# taz.de -- Flanieren in Berlin: Gehen, wahrnehmen und denken
       
       > Der Audio-Walk „The Politics of Public Space II“ durch den Wedding bietet
       > Nutzer*innen ein vielstimmig orchestriertes Berlin-Erlebnis.
       
 (IMG) Bild: Was trägt der Flaneur im 21. Jahrhundert? Einen fetten Kopfhörer
       
       Flaneure wie der Schriftsteller und Journalist Sigi Sommer, der als
       „Blasius der Spaziergänger“, den Münchner Alltag pointiert kolportierte,
       gelten als ausgestorben; das Sichtreibenlassen in dieser speziellen Form
       ist ein Phänomen der Moderne, und doch feiert jetzt der Stadtspaziergang,
       als Bewegungsart der Stunde, sein Comeback.
       
       Audiowalks, wie sie die Agentur [1][Poligonal] anlässlich der Krise
       entwickelt hat, funktionieren auch unter Einhaltung von Physical
       Distancing. Der Stadtraum soll reflexiv erschlossen werden. Ein
       Selbstversuch: Tiefster Wedding, der Ort des ersten „Echos“ des Walks „The
       Politics of Public Space II“ ist in Sichtweite. Wird eine Station erreicht,
       spielt das Smartphone über eine [2][App], die auf Geotagging basiert, die
       passende Tonspur ab. Doch noch ist nichts zu hören, also noch ein bisschen
       schlendern, zwischen Müllerstraße und Café Leo, bis sich der Blick
       verfängt, genau wie die Gedanken.
       
       Eher keine Gegend für einen Upper-Class-Dandy des 19. Jahrhunderts, den
       frühesten Flaneur, der in Metropolen wie Paris zu Hause war und den Luxus
       solcher Weltstädte als Teil seiner Existenz noch gleichsam interessenslos
       und aus einem intrinsischen Vergnügen heraus betrachtet haben mochte.
       
       Auch der spätere Müßiggänger, nun Künstler oder Essayist, begriff sein
       Spazieren als Selbstzweck, als Gegenentwurf zur Hast der Stadt, mit der er
       sich allerdings „als Preisgegebener der Menge“, wie Walter Benjamin
       notierte, zu arrangieren hatte – „der Rausch, dem er sich überlässt, ist
       der der vom Strom der Kunden umbrausten Ware“.
       
       ## Distanz als Teil des urbanen Lebens
       
       „Pling“ – der erste Audiotrack springt an, und Sabine Knierbein, unter
       anderem Professorin für Europäische Urbanistik, spricht. Den derzeit von
       Restriktionen bestimmten Stadtraum, einen Ort der Vielfalt und sozialen
       Mischung, setzt sie in Bezug zu Abhandlungen des Philosophen und Gründers
       der Stadtsoziologie, Georg Simmel. So sei die Einhaltung von Distanz seit
       je Teil des urbanen Lebens gewesen, diente sie den Metropoliten doch als
       Schutz vor Reizüberflutung und Enge.
       
       Im Hier und Jetzt steht einem gemächlichem Schreiten wenig im Wege. Nie
       wirkte der Leopoldplatz so leer gefegt, und es entfällt „ein Bad in der
       Brandung“, als das der Archetyp des Straßenstreunens und Virtuose dieser
       Kunstform, Franz Hessel, „das besondere Vergnügen, langsam durch belebte
       Straßen zu gehen, überspült zu werden von der Eile der anderen“,
       definierte.
       
       Doch wird das flanierende Subjekt auch gegenwärtig, so wie Hessel schon vor
       mehr als neunzig Jahren konstatierte, argwöhnisch beäugt. Wenn auch aus
       einem anderen Grund – der Autor von „Spazieren in Berlin“ befürchtete, man
       könnte ihn für einen Taschendieb halten.
       
       Die Umgebung ist nur scheinbar verwaist. Ein Jogger überholt auf dem Weg
       zum Max-Josef-Metzger-Platz, wo gepicknickt wird, Kinder, die die
       „Trümmerfrauen-Stele“ umtoben, und die App gibt den rein akustischen
       Beitrag „Listening to a Pandemic“ wieder, den Sound eines Lockdown:
       Staubsauger, Duschen oder Kaffeetassenklappern.
       
       Derweil wandern die Augen von der zwölf Meter in den Himmel ragenden Säule,
       die an den Wiederaufbau Berlins und den Volksaufstand in der DDR am 17.
       Juni 1953 erinnert, zu den Parkbänken, einem Treff von Drogennutzer*innen,
       so stark frequentiert wie lange nicht.
       
       Die Stadt werde aktuell paradoxerweise teils intensiver, sogar kreativer
       genutzt, erzählt Architekt und Poligonal-Mitbegründer Lukas Staudinger
       später am Telefon. Bewusst hätten sie Anlaufstellen für die Walks
       ausgewählt, an denen sich die Covid-19-bedingten Veränderungen gut
       beobachten ließen und sich ohnehin urbane Transformationsprozesse
       vollzögen.
       
       ## Öffentlicher Raums als politische Bühne
       
       Beim Gartenprojekt „Himmelbeet“ an der Schulstraße werkelt die
       Nachbarschaft. Passend gibt es dazu „Gemeinschaftsgärten und
       Zivilgesellschaft“ auf die Ohren, den Auszug eines Artikels der Mitautorin
       von „Stadt der Commonisten“, Karin Werner, rezitiert und kommentiert von
       dem Stadt- und Freiraumplaner Toni Karge.
       
       Unterschiedlichen Menschen eine Stimme zu geben sei ihr Ziel, sagt
       Staudinger. So sei der interdisziplinäre Audiomix aus Stimmen von
       internationalen ExpertInnen plus etablierter Literatur zustande gekommen.
       
       Insgesamt kann beim Streifzug vom Leopold- bis in den Sprengelkiez in 15
       Audiobeiträge reingehört werden, in Schriften von Gia Kourlas, James
       Holston oder Lucius Burckhardt, vorgelesen von Soziologen, Historikern oder
       Stadtanthropologen, die Querverweise geben oder Gedachtes beisteuern. Dabei
       werden einige Aspekte angesprochen, City Maintenance, Gentrifizierung oder
       die Verhandlung des öffentlichen Raums als politische Bühne. Eine Richtung
       gibt der Weddinger Walk indes nicht vor, vielmehr unterfüttert er das
       Gehen, Wahrnehmen und Denken.
       
       Auch die anderen Poligonal-Audiorundgänge sind empfehlenswert, wie der zur
       Kunst am Bau um den Alexanderplatz; ein vierter ist bereits in der Mache.
       Die akustische Zeitreise ins Berlin der 1920er und 1930er Jahre wird
       bestückt sein mit Texten von Siegfried Kracauer oder der in den letzten
       Jahren der Weimarer Republik berühmt gewordenen [3][Irmgard Keun], die in
       ihrer Romanprosa aus der nicht mehr ganz Neuen Sachlichkeit mit präzise
       gehörter Umgangssprache, mit Lyrismen, inneren Monologen und einem eigenen
       großstädtischen Perzeptionstopos artistische Popkultur machte.
       
       Schon in ein paar Wochen soll diese Erkundungstour, die sich demnach auch
       der sträflich vernachlässigten weiblichen flânerie widmen will, abrufbar
       sein.
       
       28 May 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] http://www.poligonal.de/
 (DIR) [2] https://explore.echoes.xyz/collections/eQGJNkNARsjIJNP5
 (DIR) [3] /Ein-Ort-fuer-Exilkunst/!5659283
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jana Janika Bach
       
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