# taz.de -- Extinction Rebellion in Berlin: Besetzte Nadelöhre
       
       > Berlin ist voller Blockaden. Extinction Rebellion besetzt weiter
       > Verkehrsknotenpunkte. Polizei und Senat bleiben relativ gelassen.
       
 (IMG) Bild: Blockade auf der Bundestraße: Extinction Rebellion auf der Mühlendammbrücke
       
       Berlin taz | Auf einen Verkehrsknotenpunkt folgt gleich der nächste.
       Komplett lahmgelegt ist Berlin zwar längst nicht, aber sobald eine Blockade
       der Extinction Rebellion (XR) geräumt oder verlassen ist, war am Mittwoch
       schnell die nächste Straße oder Brücke blockiert. Bis Mittag hatten mehrere
       hundert Aktivisten 58 Stunden lang unter anderem den Kreisverkehr am Großen
       Stern in Tiergarten gehalten.
       
       Und nach der Räumung der Blockade am Potsdamer Platz am Vortag folgte um 3
       Uhr in der Nacht zu Mittwoch die Besetzung der Marschallbrücke in
       Sichtweite des Bundestags sowie ab 10 Uhr der Mühlendammbrücke, eine
       Hauptverkehrsstraße in Mitte. Später blockierten die Besetzer*innen die
       Jannowitzbrücke und die Oberbaumbrücke.
       
       3.000 Aktivist*innen der Extinction-Rebellion-Bewegung versuchen seit
       Wochenbeginn immer wieder, Berlin zu blockieren. Viele sind aus anderen
       Städten oder dem Ausland angereist und übernachten in einem großen
       Protestcamp beim Kanzleramt. Die Blockaden sind Teil einer internationalen
       Aktionswoche von Extinction Rebellion („Rebellion gegen das Aussterben“).
       Proteste gibt es weltweit in 60 Städten neben Berlin auch in London, Paris,
       New York, Buenos Aires und Sydney.
       
       Und während es in London bereits über 200 Festnahmen gab, reagiert die
       Exekutive in Berlin bislang mit relativer Gelassenheit auf die Proteste:
       Obwohl die Demonstrationen nicht angemeldet sind, lässt die Polizei nicht
       alle Blockaden räumen. Andreas Geisel, SPD-Innensenator, sprach bereits am
       Montagmorgen davon, die Proteste der Extinction-Rebellion-Aktivist*innen
       mit Augenmaß zu begleiten, die Blockaden also als Spontandemonstrationen zu
       betrachten – jedenfalls solange sie gewaltfrei blieben.
       
       ## Freundlich und bunt
       
       Weitgehend gewaltfrei ist auch die Blockade am Mittwoch an der
       Mühlendammbrücke. In der Nähe vom Alexanderplatz, wo sonst auf sechs Spuren
       der Berufsverkehr durchballert, gab es bis zum Nachmittag auf der Brücke
       eine freundliche und bunte Sitzdemonstration. Leute spielten Gitarre,
       sangen Protestlieder oder tanzten barfuß zu Techno. Kinder bemalten die
       Straße mit Kreide, Aktivist*innen besprühten den Asphalt mit Schablonen.
       Immer wieder setzen sich „Bezugsgruppen“ zu strategischen Kurzplena am Rand
       ab. Die unterschiedlichen Grüppchen nennen sich Tofu, Hustensaft oder
       Kuschelkohorte.
       
       Gewaltfreiheit bedeutete auch hier: Offenheit und Kooperationsbereitschaft
       gegenüber der Polizei und gegenüber Passant*innen, um ihnen das Anliegen
       der Demonstrant*innen zu erklären. Ein Team mit weißen Westen und blauen
       Friedenstauben darauf dient als Ansprechpartner*innen für die Polizei.
       
       Bei aller Freundlichkeit gegenüber Polizist*innen gibt es am dritten
       Aktionstag von Extinction Rebellion auch zunehmend Kipppunkte. Die meisten
       Blockierer*innen lassen sich friedlich wegtragen, aber später dringen
       Berichte durch, dass es nicht überall auf der großen Brücke so friedlich
       zugegangen sei. „Schmerzgriff“ etwa ist eine Vokabel, die viele
       Blockierer*innen spätestens seit der versuchten Räumung des Großen Sterns
       am Dienstag kennen. Auch am Mittwoch wird sie wieder benutzt, als die
       Polizei nach drei Durchsagen gegen Mittag beginnt, die Brücke zu räumen.
       
       Die meisten werden friedlich in die benachbarte Fischerstraße gebracht, wo
       sie weiterdemonstrieren dürfen. Aber später soll die Polizei auch hier
       wieder vereinzelt Schmerzgriffe eingesetzt haben, wie Aktivist*innen
       berichten. Demo-Teilnehmer*innen wurden in dem Telegram-Chat der
       Aktionsgruppe dazu aufgefordert, das Geschehen zu filmen und an eine für
       die Dokumentation von Polizeigewalt eingerichtete Nummer zu schicken.
       
       Holger Partikel, einer der Demonstranten, berichtet Ähnliches vom Vortag,
       nachdem eine als Leopardin verkleidete Aktivistin mit einem schmerzhaften
       Kontrollgriff der Polizei abgeführt worden sei: „Sie war danach im
       absoluten psychischen Ausnahmezustand. Ich habe sie mehrere Stunden
       beruhigen müssen.“ Vor Extinction Rebellion hat Partikel sich mit der
       Bürgerlobby Klimaschutz für Klimapolitik von unten eingesetzt, ist aber
       mittlerweile enttäuscht davon, wie Gespräche mit Politiker*innen liefen.
       Nun steht er mit Extinction Rebellion auf der Straße.
       
       ## Rechtliche Zweifel
       
       Auf Kritik stößt XR vor allem bei genervten Autofahrern und der
       rechtsradikalen AfD. Aber auch der Rechtswissenschaftler und emeritierte
       Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität
       Christian Pestalozza äußert Zweifel. „Um in den öffentlichen Straßenverkehr
       einzugreifen, brauchen Sie gute Argumente“, sagte er am Mittwoch der taz.
       Eine Straßenblockade falle nur unter die Versammlungsfreiheit, wenn es eine
       „echte Spontandemo“ sei, wovon man bei der Aktionswoche aber nicht ausgehen
       könne. Er habe daher Zweifel, ob die Proteste inzwischen noch rechtmäßig
       seien.
       
       „Natürlich ist das Anliegen Klimaschutz gut“, findet Pestalozza. Daher sei
       es auch zu begrüßen, dass der Senat die Proteste bislang sehr freundlich
       behandele. Pestalozza: „Aber es gibt keinen Grund, für den Protest nicht
       die geordneten Bahnen unseres unglaublich großzügigen Verfassungsrechts zu
       nutzen.“ Dies wäre auch politisch klüger, so der Jurist. „XR braucht ja für
       sein Anliegen normale Bürger, aber die werden mit Blockaden abgeschreckt.“
       
       Für die nächsten Tage erwartet Pestalozza daher, dass die Polizei ihr
       Vorgehen verschärfe. „Der öffentliche Raum muss mit allen geteilt werden.
       Die Verwaltung kann gar nicht anders, als die Proteste in den nächsten
       Tagen langsam einzuschränken.“
       
       Dagegen sagt der Grünen-Abgeordnete Benedikt Lux, eine Weile müsse man die
       Proteste, sowohl die Straßenblockaden als auch das Camp am Kanzleramt,
       schon zulassen – und sie seien auch vom Versammlungsrecht gedeckt: „Es gibt
       ja einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Klimapaket der
       Bundesregierung.“ Wenn das Camp also wie angemeldet bis zum Wochenende
       bestehen bleibe und es in den kommenden Tagen noch Blockaden gebe, sei dies
       völlig im rechtlichen Rahmen, so Lux.
       
       ## Nach Mühlendamm- ist vor der Jannowitzbrücke
       
       Auch politisch fahre Berlin bis jetzt sehr gut mit der
       Deeskalationsstrategie, findet der Grüne. „Man muss wirklich beide Seiten
       loben: die friedlichen Demonstranten und die Polizei, die das
       Versammlungsrecht entspannt ermöglichen.“ Allerdings könne sich die Lage
       auch schnell zuspitzen – „es gibt ja kein grenzenloses Recht auf
       Versammlungen“, sagt der Innenexperte. Sprich: Je länger die Proteste
       dauern und sich vom Anlass Klimapaket entfernen, desto schwieriger werde es
       rechtlich für die Polizei, Blockaden zuzulassen. Er gehe daher schon davon
       aus, dass die Polizei – sollten die Proteste etwa bis weit in die nächste
       Woche reichen – „eventuell einen Gang höher schalten und härter rangehen
       muss“.
       
       Auch der Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus für Klimaschutz
       Michael Efler, der die Proteste seit Montag als Parlamentarischer
       Beobachter begleitet, findet den Umgang der Polizei mit den AktivistInnen
       angemessen. Es sei eine gute Mischung aus der Gewährung des Grundrechts auf
       Versammlungsfreiheit und anderen Rechten wie Bewegungsfreiheit.
       
       Und während einige Demo-Teilnehmer*innen bis etwa 16 Uhr an der Leitplanke
       auf der Mühlendammbrücke angeschlossen blieben, wurden andere von der
       Polizei auf die Fischerinsel getragen. Sie wollten umgehend der
       Jannowitzbrücke einen Besuch abstatten. Zwei Stunden später war sie
       besetzt.
       
       9 Oct 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gareth Joswig
 (DIR) Susanne Memarnia
       
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