# taz.de -- Musterfeststellungsklage gegen VW: Ein Zeichen setzen
       
       > Hunderttausende DieselfahrerInnen klagen gegen VW – und dabei geht es
       > nicht nur ums Geld. Ein Prozess, der Geschichte schreiben könnte.
       
 (IMG) Bild: Ehemaliger Werbeslogan des Automobilherstellers: „Volkswagen – da weiß man, was man hat“
       
       Berlin taz | Lothar Pfautsch wird am Montag die Nachrichten ganz besonders
       aufmerksam verfolgen. Der Rentner aus Osnabrück ist neugierig auf Meldungen
       über den Prozess, der dann im rund 200 Kilometer entfernten Braunschweig
       beginnt. Er gehört zu den Hunderttausenden, die sich dem Verfahren der
       Verbraucherzentrale Bundesverband gegen VW wegen der Dieselbetrugsaffäre
       angeschlossen haben. „Immerhin ist man nicht der einzige Dumme“, sagt der
       79-Jährige, der einen VW-Diesel fährt. Es klingt fast, als würde ihn das
       trösten.
       
       Am Montag wird vor dem Oberlandesgericht Braunschweig Rechtsgeschichte
       geschrieben. Genauer gesagt: Im Kongresssaal der Stadthalle Braunschweig.
       Da beginnt das erste Verfahren zu einer Musterfeststellungsklage von
       VerbraucherInnen in Deutschland. „Unsere Gerichtssäle sind zu klein“, sagt
       Richterin Andrea Tietze, Sprecherin des Oberlandesgerichts Braunschweig.
       Das Gericht rechnet mit großem Publikumsandrang. In der Stadthalle ist
       Platz für 300 Zuschauer und 74 PressevertreterInnen.
       
       Angestrengt hat das Verfahren der Bundesverband der Verbraucherzentralen in
       Kooperation mit dem Autoclub ADAC. Es geht um die Ansprüche von
       Hunderttausenden AutohalterInnen, die sich von Volkswagen betrogen fühlen.
       Denn der Autobauer hat in Dieselmotoren eine Abschaltvorrichtung eingebaut,
       mit der bei Tests niedrigere Abgaswerte als im alltäglichen Betrieb
       angezeigt wurden. Bis Mitte September hatten sich dem Verfahren 430.000
       DieselkäuferInnen angeschlossen. In den vergangenen Tagen ist die Zahl nach
       Tietzes Angaben auf 469.000 hochgeschnellt.
       
       Lothar Pfautsch wird wie die meisten seiner LeidensgenossInnen das
       Verfahren aus der Ferne verfolgen. Als vor vier Jahren der VW-Skandal um
       manipulierte Abgastests hochkochte, fühlte er sich betrogen. Und nicht nur
       er. Allein in Deutschland musste der Volkswagenkonzern rund 2,4 Millionen
       Fahrzeuge der Marken VW, Audi und Škoda zurückrufen, um die Manipulation
       rückgängig zu machen. Auch andere Hersteller haben mit Hilfe von Software
       Abgaswerte gefälscht, etwa Porsche, BMW und Daimler.
       
       ## Halter beklagen Wertverlust der Autos
       
       Bei der Musterfeststellungsklage geht es aber nur um VW. „Volkswagen hat
       vorsätzlich und sittenwidrig Verbraucher geschädigt“, ist Klaus Müller,
       Chef des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, überzeugt. Das sieht VW
       anders. „Aus unserer Sicht haben die Kunden keinen Schaden erlitten, da
       alle Autos im Verkehr genutzt werden können und sicher sind“, heißt es.
       „Nach wie vor werden sie von Hunderttausenden Kunden täglich gefahren. Wir
       gehen davon aus, dass auch das Oberlandesgericht Braunschweig und der
       Bundesgerichtshof das so sehen werden.“
       
       BesitzerInnen von Diesel-Fahrzeugen argumentieren allerdings, dass die
       Autos durch den Betrug an Wert verlieren. GebrauchtwagenhändlerInnen
       berichten von gefallenen Preisen.
       
       Lange hat es keine Möglichkeit für geschädigte VerbraucherInnen gegeben,
       sich in so einem Fall gemeinsam zu wehren. Geschädigte schrecken davor
       zurück, einen Konzern zu verklagen – erst recht, wenn sie keine
       Rechtsschutzversicherung haben. Durch den Dieselskandal hat der Druck auf
       die Bundesregierung zugenommen, eine Möglichkeit zu schaffen, bei
       massenhaften Schäden kollektiv zu klagen. Mit der neu geschaffenen
       Musterfeststellungsklage können VerbraucherInnen gemeinsam feststellen
       lassen, ob sie Anspruch auf eine Entschädigung haben. „Als ich davon gehört
       habe, dachte ich: Da schließt du dich an“, berichtet Pfautsch. Er hat sich
       in das dafür eingerichtete Register beim Bundesamt für Justiz eintragen
       lassen.
       
       Das Eintragen kostet nichts und muss auch nicht mit Hilfe eines Anwalts
       oder einer Anwältin erfolgen. Das vom Musterkläger erstrittene Urteil gilt
       für alle im Register eingetragenen – im Guten, aber auch im Schlechten. Das
       Problem: Bei einem Urteil zugunsten der DieselbesitzerInnen muss jede und
       jeder Einzelne die Ansprüche auf Entschädigung selbst vor Gericht
       durchsetzen. Ein weiterer Haken: Weisen die Richter die Klage zurück,
       können sie auf dem Rechtsweg ihre Ansprüche nicht mehr geltend machen.
       
       ## 60.000 laufende Verfahren gegen VW
       
       Bei der Musterfeststellungsklage in Braunschweig geht es nur um Volkswagen
       und auch nur um Kunden, die ein Auto mit einem Dieselmotor EA 189 gekauft
       haben. VW geht davon aus, dass keineswegs alle Ansprüche haben, die im
       Register eingetragen sind. Unter knapp 390.000 angeschauten Einträgen hat
       VW zehn Prozent Doppelanmeldungen ausgemacht. Außerdem sollen Zehntausende
       Klagen wegen eines falschen Kaufdatums nicht zulässig sein. Der
       Bundesverband der Verbraucherzentralen betrachtet diese Auswertung mit
       Skepsis. Zurzeit könne niemand genau sagen, wie hoch der Anteil der
       unzulässigen Anmeldungen sei, heißt es.
       
       Neben der Musterfeststellungsklage sind weit über 100.000 DieselkäuferInnen
       selbst gegen den Autokonzern vor Gericht gezogen. Nach Angaben von VW
       laufen zurzeit 60.000 Verfahren. In weiteren 41.000 Fällen gibt es ein
       Urteil. Sie seien „überwiegend zugunsten von Volkswagen oder der Händler“
       ausgefallen, so ein Sprecher. Manche Dieselkäufer haben nicht den Konzern,
       sondern den Verkäufer des Wagens verklagt, um eine Entschädigung zu
       bekommen. Die Zahl der Verfahren, in denen VW einen Vergleich mit dem
       Klagenden geschlossen hat, hält der Konzern geheim.
       
       Der Anwalt des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, Ralf Stoll, hat
       eine andere Wahrnehmung. Nachdem immer mehr Oberlandesgerichte bundesweit
       Volkswagen verurteilen, schließen sich die Landgerichte an. „Es ist
       festzustellen, dass eine hohe Anzahl der Verfahren zugunsten der
       Geschädigten ausgehen“, sagt er. Juristen werfen dem Autobauer vor, immer
       dann einen Vergleich einzugehen, wenn eine höchstrichterliche Entscheidung
       ansteht, die Grundsatzcharakter hätte. Das bestreitet VW.
       
       Wie lange das Verfahren für die Musterfeststellungsklage dauern wird, ist
       ungewiss. Möglicherweise wird es kein Urteil geben. Ralph Sauer, ebenfalls
       Anwalt des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, hält einen Vergleich
       für wahrscheinlich. „Ein Vergleich hat für VW den wirtschaftlichen Vorteil,
       dass keine nennenswerten Anwalts- und Gerichtskosten anfallen“, sagt er.
       
       ## Verstoß gegen das Verbot der Marktmanipulation
       
       Bei einem Vergleich müssten die Braunschweiger RichterInnen zustimmen. Sie
       würden prüfen, ob er angemessen ist, erklärt Richterin Tietze. Das Ergebnis
       würde Lothar Pfautsch und allen anderen im Klageregister erfassten
       zugeschickt. Reagiert er nicht, gilt das als Zustimmung. Der Vergleich wird
       automatisch wirksam, wenn er von weniger als 30 Prozent der
       DieselkäuferInnen abgelehnt wird.
       
       In den USA hat der Autobauer an Strafen und Entschädigungen stolze 25
       Milliarden Euro gezahlt. Vor Kurzem hat sich VW in Australien mit Klägern
       verglichen. Nach VW-Angaben bekamen VerbraucherInnen umgerechnet rund 870
       Euro. Das wäre Verbraucherschützer Müller nicht genug. Welche Summe er für
       angemessen hält, will er nicht sagen. Das ist Teil des Pokers mit VW, der
       am Montag mit dem Verfahren beginnt. „Wir haben eine starke
       Verhandlungsposition“, sagt er. „Wir warten ab.“
       
       Sieben Minuten zu Fuß vom Oberlandesgericht Braunschweig entfernt befindet
       sich das Landgericht Braunschweig. Hier ist in dieser Woche die
       strafrechtliche Aufarbeitung der Causa Diesel in Gang gekommen. Die
       Staatsanwaltschaft hat dort Anklage gegen VW-Vorstandschef Herbert Diess,
       Chefaufseher Hans Dieter Pötsch und Ex-Konzernchef Martin Winterkorn
       eingereicht. Sie wirft ihnen einen Verstoß gegen das Verbot der
       Marktmanipulation vor. „Sie sollen trotz ihrer Kenntnis von dem Einbau
       einer unzulässigen Abschalteinrichtung bei den Diesel-Motoren des Typs EA“
       den Kapitalmarkt „vorsätzlich nicht rechtzeitig informiert haben“, teilte
       das Landgericht Braunschweig mit.
       
       Die Richter müssen nun entscheiden, ob die Anklage zugelassen wird. Für VW
       ist das Verfahren eine Belastung. Bis zu einer möglichen Eröffnung des
       Verfahrens werden Diess und Pötsch wohl in ihren Ämtern bleiben. Danach
       könnte sich das schnell ändern.
       
       Lothar Pfautsch hat in Sachen VW bescheidene Ziele, findet er. Ihm geht es
       nicht ums Geld. „Mein Auto ist relativ alt“, sagt er. Der Niedersachse hat
       seinen Diesel 2008 gekauft. Pfautsch sagt: „Es geht darum ein Zeichen zu
       setzen, dass man es nicht einfach so schluckt, wenn man betrogen wurde.“
       
       30 Sep 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Krüger
       
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