# taz.de -- Buch „Alle Zeit der Welt“: Lob des langen Atems
       
       > Wenn alle neun Jahre ein Tropfen fällt: In seinem Buch „Alle Zeit der
       > Welt“ nimmt sich Thomas Girst viel Zeit für lang dauernde Projekte.
       
 (IMG) Bild: Ausschnitt aus dem Notenheft zum John-Cage-Orgel-Kunstprojekt in Halberstadt
       
       Obgleich theoretisch ein eher unwahrscheinlicher Fall: In der Praxis kann
       wohl nur ein Manager mit dicht getaktetem Terminkalender auf die Idee
       kommen, ein Buch zu schreiben, das von Menschen handelt, die sich „Alle
       Zeit der Welt“ nehmen, um ihre Kunstwerke und Experimente zu realisieren
       oder auch auf- und auszuführen.
       
       Einem Manager mit dicht getaktetem Terminkalender scheint in diesen
       Geschichten nicht nur die Utopie eines freien Lebens auf, er weiß womöglich
       besser als andere, wie viele Menschen genau davon träumen oder wenigstens
       in Buchform davon träumen wollen.
       
       Tatsächlich hat Thomas Girsts schmaler Band „Alle Zeit der Welt“ inzwischen
       schon seine dritte Auflage erreicht. Ein beachtlicher Erfolg, der viel über
       die Bedürfnisse der gegenwärtigen Gesellschaft aussagt. Dabei ist Thomas
       Girsts Buch – weil klar strukturiert und stilistisch gut geschrieben – zwar
       leicht zu lesen, doch keineswegs schnell zu konsumieren.
       
       Seine Lektüre erfordert Geduld. Denn der Autor, verantwortlich für das
       internationale Kulturengagement von BMW und, wie die Kurzbio im Buch
       informiert, [1][ehemals Kulturkorrespondent der taz in New York], schweift
       in seinen essayistischen Überlegungen auch mal weit ab.
       
       ## Das Musikstück, das erst im Jahr 2640 beendet ist
       
       Doch die Frage beispielsweise, wie man kommende Generationen vor unseren
       radioaktiven Abfällen schützen kann, führt zu Recht zu ganzen
       Gedankenkaskaden, über zukünftige Lebensstile und heutige Zeichensysteme,
       die dann womöglich gar nicht mehr greifen. Etwa im Jahr 2619, wenn in
       Halberstadt immer noch [2][John Cages Orgelstück „Organ2/ASLSP“] zu hören
       sein wird, das die automatische Orgel seit 2001 aufführt. Der Partitur
       entsprechend, die alle sieben Jahre einen Klangwechsel vorsieht, soll dies
       bis ins Jahr 2640 andauern.
       
       Offenkundig übt die lange Dauer an sich eine enorme Faszination aus. Anders
       ist es nicht zu erklären, dass über 35.000 Menschen weltweit den
       [3][Videostream vom Pechtropfenexperiment des Physikers Thomas Parnell]
       abonniert haben. Grundstürzend neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten
       beim Beobachten des zähflüssigsten Stoffs, der bekannt ist.
       
       1927 goss ihn Parnell in einen Trichter mit versiegeltem Ende. Nach
       dreijähriger Abkühlung entfernte er das Siegel, woraufhin es weitere acht
       Jahre dauerte, bevor dem Trichter ein erster Tropfen entrann. Der bislang
       neunte Tropfen fiel im April 2014.
       
       Wann aber hat eigentlich Thomas Girst Gelegenheit, dem zweckfreien oder
       auch zielgerichteten Sichverlieren im eigenen Tun in aller Welt
       nachzuforschen? Der exzessiven Inanspruchnahme der Zeit, wenn es sein muss,
       über Generationen hinweg? Naturgemäß dort, wo auch er mit vielen Stunden
       freier Zeit rechnen darf. Thomas Girst schrieb „Alle Zeit der Welt“ auf
       seinen beruflich bedingten Langstreckenflügen. Klüger hätte er dem
       (An-)Gebot, einmal innezuhalten, nicht begegnen können.
       
       9 Oct 2019
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Archiv-Suche/!1078304&s=Thomas+Girst&SuchRahmen=Print/
 (DIR) [2] http://www.aslsp.org/de
 (DIR) [3] http://smp.uq.edu.au/pitch-drop-experiment)
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
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