# taz.de -- Aufstieg der Grünen zur Volkspartei: Bündnis 90/Die Erben?
       
       > Um Volkspartei zu werden, müssten sich die Grünen entscheiden, ob sie
       > ihre eigene Wählerschaft stärker besteuern wollen.
       
 (IMG) Bild: Die Grünen steigen rasant in der Gunst der Wähler*innen – nicht nur wegen des Klimawandels
       
       Was erklärt den rasanten politischen Aufstieg der Grünen, der ja im
       Vergleich zur Bundestagswahl 2017 in den Meinungsumfragen zumindest
       vorübergehend annähernd zu einer Verdreifachung ihres Prozentanteils in der
       Wählergunst geführt hat?
       
       Bekannt ist, dass der Kern der Wählerinnen und Wähler der Grünen aus
       Menschen besteht, [1][die materiell besser gestellt sind und vorwiegend gut
       bezahlte Dienstleistungsberufe ausüben], wie das Deutsche Institut für
       Wirtschaftsforschung in Berlin herausgefunden hat. Aber auch wenn der
       Anteil dieser Menschen an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung
       kontinuierlich gewachsen ist, kann dies allein den Stimmenzuwachs nicht
       hinreichend erklären.
       
       Das gestiegene Bewusstsein der [2][Bedeutung des Klimawandels] ist der
       offensichtliche Teil der Erklärung. Viel interessanter aber ist es, die
       Wählerwanderung, die bei der Europawahl im Mai insbesondere von der CDU/CSU
       und FDP zu den Grünen stattgefunden hat, genauer zu betrachten.
       
       Eine simple Hypothese: Wer in einer Gesellschaft materiell bessergestellt
       ist, möchte auch etwas „Besonderes“ geboten bekommen. Die Grünen haben den
       Vorteil, dass sie im politischen Umfeld den raren Status einer „coolen“
       Marke haben. Sie verstehen sich darauf, ihren Wählern subjektiv ein
       besseres, aufgeklärtes oder auch überlegenes Lebensgefühl zu vermitteln.
       
       ## Volkspartei für missionarische Hoffnungen
       
       So „cool“ das auch sein mag, entpuppen sich die Grünen in Wirklichkeit doch
       immer mehr als eine Volkspartei alten Stils. Denn sie operieren
       mittlerweile in genau der gleichen Weise, wie dies zuvor die CDU/CSU und
       die SPD über Jahrzehnte praktiziert haben. Sie dienen sich vielen Menschen
       als parteipolitische Projektionsfläche für deren zum Teil durchaus
       missionarische Hoffnungen an, die sie für unser Gemeinwesen haben.
       
       Die beiden alten Volksparteien sind demgegenüber als Marken inzwischen in
       etwa so attraktiv, wie die Etienne Aigners, Sony-Walkmans, Fred Perrys,
       Club Meds und andere prominente Marken des letzten Jahrhunderts es
       heutzutage sind. Sie haben als Projektionsfläche geheimer Wünsche
       ausgedient.
       
       Der Volksparteiencharakter trifft auf die Grünen auch insofern zu, als ihr
       Führungsduo Habeck/Baerbock per Sloganeering („Weg mit den Inlandsflügen!“)
       sehr erfolgreich darin ist, einen Gemischtwarenladen anzubieten, der ein
       bestimmtes Lebensgefühl bedient. Volksparteien sind im Interesse der
       eigenen Machtsteigerung beziehungsweise -erhaltung gut beraten, lieber
       keine spezifischen politischen Lösungen anzubieten, um möglichst keinen
       Teil des eigenen Wählerpotenzials zu desillusionieren.
       
       Aber realistische Zielvorgaben und gerade auch detailliert durchgerechnete
       Programme sind das, was unsere Gesellschaft mittlerweile unbedingt braucht.
       Nur so lässt sich der von den Alt-Volksparteien zu verantwortende
       Handlungsstau abbauen. Diese Herausforderung anzunehmen, ist angesichts der
       konzeptionslosen Stückwerksarbeit der Groko eine besondere Verantwortung
       der Grünen.
       
       Davon ist aber gegenwärtig aufseiten der Grünen nur wenig zu spüren. Wenn
       Habeck etwa davon spricht, die Bahnstrecken massiv auszubauen, um 2035
       keine Inlandsflüge mehr zu haben, ist das angesichts der hierzulande
       üblichen Projektvorlaufzeiten für neue Bahntrassen zumindest ohne
       begleitende Vorschläge zur Verfahrensstraffung natürlich eine
       Milchbubenrechnung.
       
       So fragt man sich mit Blick auf die Dauerhaftigkeit des politischen Erfolgs
       der Grünen zu Recht, wie schnell die Wähler der Grünen die bewusste,
       volksparteienhafte Unspezifität durchschauen werden. Der aktuelle Rückgang
       in den Meinungsumfragen ist ein erstes Indiz hierfür.
       
       ## Partei der Erben
       
       Was den Grünen allerdings auf mittlere Sicht helfen wird, sind die
       Verschiebungen in der materiellen Komposition ihrer Wählerschaft. Gerade
       wegen der Wählerwanderung von CDU und FDP zu den Grünen wird die Partei
       verstärkt Elemente einer Erbenpartei aufweisen. Die Erbengeneration ist
       ohne Frage materiell bessergestellt, indem sie aufgrund einer Erbschaft zum
       Beispiel als Wohnungseigentümer lebenslang mietfrei wohnt oder über
       Mieteinkommen verfügt. So etwas entlastet den eigenen Haushalt, gerade wenn
       man in Städten lebt, in denen man für die eigene Miete oft wenigstens 30
       Prozent des monatlich verfügbaren Einkommens aufwenden muss.
       
       Praktisch gewendet bedeutet dies, dass viele grüne Wähler – immer öfter
       ehemalige, gut situierte CDU- und FDP-Wähler – doppelt positiv in die
       Zukunft blicken können. Hohes Lebenseinkommen trifft sich zunehmend mit
       ererbten Vermögen.
       
       Auch wenn eine direkte Zuordnung von Erbschaften zur Parteiidentifikation
       derzeit datentechnisch in Deutschland noch nicht möglich ist, darf dennoch
       angenommen werden, dass die Wähler der Grünen besonders häufig von
       Erbschaften profitieren dürften. Denn die Erbengeneration umfasst relativ
       häufig die derzeit 40- bis 50-Jährigen sowie Menschen, deren Eltern eine
       gute Ausbildung genossen haben, so wie sie selbst. Und beide Merkmale
       treffen besonders häufig auf die Anhängerschaft der Grünen zu. Unter
       solchem Vorzeichen ist der erforderliche ökologische Umbau der Gesellschaft
       natürlich mit weniger privaten Kostensorgen verbunden.
       
       Auf mittlere Sicht wird auch helfen, dass viele Wähler in ihren Erwartungen
       von den bisherigen Volksparteien konditioniert worden sind. Für sie ist das
       merkwürdig Unspezifische der umweltpolitischen Schritte der Grünen
       keineswegs befremdlich. Ganz im Gegenteil: Ihnen ist das Sanftmütige, wenn
       es um konkrete Umsetzungsmaßnahmen geht, bestens vertraut – von den
       politischen Marken, die sie zuvor favorisiert haben.
       
       Insofern sind Zweifel angebracht, ob die Grünen wirklich ein qualitativ
       neues Phänomen, sozusagen die Politikwerdung des Postmaterialismus sind.
       Das ist gewiss die Idee, die Robert Habeck verkaufen will. Was er dabei
       sorgsam verschweigt, ist der folgende, oft übersehene Punkt: Materiell sind
       die Grünen die Partei der Globalisierungsgewinner.
       
       ## Urban, international, solidarisch
       
       Ihre Wähler haben zumeist eine gute Ausbildung genossen, bewegen sich
       international, sind in qualifizierten Dienstleistungsberufen tätig, pflegen
       einen urbanen Lebensstil und wohnen oft in den besseren, preislich faktisch
       abgeschotteten Stadtvierteln. In ihrer individuellen Lebensperspektive sind
       sie international ausgerichtet und nicht national. Dementsprechend sind für
       sie Landesgrenzen und der Nationalstaat, und letztlich auch die Relevanz
       von Staatsbürgerschaft, eher Schnee von gestern. Dem stellen sie Offenheit
       und internationale Solidarität gegenüber.
       
       Das künftige Dilemma der Grünen kommt zum Vorschein, sobald man den
       vielzitierten Zusammenhalt der Gesellschaft nicht nur als eine bloße
       Chiffre zur Selbstidentifizierung versteht, sondern das Thema
       finanzpolitisch konkret fasst. Was eine Gesellschaft im Kern zusammenhält,
       ist ein Mindestmaß an Solidarität und Organisation.
       
       ## Ideeller Anspruch gegen materielle Wirklichkeit
       
       Und gerade weil Deutschland unbedingt eine weltoffene Gesellschaft bleiben
       soll, erfordert dies eine klare Definition von Anspruchsberechtigten sowie
       eine Definition der Zahlenden. Wenn aber die Zahl der Anspruchsberechtigten
       durch die Praxis der Flüchtlingspolitik deutlich ansteigt, ohne dass diese
       selbst perspektivisch den in einer hochentwickelten Industriegesellschaft
       weithin erforderlichen Qualifizierungsgrad erreichen, während die Zahl der
       Zahlenden konstant bleibt, kommt es zu einem schwer auflösbaren Konflikt
       zwischen ideellem Anspruch und materieller Wirklichkeit.
       
       Dieses grundlegende Dilemma lässt sich bei aller Neigung zum Kuddelmuddel
       letztlich nur in einer von zwei Weisen lösen: Entweder werden die Ansprüche
       an den Sozialstaat und auch ganz generell die staatliche
       Organisationskapazität reduziert – oder man erhöht die Beiträge der
       Zahlenden.
       
       Wer die politische Leistung der Groko seit 2013 betrachtet, weiß, dass
       CDU/CSU und SPD eben diesem Konflikt aus dem Wege gegangen sind.
       Dementsprechend haben sie – siehe Deutsche Bahn, schnelles Internet, gut
       ausgestattete Schulen und so fort – Investitionen in die staatliche
       Organisationskapazität stark vernachlässigt.
       
       Beide Parteien waren sich in ihrem desaströsen Kurs aus einem einfachen
       Grund einig: Sie versprachen sich aufgrund der Altersstruktur ihrer Wähler
       politisch jeweils etwas davon, wenn das meiste neu eingesetzte Geld in die
       Umverteilung – vor allem hin zu den Alten – ging. Bedenklicherweise besteht
       mittlerweile auch bei den Grünen diese Gefahr.
       
       ## Lösungen für das Sozialstaat-Problem?
       
       Der Zuwachs am Wählerzuspruch hat zwischen 2000 und 2016 bereits zu einem
       zwanzigprozentigen Anstieg des Durchschnittsalters ihrer Wähler von 40 auf
       48 Jahre geführt. Insofern ist keineswegs länger auf die Grünen als die
       Partei zu bauen, die vorrangig die Interessen der jüngeren Generation
       verträte. Bislang drücken sich die Grünen nach besten Kräften darum, eine
       Antwort auf den Fragenkomplex der Finanzierbarkeit des Sozialstaates zu
       geben.
       
       Um im Ungefähren bleiben zu können, weichen sie an genau dieser Stelle
       lieber in das Reich des Blumigen aus. Dabei kann jeder mittels des kleinen
       Einmaleins absehen, dass die „grüne Sozialwende“ mit möglichst offenen
       Grenzen für viele Flüchtlinge und Habecks Vorschlag für ein bedingungsloses
       Grundeinkommen extrem viel Geld kosten wird. Die oft propagierte
       Praktizierung internationaler Solidarität mit den Menschen in
       klimageschädigten Ländern ist da noch gar nicht eingepreist.
       
       Klar ist nur, dass dies zum Kollaps des deutschen Sozialstaates führen
       würde, mit politischen Konsequenzen, die sich jeder ausmalen kann. Das wäre
       ein reines Konjunkturprogramm für die AfD.
       
       Obwohl die Antwort auf diese Frage dringlich ist, hält sie so gut wie kein
       Journalist den Grünen vor. Dabei kann die Lösung eigentlich nur in einer
       von zwei Alternativen bestehen: Entweder werden die Grünen im Interesse der
       Gesinnungswahrung zur Besteuerungspartei der Besserverdienenden. Wenn sie
       das tun, treffen sie allerdings ihre neue Wählerklientel ins materielle
       Herz. Oder aber sie wandeln sich ganz im Gegenteil zu einer ultraliberalen
       Partei à la Hayek.
       
       Der gilt zwar als erzkonservativer Ökonom, sein Ideal war aber eine
       Gesellschaft ohne Nation, Grenzen, Staaten und Steuern.
       
       24 Sep 2019
       
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