstück
 (DIR) 30 Jahre friedliche Revolution
 (DIR) Verschwörungsmythen und Corona
 (DIR) Verschwörungsmythen und Corona
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Corona in Ostdeutschland: Nicht krisentauglich
       
       Die Pandemie zeigte, wie fatal mangelndes Vertrauen in die Politik sein
       kann. In Ostdeutschland hat eine Minderheit das Leben aller verschlechtert.
       
 (DIR) Ostdeutschland: Wo warst du am 18. März 1990?
       
       Wir Ostler*innen haben die Anpassung an den Westen selbst gewählt. Statt
       unbequeme Fragen zu stellen, beklagen wir uns über zu wenig Spitzenjobs.
       
 (DIR) Ganz praktisch gegen das Klima: Zeugnisse beim TÜV
       
       Eine Schule lässt den Abiturjahrgang per Auto zum Abschluss defilieren. So
       ist Brandenburg? Nicht immer, in diesem Falle aber leider schon.
       
 (DIR) Schlechte Stimmung bei der MPK-Ost: Politisches Sedativum
       
       Um von aktuellen und unangenehmen politischen Fragen abzulenken, schwärmen
       Merkel und Berlins Bürgermeister von 1989/80 – funktioniert immer.
       
 (DIR) Umweltschutz in der Wende-Ära: Der Immer-Grüne
       
       Ernst Paul Dörfler beobachtet Bienen und Biber. Parteipolitik hat er
       abgehakt. Besuch beim einstigen Chef des Umweltausschusses der
       DDR-Volkskammer.
       
 (DIR) Jan Philipp Reemtsma über Corona-Demos: „Impfangst als Weltverschwörung“
       
       Hinter den kruden Theorien stehe oft Verunsicherung, sagt Jan Philipp
       Reemtsma. Gekränkte Narzissten regredieren auf den Status von Kleinkindern.
       
 (DIR) Kritik an Corona-Maßnahmen: Hinterher nicht immer schlauer
       
       Je erfolgreicher die Coronamaßnahmen sind, desto leichter fällt es, sie im
       Nachhinein für unnötig zu halten. Über das Präventionsparadox.