# taz.de -- Frankreich und der große Streik: En Marche aus dem Tritt
       
       > Kandidatenstreit, Befehlston von oben und stagnierende Mitgliederzahlen:
       > Präsident Macrons Regierungspartei wirkt zerrupft.
       
 (IMG) Bild: Mit geklauten Portraits von Macron protestieren die Franzosen in Bayonne gegen seine Politik
       
       Paris taz | Er ist in Bewegung, keine Frage. In diesem Moment ist das vor
       sich hin quietschende, leicht ruckelige Abteil der Pariser Metro-Linie 9
       seine Bühne, er bespielt sie mit Verve. Einige Fahrgäste reißt er aus ihrem
       Feierabenddämmer, sie springen auf, grüßen [1][Cédric Villani], den
       schmalen, in edles dunkelblaues Tuch gewandeten und leichtfüßigen
       46-Jährigen. Einen breiten Binder trägt der am Hals und eine Spinnenbrosche
       am Revers.
       
       Ab und an geht auch ein Daumen nach oben. Der dunkelhaarige, vollbärtige
       Mann, den Dandyhaftes umweht, ist schließlich Bürgermeisterkandidat hier in
       der Hauptstadt. Ein Knochenjob, wenn er es wird, ein Job, der im politisch
       straff zentralistisch organisierten Frankreich nicht irgendeiner ist, und
       oft eng verwoben mit der nationalen Politik. [2][Jacques Chirac] etwa,
       Gaullist und späterer Staatspräsident, machte ihn bis 1995. „Monsieur
       Villani, ich mag Ihre Bewerbung, Sie sind nicht so wie andere Politiker.
       Sie haben was Echtes, sind ein Original“, ruft ein junger Mann angetan mit
       einem neonfarbenen Rucksack aus Jute. Dann steigt er winkend aus.
       
       Cédric Villani freut’s sichtlich. Mit seiner Liste „Vivons Paris“ will er,
       bis jetzt inhaltlich noch wenig konkret, vor allem mehr Ökologie und
       Miteinander im Großraum Paris durchsetzen, in dem über 12,5 Millionen
       Menschen zu Hause sind. Villani ist einer der bekanntesten lebenden
       Mathematiker – 2010 mit der Fields-Medaille ausgezeichnet, dem Nobelpreis
       der Rechenkunst. Wann das Spielen mit Inhalten bei ihm ein Durchspielen,
       ein Durchrechnen wird? Seine relativ neue Spielwiese ist jedenfalls die
       Innenpolitik – seit Mitte 2017 ist der gebürtige Südwestfranzose
       Abgeordneter in der Nationalversammlung.
       
       Villani, der noch vor fünf Jahren die amtierende sozialistische
       Bürgermeisterin Anne Hidalgo in Paris unterstützte, ist aber auch Mitglied
       der im April 2016 vom heutigen Staatspräsidenten gegründeten Bewegung La
       République en Marche. Sein perfekt zur Inszenierung von [3][Emmanuel
       Macron] passendes Credo damals wie heute: „Ich bin politisch weder links
       noch rechts noch in der Mitte.“
       
       Fast 420.000 Menschen gehören heute [4][En Marche] an, die Einschreibung
       ist gratis, seit Ende 2017 stagniert der Zuwachs. Mitglieder können sich
       lokal in sogenannte comités einbringen, die Bürger*innenpartizipation
       verheißen – mittlerweile aber auch intern als wohlfeile Debattierclubs
       hinterfragt werden. Die wichtigen politischen und personellen
       Entscheidungen werden diskussions- und ausnahmslos im Elyséepalast gefällt,
       dem Amtssitz von Macron; auch Regierungschef Philippe spielt regelmäßig nur
       die zweite Geige. En Marche tönt und sieht immer mehr aus wie eine Partei,
       ihr Funktionieren ist nicht weit entfernt von einst de Gaulles oder Chiracs
       Präsidentenwahlvereinigungen.
       
       Die biederten sich an – im Namen von Volksbewegungen oder rassemblements
       als Alternative zu den damals schon ungeliebten Parteien. Einen vorerst
       letzten Beweis für diese „Normalisierung“ liefert eine sogenannte nationale
       Kommission von En Marche. Sie nominiert die Kommunalwahlbewerber*innen von
       Paris aus und setzt sich zwanglos über lokale Wünsche und Empfindlichkeiten
       hinweg.
       
       Was dazuführt, dass es gehörig rumpelt im Club. Die Pariser Gegenkandidatur
       von Cédric Villani ist nur ein Beispiel in einem teilweise großspurigen
       politischen Unterfangen, das nun ächzend auch in der mäandernden
       Kommunalpolitik angekommen ist. Denn Villani ist der eigenen Formation
       abtrünig geworden, und das ohne aus dem Club ausgeschlossen zu werden. Er
       hat sich im September einfach dreist selbst als Gegenkandidat zum offiziell
       bereits im März nominierten Benjamin Griveaux ausgerufen.
       
       „Aber Villani hat keine Ressourcen, keinen Rückhalt in unserer Bewegung“,
       sagt Martin Bohmert, 31. Bis vor Kurzem leitete der Ingenieur die
       Jugendorganisation von En Marche. Der bärtige, gemütlich wirkende Absolvent
       der renommierten Sciences Po, der, „hab ich mal genug von Paris“, selbst
       mit kommunalem Engagement in seiner Provinzheimat Niort liebäugelt,
       versucht emsig beim Heißgetränk im Bistro das derzeitige Hickhack zu
       relativieren. „Es gibt halt ein paar Frustrierte in unserer Bewegung, das
       ist ganz normal – so jung, wie wir noch sind“. Sorge bereitet Bohmert aber
       der Umgang mit dem Hickhack, er plädiert für mehr „innere Distanz zum
       Geschehen, wir müssen raus aus der Verteidigung“. Soziale Fragen sollten
       zentral werden für En Marche, „sonst fallen uns die [5][Gelbwesten] erneut
       brutal auf die Füße“. Sein Kommentar zum Generalstreik am Donnerstag?
       Bohmert nimmt noch einen Schluck Warmes, runzelt die Stirn. Dann schaut er
       stumm gen Ausgang.
       
       Das für eine Partei bei einer Wahl mehrere Bewerber*innenlisten
       existieren, kommt immer wieder vor in Frankreich. Der konkrete Fall Villani
       gegen Griveaux in Paris illustriert gut die schon bald nach dem Wahltriumph
       2017 aufkeimenden Spannungen bei En Marche. Deren monstranzartig
       demonstrierte programmatische Offenheit hindert die Bewegung nun bei nicht
       wenigen anstehenden Rathauswahlen daran, eine gemeinsame Kandidat*in
       aufzustellen. Was wiederum auf krude Weise zur hauseigenen Taktik passt,
       die Kommunalwahlen durch breit aufgestellte Listen zu entpolitisieren.
       „Jegliche Kriterien für eine Links-rechts-Polarisierung werden so
       verwischt“, wie es Alain Auffray beschreibt, Journalist bei der
       linksliberalen Tageszeitung Libération.
       
       ## Kampfkandidaturen, nicht nur in Paris
       
       Doch parteiintern führt genau das zu Unmut und Kampfkandidaturen – nicht
       nur in Paris. In Lyon etwa, der mit fast 1,4 Millionen Menschen
       zweitgrößten Metropolregion Frankreichs, existiert eine „liste dissidente“
       gegen den amtierenden, mittlerweile nach rechts driftenden Rathauschef
       Gérard Collomb, der früher mal Sozialist war. Sie beruft sich ebenfalls auf
       En Marche. Man setzt auf den jetzigen Chef der Metropolregion David
       Kimelfeld und den einstigen Interim-Bürgermeister Georges Képénékian. Die
       beiden Abtrünnigen hoffen im finalen Wahlkampf auf Stimmen von Linkswählern
       und Grünen. Offizieller Kandidat in Lyon, und von Macron abgesegnet, bleibt
       aber dessen Ex-Innenminister Collomb.
       
       Das politische Tauziehen an Rhône und Saône ist so ein weiteres Puzzlestück
       dafür, dass, wo immer interne Dissonanzen hörbar und Risse aufgrund von
       Rivalitäten sichtbar werden, En Marche doch wieder vom Links-rechts-Schema
       in der eigenen Formation eingeholt wird. Genau dieses Szenario aber hatte
       man für überholt erklärt – als die französische Linke und die Konservativen
       per fulminanten Wahlerfolg erst einmal geschreddert wurden. Mittlerweile
       gibt es konservativ geprägte Figuren aus dem Gefolge von Macron wie die
       Parlamentarierin Aurore Bergé, 33, die jüngst erwogen hat, in der
       Nationalversammlung gleich zwei En-Marche-Fraktionen zu bilden.
       
       Fakt ist, dass sich bei den anderen Parteien weder die untereinander
       zerstrittenen Sozialisten noch die nicht minder desorientierten
       Konservativen von der Niederlage 2017 erholt haben. Nur die extreme Rechte
       unter Marine Le Pen hat bisher von Macrons Problemen bei der Umsetzung
       seiner Ziele profitieren können. Der Rassemblement National spielt sich
       dementsprechend als „wahre und bürgernahe“ Oppositionskraft auf.
       
       In den ersten zweieinhalb Jahren der Präsidentschaft von Emmanuel Macron
       fehlte es nicht an Konflikten und Kraftproben, aber auch nicht an mehr oder
       weniger spektakulären Kapitulationen und Konzessionen an die sogenannte
       Realpolitik. Prominente Regierungsmitglieder wie Umweltschützer und
       Staatsminister Hulot oder Innenminister Collomb distanzierten sich mit
       ihren Rücktritten politisch – oder schieden wie Hulots Nachfolger de Rugy
       wegen einer peinlichen Spesenaffäre aus. Macron hat all dies mit seiner an
       Überheblichkeit grenzenden Selbstsicherheit weggesteckt. Auch die Basis von
       En Marche und ebenso der Wähler*innenkern von 2017 hielt weiter zu ihm.
       Immer spürbarer wird aber bei der nach rechts abdriftenden Asyldebatte, bei
       der Einwanderungsreform, den Klimazielen und letztlich auch bei der Debatte
       um die Laizität, dass es mit dem internen Pluralismus nach links wie nach
       rechts längst nicht so weit her ist, wie Macron stets gelobt hat.
       
       ## Durchhalteparolen und Diktate von oben
       
       Bisher 12 Abgeordnete haben inzwischen wegen schwerwiegender
       Meinungsverschiedenheiten die Fraktion verlassen. Angesichts dieser
       zentrifugalen Tendenzen fordert die Spitze Disziplin: „Sich bei
       Regierungsvorlagen zu enthalten ist eine Sünde – dagegen zu stimmen eine
       Todsünde“, so soll die harsche Ansage des
       Nationalversammlungs-Vorsitzenden, Gilles Le Gendre, an seine Kolleg*innen
       lauten. Wie die im März anstehenden Kommunalwahlen ausgehen, ist aus
       diversen Gründen wichtig: Die lokalen und regionalen Volksvertreter*innen
       wählen etwa gemeinsam mit den nationalen Abgeordneten den französischen
       Senat. Gegenwärtig haben dort die konservativen Republikaner eine Mehrheit
       von 146 Sitzen, En Marche hat nur 23 Senator*innen. Macron hofft, dass das
       Gremium in Richtung einer für seine Reformpläne offenen
       Mitte-rechts-Mehrheit kippt.
       
       „C’est le bordel“ [„das ist momentan ein Saustall hier in Paris“], bekennt
       beim Mittagessen in Sichtweite der Nationalversammlung augenzwinkernd und
       frei von der Leber Michèle Peyron, En-Marche-Abgeordnete aus dem Pariser
       Speckgürtel. Die 58-Jährige gebürtige Südfranzösin war einst Mitglied bei
       den Sozialisten, dann lange als Unabhängige in der Kommunalpolitik und auch
       mal Personalchefin in einem mittelständischen Unternehmen. „Die Episode
       Gelbwesten können wir uns nicht noch einmal leisten – finanziell wie
       moralisch nicht, das ist uns echt um die Ohren geflogen.“ Begleitet von
       leckerem Gemüserisotto, übt sich Peyron weiter tapfer in Analyse: „Wir
       haben als En Marche andersherum, als Graswurzelbewegung, angefangen, das
       fehlt uns jetzt in Paris, das straff Durchorganisierte.“
       
       Wirklich? Die nationale Nominierungskommission spricht bekanntlich eine
       andere Sprache – sie legt eben für alle rund 30.000 Gemeinden über 9.000
       Einwohner*innen fest, wer kandidiert – oder welche Bewerber*innen anderer
       Parteien oder Gruppierungen auf dem Ticket von En Marche fahren dürfen. Da
       ist alles möglich, außer einer Kollaboration mit den Ultrarechten von Le
       Pen. Macron und die Chefin der Rassemblement National sehen sich als
       Duellgegner*innen bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2022.
       
       ## Das Rechts-Links-Schema ist immer noch da
       
       Die zwei Pariser Bürgermeister-Aspiranten, so nochmal Alain Auffray von
       Libération, stünden für die beiden Pole von En Marche: der eher
       rechtsliberale, klassisch auf Markt und Sicherheit gepolte (Griveaux) und
       der mittlerweile definitiv kleinere Pol der sozialliberal, stark ökologisch
       Eingestellten (Villani). Letzterer gilt als widerspenstig, ja zerrüttend –
       „disruptif“, so das französische Wort. Griveaux? „Langweilig, aber effektiv
       – und vor allem arrogant“, heißt es über ihn. Benjamin Griveaux, 41, der
       bis März Regierungssprecher war, gilt als rechte Hand und als Getreuer von
       Macron. Auf alle Fälle ist er ein nüchterner Technokrat, dem die
       Wähler*innenherzen nicht gerade zufliegen. Seine Pressestelle gibt sich
       bedeckt, auch nach mehrfachen Anfragen ist kein Interview möglich. Villani
       dagegen inszeniert sich zugänglich, gibt sich gerne als, O-Ton, „das wahre
       En Marche“ aus, so auch bei seiner begleiteten Feierabend-Metrofahrt.
       
       „Ich bin die Partizipation und die Erneuerung“, sagt er fast flapsig und
       auf alle Fälle zeitgemäß griffig, kurz vor der Haltestelle La Muette im
       vornehm gediegenen 16. Pariser Bezirk. Dort in der Nähe hat er gleich noch
       in einer kolossal großen und kolossal eleganten Privatwohnung einen Termin
       mit Pariser Geschäftsleuten und Industriellen. Von ihnen erhofft sich
       Villani Unterstützung für seine anlaufende Kampagne. Streng geheim das
       „rendez-vous“, Medien nicht erwünscht, „au revoir, Madame“. Nur noch kurz:
       Wie hält er es mit seinem Konkurrenten Griveaux? Er winkt mit abschätziger
       Handbewegung und erstaunlich unprofessionell ab: „Den kann doch niemand
       leiden.“ Kann er sich vorstellen, nach der Wahl mit Griveaux
       zusammenzuarbeiten? „Warum fragen Sie mich nicht nach einer möglichen
       späteren Kooperation mit Anne Hidalgo?“, erwidert Villani fast schon
       bissig. Flexibilität ist alles, willkommen bei En Marche.
       
       Amtsinhaberin Hidalgo, die eigentlich notorisch unbeliebte und trotz
       teilweise erstaunlicher städtischer Umweltprojekte hart kritisierte
       60-Jährige, wird es freuen. Umfragen sehen sie für die erste Wahlrunde
       Mitte März bei rund 23 Prozent, Griveaux bei rund 16 und Villani bei etwa
       14 Prozent – etwa gleichauf mit den Kandidat*innen der Republikaner und der
       Grünen. Zur Erinnerung: Bei den Wahlen 2017 und der Europawahl im Mai hatte
       En Marche auf Anhieb noch jeweils rund 34 Prozent in Paris eingefahren.
       
       ## Eine Gleichung mit vielen Unbekannten
       
       „Mal sehen, ob Griveaux und Villani nach einer eventuell erfolgreichen
       Rathauswahl miteinander können“, sagt Anne-Christine Lang, eine der wenigen
       öffentlich sich zu Villani bekennenden Parlamentar*ierinnen von En Marche.
       Die 58-Jährige sitzt in einer Teddyplüschjacke und bei einem zierlichen
       Café Noisette gegenüber dem Hôtel de Ville gleich an der Seine. „Ehrlich
       gesagt: eher nicht. Villani ist viel partnerschaftlicher orientiert, er
       erlernt gerade die Politik, wie er alles sehr schnell erlernt.“ Sein
       zentraler Fokus, so die frühere Englischlehrerin, sei der
       „überlebenswichtige Dialog“ zwischen Wissenschaft, Politik und
       Bürger*innen. Der Mann ließe sich einfach nicht in eine Schublade stecken,
       „ja, er ist auch ein Pariser Bobo, aber er kann eben auch mit Leuten, die
       nix haben“. Für Lang zählt letztlich am meisten, dass der Kampfkandidat
       mutig die vermeintliche Komfortzone in der Kapitale verlasse: „Jeder und
       jede bleibt doch hier gerade in ihrer Ecke. Es gibt viel Unsicherheit in
       der Partei.“
       
       Dass die Chose für En Marche, aber auch für ihn persönlich in keinster
       Weise klar ist, das weiß auch Cédric Villani. Beim Abschied vor
       großbürgerlicher Pariser Kulisse sieht er es im strömenden Regen rein
       mathematisch: „Mein politisches Engagement ist eine von mir aufgestellte
       Gleichung mit vielen Unbekannten.“
       
       5 Dec 2019
       
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