# taz.de -- Geflüchtete an den bayerischen Grenzen: Flüchtlinge? Nee, nie gesehen
       
       > Horst Seehofer will registrierte Geflüchtete an den Grenzen zurückweisen.
       > Doch in seinem Bundesland kommt derzeit kaum jemand an.
       
 (IMG) Bild: Wie lange muss man hier warten, bis man einen Flüchtling sieht? Österreichisch-deutsche Grenze
       
       Bayern/Österreich taz | Der alte Mann mit der Schiebermütze sagt, vor drei
       Jahren, da sei es richtig voll gewesen hier auf der Brücke. „Da sind die
       Menschen in langen Schlangen gestanden, die ganze Brücke runter.“ Er steht
       auf der Brücke, die das deutsche Simbach mit dem österreichischen Braunau
       verbindet. Seit mehr als 50 Jahren lebt er in Braunau, keine 500 Meter von
       Deutschland entfernt, aber so bewusst wie vor drei Jahren ist ihm das nie
       gewesen. Damals sind hier jeden Tag um die tausend Asylsuchende angelangt,
       das hat sich eingebrannt, „sonst denke ich ja nicht mehr darüber nach, ob
       ich gerade in Österreich stehe oder in Deutschland“.
       
       Der Mann mit der Schiebermütze sagt, in den 50 Jahren, die er jetzt hier
       wohne, da habe er nur einmal Probleme gehabt mit der Grenzbeamten: Im Jahr
       2015 nämlich. Damals, als die Geflüchteten durch Braunau nach Deutschland
       kamen, stand der Mann auf der Brücke und verteilte Kekse an die Kinder. Die
       Beamten, die die Leute geordnet registrieren wollten, wurden sauer. „Aber
       ich konnte nichts dafür. Mein Herz.“
       
       Und heute? „Zurzeit“, sagt der Mann, „sieht man keine Fremden mehr hier.
       Die sind irgendwie weggekommen.“ Er überlegt eine Sekunde. „Keine Ahnung,
       wo die hin sind“, sagt er dann.
       
       Wo sind sie hin, die „Fremden“, die Flüchtenden, die Asylsuchenden? Hier an
       der deutsch-österreichischen Grenze sind sie offenbar nicht. Überhaupt ist
       hier nicht viel. Walkingstockschwingende Rentner, kinderwagenschiebende
       Frauen und rucksackbepackte Radler. Und ein unauffälliges Schild mit der
       Aufschrift „Bundesrepublik Deutschland“: Der einzige Hinweis darauf, dass
       hier Österreich endet.
       
       ## Zu Fuß kommt kaum noch jemand
       
       Seit fast zwei Wochen streiten in Deutschland die CDU-Kanzlerin und der
       CSU-Innenminister darüber, wer nun alles rüber darf über diese Grenze. Der
       Innenminister findet, Asylsuchende sollten nur noch über die Grenze
       gelassen werden, wenn sie bislang in keinem anderen Land registriert
       worden sind. Zu Deutsch: Wenn in den Ländern vor der deutschen Grenze noch
       niemand gemerkt hat, dass sie hier sind. Die Kanzlerin sieht das anders.
       Der Innenminister sagt, wenn die Kanzlerin nicht in zwei Wochen eine Lösung
       für die „Krise“ präsentieren könne, dann würde er gegen ihren Willen die
       Polizei anweisen, die betreffenden Menschen an der Grenze abzuweisen. Die
       Kanzlerin sagt, wenn er das täte, dann würde sie von ihrer
       „Richtlinienkompetenz“ Gebrauch machen. Heißt: den Innenminister entlassen.
       
       An irgendeinem Punkt ist die Diskussion ein bisschen hysterisch geworden.
       Es geht jetzt „um alles“. Zerbricht die Koalition?, fragen zahlreiche
       Medien. [1][Laut Welt am Sonntag] sagte Horst Seehofer in einer internen
       Sitzung über Angela Merkel: „Ich kann mit der Frau nicht mehr arbeiten.“
       Das [2][Satiremagazin Titanic verbreitete] über einen gefakten
       Twitteraccount, dass Seehofer das Unionsbündnis mit der CDU aufkündigte –
       sofort kamen Eilmeldung von Reuters, Bild, Focus und n-tv.
       
       Es ist also Krise in Deutschland, und diese Krise hängt an der Frage, wie
       offen die deutschen Grenzen sein sollen.
       
       816 Kilometer ist die Grenze zwischen Österreich und Bayern lang, über sie
       führen 90 Straßen. Seit 2015 kontrolliert die Bundespolizei drei
       Übergänge dauerhaft, die anderen 87 Stellen nur „lageangepasst“, so heißt
       das.
       
       Am Grenzübergang Obernberg, ein paar Kilometer den Inn herunter, ist noch
       weniger los als bei Simbach. Kurz vor Deutschland steht ein großes Schild
       am Straßenrand, „Republik Österreich – Grenzübergangsstelle“. Irgendjemand
       hat das Wort „Grenzübergangsstelle“ mit Kreppband durchgestrichen. Daneben
       steht das Gebäude der ehemaligen österreichischen Zollstelle. Es ist leer.
       „Hier Lagerräume zu“ steht in abgeblätterten Großbuchstaben auf seinem
       Fenster geschrieben; das „vermieten“ fehlt. Neben dem Gebäude verkauft eine
       ältere Frau an einem kleinen Stand frische Marillen. Sonst ist niemand zu
       sehen. „Flüchtlinge?“, fragt die Frau und schirmt ihr Gesicht gegen die
       Sonne ab. „Neee. Davon habe ich hier noch nie was gesehen.“
       
       Zu Fuß kommt heute kaum noch jemand nach Deutschland.
       
       ## Protest gegen LKW wegen der geschlossenen Grenze
       
       Wollte Seehofer die Grenzen schließen, dann müssten die Polizei beginnen,
       alle Autos zu kontrollieren. An allen 90 Straßen, die nach Österreich
       führen. Welche Folgen Grenzkontrollen haben, kann man jetzt schon in
       Pocking beobachten. Es ist einer der drei Übergänge, die seit drei Jahren
       durchgehend kontrolliert werden.
       
       Dass man sich Pocking nähert, merkt man schnell: Eine lange Lkw-Schlange
       zieht sich von dort die Straße hinunter. Hier ist fast immer Stau. Zum
       Glück für die Lkw-Fahrer wird niemand gezwungen, sich hier in die
       Autoschlange einzureihen: Man kann auch vorher abbiegen. Und über die
       Landstraße fahren – durch Neuburg am Inn.
       
       Neuburg am Inn, das sind kleine gelb gestrichene Häuschen, bunte
       Kinderrutschen in den Vorgärten – und Protestplakate: „Es reicht! 1.000 Lkw
       täglich!“ Die Plakate sind an den Rändern der Landstraße aufgestellt, sie
       wackeln im Takt der vorbeifahrenden Lkws. Es ist laut.
       
       „Verheerend“ sei das, sagt eine Neuburgerin, die vor dem Protestschild
       darauf wartet, die Straße überqueren zu können. „Seit die Grenzkontrollen
       eingeführt wurden, ist es hier niemals still.“ In Neuburg gebe es jetzt
       eine Bürgerinitiative, die sich gegen die Lkws einsetzt. Aber: „Ich glaube
       nicht, dass sich da etwas ändert.“
       
       Offene oder geschlossene Grenzen – das sei ihr egal, sagt die Frau. „Ich
       will nur meine Ruhe.“
       
       Der deutsche Speditions- und Logistikverband hat ausgerechnet, dass
       geschlossene Grenzen die Logistikbranche 3 Milliarden Euro pro Jahr kosten
       würden. Weil sich dann alle Lkws in die Schlangen vor den Kontrollstellen
       einreihen müssten. Die Grenzen zu schließen, kostet weit mehr Aufwand, als
       ein paar neue Polizisten einzustellen.
       
       ## Seehofer „ruft zum Rechtsbruch auf“
       
       Warum hatte der Innenminister das noch einmal vor?
       
       2014, ein Jahr bevor die Diskussion über Grenzen aufkam, beantragten
       202.834 Menschen in Deutschland Asyl. 2017 waren es 222.683. Dieses Jahr
       haben bislang 18 Prozent [3][weniger Menschen Asyl in Deutschland
       beantragt] als im Vorjahr.
       
       Bei dem Streit zwischen Seehofer und Merkel geht es nicht darum, allen
       Asylsuchenden den Zutritt nach Deutschland zu verwehren. Es geht um eine
       bestimmte Gruppe von Asylsuchenden: jene, die bereits in einem anderen Land
       registriert worden sind. Denn in der Europäischen Union gilt die sogenannte
       Dublin-III-Verordnung. Die besagt: Das Land, in das der Asylsuchende
       nachweislich zuerst eingereist ist, ist für die Bearbeitung seines
       Asylantrags zuständig. Das wiederum bedeutet: mehr Asylanträge in den
       Staaten an den EU-Außengrenzen – und weniger in denen in der Mitte der
       Europäischen Union. Deutschland liegt direkt in der Mitte der EU-Staaten.
       
       Wenn in der EU ein Asylsuchender von der Polizei aufgegriffen wird, werden
       seine Fingerabdrücke in einer zentralen Datei gespeichert, der
       Eurodac-Datei. Darauf bezieht sich die Forderung Seehofers: Alle
       Asylsuchenden, die in diesem System gespeichert sind, sollen an der
       deutschen Grenze zurückgewiesen werden – weil sie ja offenbar bereits
       nachweislich in einem anderen EU-Land gewesen sind und ihren Asylantrag in
       diesem Land stellen müssten. In den ersten vier Monaten des Jahres 2018
       sind bislang 18.000 Menschen nach Deutschland eingereist, die bereits in
       einem anderen Land registriert worden sind.
       
       „Das ist fast schon witzig“, sagt Petra Haubner. „Seehofer sagt, er wolle
       das Recht wiederherstellen, und ruft offen zum Rechtsbruch auf.“ Haubner
       ist Asylrechtsanwältin, eine Frau mit resolutem Händedruck und ebensolchem
       Auftreten. Hinter ihr, in ihrem Passauer Büro, baumelt ein
       Paragrafenzeichen von einer Lampe. „Dublin III erlaubt es nicht,
       Asylsuchende an der Grenze abzuweisen“, sagt Haubner. „Auch wenn eigentlich
       ein anderes Land für den Asylantrag zuständig wäre, muss der Rechtsverhalt
       nämlich erst einmal geprüft werden. Dann kommt ein Bescheid, und gegen den
       kann man Rechtsmittel einlegen. So macht man das in einem Rechtsstaat.“
       
       Erst vor Kurzem, sagt Haubner, habe der Europäische Gerichtshof eine
       Grundsatzentscheidung zum Thema „Zurückweisungen an der Grenze“ getroffen.
       Weil Frankreich einen Mann aufgegriffen hat, der zuerst in Deutschland
       registriert worden war. Frankreich wollte den Mann direkt zurück nach
       Deutschland schicken, er zog vor Gericht. Am 31. Mai 2018 hat der
       Europäische Gerichtshof entschieden: Zurückweisungen in andere EU-Länder
       sind ohne vorheriges Verfahren nicht rechtmäßig. Frankreich durfte den Mann
       nicht einfach nach Deutschland abschieben.
       
       Nicht alle Asylsuchenden wollen gern nach Deutschland. Im Mai 2018 hat
       Deutschland für 2.915 Menschen mit Eurodac-Treffern Übernahmeersuchen an
       andere EU-Staaten gerichtet – und knapp 1.495 Übernahmeersuchen von
       EU-Mitgliedstaaten erhalten.
       
       Haubner sagt, viele von denen, die in Italien erstregistriert wurden und
       trotzdem versuchen, nach Deutschland zu kommen, seien Frauen mit Kindern.
       Weil Geflüchtete in Italien nach Abschluss des Asylverfahrens keinen Platz
       in einer Unterkunft mehr bekommen, würden zahlreiche Menschen dort nach
       Abschluss des Verfahrens obdachlos. Und weil Obdachlosen in Italien die
       Kinder weggenommen würden, Stichwort Kindeswohlgefährdung, hätten viele
       geflüchtete Frauen genau dort nur zwei Optionen: „Sich an die Straße
       stellen und ihren Körper verkaufen – oder ihr Glück in Deutschland
       versuchen.“
       
       ## Dominoeffekt bis nach Nordafrika
       
       Wenn es nach Seehofer geht, dann kommen bereits woanders registrierte
       Menschen fortan nicht mehr über Deutschlands Grenzen. Wenn es nach Merkel
       geht, dann sollen Asylsuchende fortan keine Sozialleistungen in Deutschland
       mehr bekommen, wenn sie bereits woanders registriert wurden. Darauf möchte
       sie sich bei dem Asyl-Treffen, das am Wochenende stattfinden soll, mit den
       anderen EU-Staaten einigen. Die Probleme der Frauen in Italien werden wohl
       beide Ansätze eher verschlimmern.
       
       „Was mich so irritiert: Diese ganze Diskussion aktuell wird auf eine Art
       geführt, als wäre es möglich, die Grenzen zu schließen, und es ginge nur
       noch darum, sich zu einigen, ob man das auch macht“, sagt Haubner. „Dabei
       ist das Unsinn: Deutschland kann die Grenzen überhaupt nicht schließen –
       zumindest nicht, wenn die EU erhalten bleiben soll.“
       
       Und wenn der Innenminister sich durchsetzen und die Grenzen schließen
       würde? „Dann warte ich auf die Bild-Schlagzeile: ‚Seehofer macht Brenner
       zu‘ “, sagt Haubner. „Denn wenn sich Deutschland schon nicht an EU-Recht
       hält, dann wird das Österreich noch viel weniger tun.“
       
       Würden geschlossene deutsch-österreichische Grenzen zu geschlossenen
       österreichisch-italienischen Grenzen führen? Der österreichische Kurier
       zitiert Bundeskanzler Sebastian Kurz mit den Worten: „Wir müssen gerüstet
       sein dafür, dass die nationalen Grenzkontrollen überhaupt in Europa
       verstärkt werden, ausgehend von Deutschland.“
       
       Petra Haubner nennt das einen „Dominoeffekt“. Am Ende der Domino-Kette
       steht Italien – und dahinter die Außengrenze.
       
       Das Ergebnis geschlossener bayerischer Grenzen wären also: mehr Kontrollen
       der Außengrenzen. Und: Asylzentren außerhalb der EU, in Nordafrika etwa.
       Forderungen, die Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron,
       Unterstützer in diesem Streit, befürworten.
       
       ## Etwas weiter rechts positionieren
       
       Asylzentren außerhalb der Europäischen Union gehören zu den
       menschenrechtlich umstritteneren Ideen in der deutschen Flüchtlingspolitik.
       Schon öfter wurde die Idee geäußert, beispielsweise in Libyen solche
       Zentren einzurichten. Jetzt scheinen sich alle Beteiligten einig zu sein.
       
       Wenn Merkels und Seehofers Vorschläge am Ende für die Migrationspolitik auf
       das Gleiche hinauslaufen, wie kann dann an diesem Thema die Koalition
       zerbrechen?
       
       „Des mit der Grenze“, sagt der alte Mann mit der Schiebermütze in Braunau,
       „des diskutieren doch gerade die Merkel und der Dings, der Seehofer, oder?
       Wegen der Landtagswahl?“
       
       Die bayerische Landtagswahl findet im Oktober statt. Für die Wahl werden
       der AfD aktuell 13 Prozent prognostiziert. 2016 hat die CSU-nahe
       Hanns-Seidl-Stiftung ein Analysepapier veröffentlicht. Die AfD rücke in der
       Wahrnehmung der Bevölkerung immer weiter nach rechts, heißt es darin.
       „Diese Entwicklung bietet aber auch eine Chance für die Union, die nur sie
       so wahrnehmen kann: Die CSU kann sich in Arbeitsteilung mit der CDU wieder
       etwas weiter rechts im politischen Einstellungsspektrum positionieren.“ Und
       weiter: „Heute wird die CSU noch rechts von der Mitte, die CDU schon leicht
       links von der Mitte gesehen. Dies kann die Mobilisierungsfähigkeit der
       gesamten Union auch angesichts hoher Flüchtlingszahlen erhöhen.“
       
       Ist der „Asylstreit“ am Ende nur ein aus dem Ruder gelaufener Versuch von
       Arbeitsteilung? Vielleicht.
       
       In einer Woche läuft die von Seehofer ausgerufene „Frist“ ab. Sollte Merkel
       bin dahin eine „europäische Lösung“ gefunden haben, würden sich die
       deutsche Wirtschaft, Italien und jene Geflüchteten, die sich bereits
       innerhalb der EU befinden, wohl freuen.
       
       Den Flüchtlingen in Nordafrika dürften beide Versionen in etwa gleich recht
       sein.
       
       24 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.welt.de/politik/deutschland/plus177680216/Seehofer-ueber-Merkel-Ich-kann-mit-der-Frau-nicht-mehr-arbeiten.html
 (DIR) [2] https://www.titanic-magazin.de/gold/artikel/moritz-huertgen-es-ist-zu-einfach/
 (DIR) [3] /Die-CSU-und-Fluechtlingszahlen/!5513440/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Laura Meschede
       
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