# taz.de -- Die Welt als Wunder: Öfter mal Swingen
       
       > Dialektik der Aufklärung 2.0. Die Woche hat mal wieder gezeit, wie eng
       > Diskurse geführt werden. Eine gute Party funktioniert anders.
       
 (IMG) Bild: Diskursiv darf man ruhig öfter mal durcheinander trinken
       
       Ein bisschen befremdlich finde ich es ja immer, wenn Erwachsene andere
       Erwachsene (meist auf Buchrücken oder in schlecht geschriebenen
       Rezensionen) dafür loben, „noch staunen zu können wie ein Kind“. Der Welt
       nicht gleichgültig, sondern mit Liebe und Aufmerksamkeit begegnen kann man
       auch, ohne dass man fallenden Blättern hinterhertaumelt und bei jeder
       Äußerung, die nicht dem eigenen Weltbild entspricht, die Kinnlade fallen
       lässt. Diese Woche aber war die Welt mal wieder derart Freakshow, dass ich,
       trotz déformation professionelle, sprich: zum Zynismus erzogen, aus dem
       Staunen nicht herausgekommen bin.
       
       Dabei fing alles ganz harmlos an. Ich war nach Hannover gefahren, um mal
       etwas Schönes zu machen. Ein Baby angucken. Über Babys, das gebe ich zu,
       konnte ich schon immer staunen, so viel Persönlichkeit auf so wenig
       Kubikzentimetern zusammengefaltet.
       
       Dann aber ging’s los: Massen an Polizisten, die meisten zu Pferd, als
       wollten sie Game of Thrones reenacten. [1][Tatsächlich aber wollten sie 120
       NPDlern] (Sie erinnern sich – diese Partei, die zu irrelevant war, um sie
       zu verbieten) ihr Recht auf Demonstrationsfreiheit sichern. Na gut, dachte
       ich, der Rechtsstaat funktioniert, wer nicht verboten ist, darf eben
       demonstrieren. Auch wenn er, anerkanntermaßen, verfassungsfeindlich ist.
       Bitte sehr.
       
       Über genau diesen funktionierenden Rechtsstaat hab ich mich dann aber, kaum
       zurück in Berlin, doch sehr gewundert. Nämlich als er dem Verein VVN-BdA,
       kurz für Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der
       Antifaschistinnen und Antifaschisten, die Gemeinnützigkeit aberkannte.
       
       Grund: Der Landesverband in Bayern sei im bayerischen
       Verfassungsschutzbericht wiederholt als „linksextremistisch beeinflusst“
       bewertet worden. Eigentlich ist zu dem Thema alles gesagt, namentlich
       [2][hier in dieser Zeitung von Jagoda Marinić].
       
       Sprachlos bin ich trotzdem noch angesichts der kognitiven Dissonanz, die
       bei denen grassieren muss, die nach dem antisemitischen Anschlag in Halle
       gerade erst allerlei Dinge im Kampf gegen den Antisemitismus gefordert
       haben. Mehr Gesetze, mehr Zivilgesellschaft, mehr Blabla. Ganz nach dem
       Motto: Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?
       
       Weit ist es halt mit unserer (Selbst-)Erziehung nach Auschwitz nicht her,
       auch wenn das der Deutschen liebstes Märchen ist. Eigentlich nicht
       erstaunlich, wenn ich lese, [3][was die Schriftstellerin Mirna Funk in
       Monopol ] über die frisch ernannte neue Chefin des Jüdischen Museums in
       Berlin, Hetty Berg, selbst Mitglied einer jüdischen Gemeinde, schreibt:
       „Seit Jahrzehnten wird der Großteil aller jüdischen Museen, jüdischen
       Gedenkstätten und jüdischen Kulturinstitutionen von Nichtjüd*innen
       geleitet.“
       
       Damit haben die bis heute die Deutungshoheit der Rezeption über jüdisches
       Leben, jüdische Geschichte und jüdische Religion inne. Und na klar – ich
       kenne das Argument und es ist auch nicht falsch – muss man Leid nicht
       selbst erfahren haben, um dagegen einzustehen. Alles andere hieße ja nur,
       den Menschen die Empathiefähigkeit abzuerkennen – und so fertig bin noch
       nicht mal ich.
       
       Gleichzeitig wundere ich mich halt schon oft über die fehlende Empathie,
       wenn es Antisemitismus geht, so ein ganz leises „ist doch auch mal gut
       jetzt, und überhaupt gehts anderen viel schlechter“ (als ob das eine das
       andere schwächen oder ausschließen würde), schwingt da nicht selten mit –
       und nein, ich rede nicht mit Rechten, also sind hier explizit alle gemeint.
       
       Vielleicht hat dieser Whataboutism auch mit dem zu tun, was ich hier mal
       locker-flockig Dialektik der Aufklärung 2.0 nennen will. Die Brutalität
       oder Kühle entsteht aktuell ja nicht mehr durch Technik, die Menschen zu
       vereinzelten Fachidioten macht. Im Gegenteil bringt die
       Kommunikationstechnik (aka Internet) sie zusammen. Was vereinzelt, sind die
       Diskurse, die in immer engeren Kreisen geführt werden – und den Blick auf
       die anderen dabei, so scheint es mir, verwischen.
       
       Ob die Technik daran vielleicht doch ihren Anteil hat, musste ich mich
       diese Woche fragen, als die von meiner kleinen Zeitung so geschmähten
       Bauern (die in ihrer Gülle-Bubble einfach [4][nicht in der Lage sind, sich
       ihres Verstandes zu bedienen] und das Notwendige, den Klimaschutz,
       einzusehen) hier in der Friedrichstraße einritten. Ich will nicht sagen,
       man hat sich verstanden, aber es war trotzdem ganz hübsch, wie
       Hauptstadthirn und Umlandschädel hier mal kurz aufeinandertrafen.
       
       Echte Mobilisierung, also solche mit Sprit und anderen Schweinereien
       braucht’s für solche Treffen nicht, die Technik bietet alle Möglichkeiten,
       auch mal fremdzudenken. Die Kunst wäre halt, nicht beim erstbesten
       Grüppchen hängen zu bleiben, sondern, wie jeder gute Gast auf jeder guten
       Party, ab und an weiterzuswingen – äh -denken. Hier und da wird man sich
       wundern, oder staunen – aber hey: Sonst wär’s ja auch sterbenslangweilig.
       
       30 Nov 2019
       
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