# taz.de -- Hitler-Biografie von Volker Ullrich: Auf die Eliten konnte er sich verlassen
       
       > Ab 1939 schlüpfte Hitler in die Rolle des Kriegsherrn. Aus dieser
       > Perspektive betrachtet Volker Ullrich den Diktator im zweiten Band seiner
       > Biografie.
       
 (IMG) Bild: Hitler im Gespräch mit den Offizieren Werner von Fritsch und Werner von Blomberg im Jahr 1937
       
       Die Diagnose des Historikers Norbert Frei – „So viel Hitler war nie“ – zum
       60. Jahrestag der Befreiung Deutschlands von der Nazi-Diktatur zielte nicht
       auf das Treiben von Neo-Nazis, Geschichtsrevisionisten oder Ewiggestrigen,
       sondern auf die Präsenz Hitlers auf dem Buchmarkt, in Fachzeitschriften und
       Zeitungen bis hin zur Unterhaltungsindustrie.
       
       Dieser Befund kontrastiert aber mit der wissenschaftlichen, im engeren
       Sinne biografischen Beschäftigung mit dem Diktator. Erst zur
       Jahrtausendwende erschien die zweibändige Hitler-Biografie von Ian Kershaw,
       die schnell als Standardwerk galt.
       
       Es gehörte daher viel Mut dazu, als sich der Historiker und Zeit-Redakteur
       Volker Ullrich vor fast zehn Jahren entschloss, eine Hitlerbiografie zu
       schreiben, [1][deren erster Band vor fünf Jahren] und deren zweiter eben
       erschienen ist. Bereits im Vorwort zum ersten Band stellte sich Ullrich der
       Frage, ob nach Kershaws „monumentaler Hitler-Biografie überhaupt noch ein
       Bedarf an einer neuen“ existiere. Nach dem Vorliegen des zweiten Bandes
       seiner eigenen Hitler-Biografie kann man Ullrichs Frage nur bejahen. Volker
       Ullrichs 2.000 Seiten starke Biografie ist gut zu lesen und argumentiert
       präzis.
       
       Allein die von Ullrich verarbeitete neuere Literatur, die Biografien zu
       weit über einem Dutzend wichtiger Exponenten der NS- Führungselite sowie
       umfangreiche Quelleneditionen und ein Gebirge von Monografien über die Zeit
       von 1933 bis 1945 haben das Wissen vermehrt und vertieft. Wie nur Kershaw
       vor ihm hat Ullrich über die Literatur hinaus in sechs Archiven die
       Nachlässe von rund 70 prominenten und weniger prominenten Funktionären des
       Regimes ausgewertet und dabei viel Aufschlussreiches entdeckt.
       
       ## Die Wahl der Perspektive
       
       Außer der wissenschaftlichen Sorgfalt, mit der Ullrich das Forschungs- und
       Quellenmaterial sortiert, interpretiert, subtil bewertet und souverän
       darstellt, ist es vor allem die Wahl der Perspektive, die dem zweiten Band
       zugrunde liegt, die das Buch auszeichnet. Ullrichs Perspektive auf die
       Darstellung von Hitlers letzten sechs Lebensjahren beruht auf einer ebenso
       einfachen wie fruchtbaren Überlegung.
       
       Ab 1939 war Hitler nicht mehr primär Partei- und Machtpolitiker, Agitator
       und Propagandist, sondern schlüpfte in die Rolle des Kriegsherrn, der in
       dieser Funktion seine Talente als Politiker, Redner, Schauspieler und
       Agitator nicht an der Garderobe abgab.
       
       Wie wichtig Hitler die Rolle des Kriegsherrn war, betonte er bereits in
       seiner Rede zum Kriegsbeginn am 1. September 1939: „Ich will nichts anderes
       sein als der erste Soldat des Deutschen Reiches! Ich habe damit wieder
       jenen Rock angezogen, der mir selbst der heiligste und teuerste war. Ich
       werde ihn nur ausziehen nach dem Sieg – oder – ich werde dieses Ende nicht
       mehr erleben!“
       
       Auch in Fragen militärischer Strategie und Taktik blieb Hitler, was er in
       der Politik war – ein Hasardeur, der immer aufs Ganze ging, va banque
       spielte, sich dabei ebenso gründlich verrechnete wie danach die Schuld und
       Verantwortung für katastrophale Fehler notorisch anderen zurechnete und
       über deren Versagen stundenlang tobte und lamentierte.
       
       ## Ein Vernichtungskrieg
       
       Ullrich belegt aber mit vielen Beispielen auch, dass Hitler über „ein
       großes Wissen an rüstungstechnischen und kriegsgeschichtlichen Fakten“
       verfügte und sich gelegentlich zu Recht darüber beklagte, „meine Generale
       verstehen nichts von Kriegswirtschaft“. Hitler bezichtigte seine Generäle,
       den Krieg nicht aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, sondern nur aus
       gemütlichen Offizierskasinos und geheizten Generalstabsquartieren zu
       kennen.
       
       Als Kriegsherr behielt Hitler während des ganzen Kriegs das Heft in der
       Hand. Die Transformation des Kriegs in einen rassistisch motivierten und
       geführten Vernichtungskrieg gegen Polen, Juden, Bolschewisten und Russen
       ist ohne Hitlers Wahn aus „Antibolschewismus, Antislawismus,
       Antisemitismus, Sozialdarwinismus“ als „ideologischer Grundausstattung“ für
       die konformistische Armeeführung im Krieg gegen den Osten nicht denkbar.
       Diese folgte dem verbrecherischen Kurs des Diktators während des Krieges
       fast widerspruchslos.
       
       Bereits Monate vor Beginn [2][des Vernichtungskriegs im Sommer 1941] schwor
       Hitler hundert Generäle mit offenen Worten auf Kriegsziele ein, die mit
       soldatischem Kodex, Kriegsrecht und Kriegsgerichten nichts, mit Vernichtung
       und Härte alles gemein hatten. So wurde die Generalität zu Höchstleistungen
       an Selbstverblendung fähig. Alfred Jodl etwa, Chef des
       Wehrmachtführungsstabs im Oberkommando der Wehrmacht, beteuerte noch neun
       Monate nach der Niederlage von Stalingrad (2. 2. 1943), „dass wir siegen
       werden, weil wir siegen müssen“.
       
       In der Bevölkerung und unter einfachen Soldaten kursierten zu dieser Zeit
       längst Witzfragen wie die nach dem Unterschied zwischen Hitler und der
       Sonne. Antwort: „Die Sonne geht im Osten auf, Hitler geht im Osten unter.“
       
       ## Die Eliten dachten ähnlich
       
       Überzeugend arbeitet Ullrich die Kontinuitätslinien vom Kaiserreich zur
       nationalsozialistischen Herrschaft heraus: Hitlers fanatischer
       Antisemitismus war ebenso anschlussfähig an den Antisemitismus in den
       deutschen Eliten in Wirtschaft, Wissenschaft, Militär und Politik, wie man
       dort seine Obsession für „Lebensraum im Osten“ teilte. Diese Obsession
       bildete schon den Kern des kaiserlichen Diktatfriedens von Brest-Litowsk im
       Jahr 1918, der das Zarenreich um 26 Prozent seines Territoriums
       verkleinerte (der doppelten Fläche des Kaiserreichs!) und 75 Prozent der
       Kohleproduktion sowie 100 Prozent der Baumwoll- und Erdölproduktion
       abpresste.
       
       Beflügelt von der Erinnerung an diesen „Frieden“ und berauscht von den
       Blitzkriegen gegen Polen, Dänemark, Norwegen und Frankreich, folgten die
       Wehrmachtsgeneräle Hitlers Traum vom „Lebensraum im Osten“ und seinen
       „unermesslichen Reichtümern“ nur zu gern.
       
       Dabei zeigte sich der Pferdefuß der optimistischen Strategie des schnellen
       Siegens im Osten, die Hitler und seine Generäle teilten, schon ein halbes
       Jahr, nachdem der Russlandfeldzug („Unternehmen Barbarossa“) am 22. Juni
       1941 begonnen hatte: Hitler und die Wehrmachtführung unterschätzten in
       ihrem völkisch-rassistisch imprägnierten Wahn die Widerstandskraft und
       Anpassungsfähigkeit der Roten Armee sträflich und permanent.
       
       So geriet Hitlers Wehrmacht nach anfänglichen Erfolgen – „Erfolg macht
       erfolgreich!“, frohlockte Marianne von Weizsäcker, die Frau des
       Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker, über die
       Wiedergewinnung des Memellandes – schnell in eine militärische Sackgasse.
       Am 8. 12. 1941 befahl Hitler die Einstellung „aller größeren
       Angriffsoperationen“. Der Vorstoß nach Osten hatte aber auch Folgen für
       Hitlers Politik. Deutsche Truppen eroberten in wachsender Zahl „Feinde“,
       die Hitler und die Nazis unter seinen Beamten und Militärs zu den
       „Todfeinden des Reiches“ rechneten: Juden.
       
       ## Lizenz zum Töten
       
       Phantastische Ideen wie die Umsiedlung von Millionen von Slawen und Juden
       ins asiatische Russland („Generalplan Ost“) oder nach Madagaskar
       scheiterten schnell an den militärischen Realitäten und einer geeigneten
       Transportinfrastruktur. Den Weg aus diesem selbst geschaffenen Dilemma nach
       dem Scheitern der mit einer „Lizenz zum Töten“ ausgestatteten vier
       Einsatzgruppen, eigenhändig-manufakturmäßig zu morden, bildete schließlich
       „eine Gesamtlösung der Juden“ (Hermann Göring, 31. 7. 1941), also die
       „Evakuierung“ der Juden „aus deutschen Einflussgebieten in Europa“ in
       industriemäßig funktionierende Vernichtungslager in Ostpolen.
       
       Auch für den größeren Teil von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen
       fehlte es an Transportmitteln, um sie als Zwangsarbeiter nach Deutschland
       zu verschieben. Rund drei Millionen Soldaten wurden dem Hungertod
       überlassen. Der Mord an Juden und das Aushungern sowjetischer Soldaten
       gehören zu den „größten und schrecklichsten Verbrechen der Deutschen“
       (Ulrich Herbert).
       
       23 Jan 2019
       
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