# taz.de -- Bremen weitet Altersfeststellung aus: Mehr verstrahlte Jugendliche
       
       > Dreifach verstrahlt: Bremen will mehr Röntgen für die Altersschätzung
       > junger Geflüchteter. Ärzt*innen kritisieren das als Gesundheitsrisiko.
       
 (IMG) Bild: Sollte man lieber die Finger von lassen, wenn man gesund ist: Röntgenuntersuchung der Hand
       
       Bremen taz Schon der Begriff ist irreführend und ungenau:
       Altersfeststellung. Das Geburtsdatum von jungen Geflüchteten per
       Röntgenuntersuchungen der Zähne oder Handwurzeln zu ermitteln, ist
       medizinisch umstritten. Schätzen und eingrenzen könne man es höchstens,
       [1][sagen Mediziner*innen in der Regel]. Aber auch das sei naturgemäß
       fehlerbehaftet. Ganz zu schweigen davon, dass eine nicht medizinisch
       indizierte Röntgenuntersuchung [2][nach gültiger Rechtslage unter
       Umständen] sogar eine Körperverletzung sein kann.
       
       Das ist vielen Bundesländern, auch Bremen, zunehmend egal geworden. In
       Streitfällen um das Alter verstrahlen Behörden immer mehr junge
       Geflüchtete, wenn diese ihr Geburtsdatum nicht mit gültigen Ausweispapieren
       belegen können. Während es in Hamburg sogar üblich war, [3][Genitalien zu
       untersuchen], hat sich in Bremen [4][in Streitfällen seit 2015 die Praxis
       von Röntgenuntersuchungen des Gebisses etabliert].
       
       Ärzt*innen in Bremen, die das mitmachen, finden sich allerdings wenige. Die
       meisten wollen aus ethischen Gründen keine unnötigen Röntgenuntersuchungen
       durchführen. Auch Heidrun Gitter von der Bremer Ärztekammer [5][lehnte
       Bestrahlung aus anderen als medizinischen Gründen ab].
       
       Anders ist es etwa im Hamburger Klinikum Eppendorf, wo [6][der umstrittene
       Rechtsmediziner Klaus Püschel] gerne dazu bereit ist. Dorthin und nach
       Münster bringt Bremen die jungen Geflüchteten. Und zukünftig soll noch mehr
       bestrahlt werden. Denn ab sofort hat die Sozialsenatorin Anja Stahmann
       (Grüne) das bisherige Verfahren gar ausgeweitet, um die Genauigkeit der
       Schätzungen zu erhöhen. Das gab sie am [7][vergangenen Donnerstag in der
       Sozialdeputation bekannt.]
       
       ## Wer sich verweigert, ist raus
       
       Der Senat will jetzt nicht mehr nur das Gebiss durchleuchten lassen,
       sondern auch noch die Handwurzelknochen verstrahlen. Und wenn das alles
       immer noch nicht genug Durchblick bringt, soll auch noch ein
       Computertomogramm (CT) der Schlüsselbeinkochen her.
       
       Man wolle den „allgemein anerkannten“ Empfehlungen der „Arbeitsgemeinschaft
       für forensische Altersdiagnostik“ in der Deutschen Gesellschaft für
       Rechtsmedizin entsprechen, heißt es mit dem Verweis auf mehrere Beschlüsse
       aus verschiedenen Bundesländern und der Schweiz. Das forensische Alter
       werde nach diesen Verfahren keinesfalls zu hoch angegeben, sondern liege
       immer unter dem faktischen Alter, wie die Sozialbehörde in Bezug auf ein
       Urteil des OVG Bremen schreibt.
       
       Wenn sich junge Geflüchtete der Bestrahlung verweigern, sind sie raus aus
       der Jugendhilfe. Dann nämlich entscheidet das Jugendamt auf Grundlage der
       individuellen Einschätzung ihrer Mitarbeiter*innen aus einer sogenannten
       „qualifizierten Inaugenscheinnahme“. Dabei beurteilen zwei
       Mitarbeiter*innen nach ihrem subjektiven Eindruck körperliche Merkmale wie
       Haarwuchs, Stimmlage, Statur und Gesichtszüge und klopfen die
       Fluchtgeschichte im Beisein eines Dolmetschers nach Widersprüchen ab. Wenn
       ihre Zweifel überwiegen, ordnen sie die medizinische Untersuchung an. Und
       wer da nicht mitmacht, hat keine Chance.
       
       Hans-Iko Huppertz, der Generalsekretär der deutschen Akademie für Kinder-
       und Jugendmedizin, dem Dachverband für Pädiatrie in Deutschland, hat eine
       klare Haltung zum Röntgen von jungen Geflüchteten: „Die Behandlung mit
       ionisierenden Strahlen kann bleibende Schäden im Erbgut von Zellen
       verursachen, in sehr seltenen Fällen kommt es sogar zu Leukämie. Das kann
       außer bei einer Erkrankung nie im Sinne des Geflüchteten sein.“
       
       ## So oder so: negative Folgen
       
       Entweder komme raus, dass er minderjährig sei, dann habe er den Schaden
       durch die Ionisierung. Oder aber er müsse mit den Folgen leben, dass er
       volljährig geschätzt werde. Huppertz sagt: „In beiden Fällen hat es
       negative Folgen für den Jugendlichen – dem kann man weder als Patient noch
       als Vormund zustimmen.“
       
       Mit jeder Untersuchung steige das Risiko: „Jede Applikation ionisierender
       Strahlung geht mit einer potentiellen Schädigung einher. Früher dachte man,
       es gäbe eine unschädliche Untergrenze – das ist allerdings nicht so.“ Auch
       das CT sei eine Röntgenapplikation.
       
       Auch Marc Millies vom Bremer Flüchtlingsrat kritisiert die Ausweitung der
       Praxis: „Es geht um den Schutz der Kinderrechte und der körperlichen
       Integrität.“ Wie der [8][Bundesfachverband unbegleitete minderjährige
       Flüchtlinge (Bumf) ist er der Meinung], dass im Zweifel immer die
       Bedürfnisse des Jugendschutzes überwiegen.
       
       ## Grundsätzliches Misstrauen?
       
       Zudem könne die Papierlosigkeit von Geflüchteten viele nachvollziehbare
       Gründe haben, darüber hinaus zweifelten die Ämter auch gültige Dokumente
       wie Geburtsurkunden an. „Die ordnungspolitische und medizinische
       Herangehensweise des Senats an dieses Thema ist befremdlich“, sagt Millies.
       
       Tatsächlich klingt grundsätzliches Misstrauen auch in der Mitteilung des
       Senats durch, wenn es zum „Hintergrund“ heißt: „Junge Flüchtlinge aus
       Ländern, die in Asylverfahren als relativ sicher gelten, sehen die
       Jugendhilfe oft als eine der wenigen Möglichkeiten an, in Deutschland zu
       bleiben … um auf lange Sicht damit auch ein dauerhaftes Bleiberecht zu
       erwirken.“
       
       Millies fragt: „Wenn das Recht des Kindes und des Jugendlichen das höchste
       Gut ist – warum ist das in Zweifel zu ziehen?“
       
       26 Aug 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Archiv-Suche/!5471680&s=altersfeststellung/
 (DIR) [2] https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/2/97/2-397-97.php3
 (DIR) [3] /!5208014/
 (DIR) [4] /Archiv-Suche/!5220497&s=altersfeststellung/
 (DIR) [5] https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-wirtschaft_artikel,-Streit-ueber-Altersschaetzung-von-Fluechtlingen-_arid,1187475.html
 (DIR) [6] /!5241633/
 (DIR) [7] https://www.senatspressestelle.bremen.de/detail.php?gsid=bremen146.c.304612.de&asl=bremen02.c.732.de
 (DIR) [8] https://b-umf.de/p/alterseinschaetzung/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gareth Joswig
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Altersfeststellung
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Strahlung
 (DIR) Ärztekammer
 (DIR) Kinderarzt
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
 (DIR) Ausländerrecht
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Kinderrechte
 (DIR) Bremer Sozialbehörde
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Geflüchtete
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
 (DIR) CDU/CSU
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Kindeswohl bleibt auf der Strecke
       
       Monatelang ohne Schule, kaum Betreuung, zu wenig Essen: Experten
       kritisieren mangelhafte Versorgung unbegleiteter minderjähriger
       Geflüchteter.
       
 (DIR) Umverteilung junger Geflüchteter: Suizidgefahr ist kein Argument
       
       Rund 40 junge Geflüchtete müssen Bremen verlassen, weil man ihnen ihr Alter
       nicht glaubt. Der Verein Fluchtraum sendet einen Hilferuf an die Behörden.
       
 (DIR) HSV-Spieler Bakery Jatta in Kritik: Nur ein Fußball-Märchen
       
       Der Geflüchtete und HSV-Profi Bakery Jatta steht im Verdacht, seine
       Identität gefälscht zu haben. So what? Er hat doch kein Verbrechen
       begangen.
       
 (DIR) Mannheimer Umgang mit Geflüchteten: E-Mail nach Marokko
       
       Die Stadt Mannheim hat ihr Problem mit kriminellen Jugendlichen aus Marokko
       gelöst – auch dank besserer Kooperation mit dem Herkunftsstaat.
       
 (DIR) Verband fordert Kinderrechtsbeauftragten: Rechte, die keiner kennt
       
       Teilhabe, Bildungsgerechtigkeit, Kampf gegen Armut: Der Bremer Paritätische
       Wohlfahrtsverband nutzt den Welttag des Kindes, um für Kinderrechte zu
       streiten.
       
 (DIR) Flüchtlingsinitiative vs. Sozialbehörde: Streit um Schulpflicht
       
       Das Bremer Jugendamt hindere unbegleitete minderjährige Geflüchtete, sagt
       die Flüchtlingsinitiative. Absurd, sagt die Sozialbehörde.
       
 (DIR) Geflüchtete protestieren in Bremen: Jugendliche wehren sich
       
       Geflüchtete des Bremer Aktionsbündnisses „Shut down Gottlieb-Daimler-
       Straße Camp“ fordern ein Bleiberecht und die Schließung ihrer Unterkunft.
       
 (DIR) Proteste junger Geflüchteter in Bremen: Vermessene Praxis
       
       In Bremen protestieren junge Geflüchtete gegen die Altersfeststellung und
       gegen ihre Unterbringung in Metall-Zelt-Konstruktionen am Rande der Stadt.
       
 (DIR) Altersfeststellung bei Flüchtlingen: Muss der Arzt prüfen?
       
       Das Bundesverwaltungsgericht verweigert ein Grundsatzurteil. Das Verhältnis
       zwischen Jugendamt und medizinischem Gutachten bleibt ungeklärt.
       
 (DIR) Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: „Wir haben viel Erfahrung entwickelt“
       
       Eine obligatorische Altersfeststellung bei minderjährigen Migrant*innen?
       Der Leiter des Trierer Jugendamts hält davon nichts.
       
 (DIR) Pro und Contra CSU und Flüchtlinge: Ganz schön vermessen
       
       Nach der Gewalttat eines Afghanen fordert die CSU, das Alter von
       Geflüchteten zu überprüfen. Ist das okay? Ein Pro und Contra.
       
 (DIR) Altersfeststellung bei Flüchtlingen: Bremen soll Schwänze vergleichen
       
       Bei der Altersfeststellung minderjähriger Flüchtlinge hielt sich Bremen mit
       Röntgen bislang zurück. Das könnte nun anders werden.
       
 (DIR) Hamburger Ausländerbehörde: Verschiebung per Röntgenstrahlen
       
       In Hamburg entscheidet die Ausländerbehörde, wie alt Flüchtlinge sind – sie
       werden geröntgent. Der Deutsche Ärztetag hat das als "wissenschaftlich
       höchst umstritten" kritisiert.