# taz.de -- Völkerverständigung im Grenzland: Der Rebell im toten Winkel
       
       > Andreas Schönfelder eckte schon in der DDR an. Heute führt er einen
       > Kulturkampf gegen Nationalisten – und das tief in der sächsischen
       > Provinz.
       
 (IMG) Bild: „Wir stecken in einem Kulturkampf“: Andreas Schönfelder in seiner Bibliothek
       
       Großhennersdorf taz | „Diese Gegend hat keinen Geist.“ Diese Provokation,
       die so klingt, als wäre sie in den Oberlausitzer Himmel gehängt, wird
       Andreas Schönfelder gleich aussprechen, so wie man am Morgen ein
       Transparent entrollt, schroff und voller Wucht. Doch am Abend hat sich die
       Losung aufgelöst wie eines der Wölkchen hoch oben. Weil Schönfelder kein
       Schwarzseher sein will, sondern jetzt lieber in die Ferne blinzelt. Er
       kommt daher – rote Kapuzenjacke, weiße, leicht zerzauste Haare – wie der
       Bürgerbewegte, der er einmal war, und führt hinein in seine Bibliothek im
       sächsischen Großhennersdorf.
       
       Andreas Schönfelder stiefelt die hölzerne Treppe hinauf, läuft über
       niedrige Flure und Stege, in teils milchig dämmerige Kammern hinein,
       schlafwandelt von Raum zu Raum, zeigt auf eine Ausstellungstafel, liest:
       „Opposition über den Riesengebirgskamm“, zieht anderswo ein Buch hervor:
       „Grenzen des Abendlandes“, eine Schrift über Ostmitteleuropa. „Der eiserne
       Vorhang“, steht auf einem Buchrücken. Dazu Zeitschriften, jede Menge
       Samisdat, illegal herausgegebene Druckschriften aus der DDR, der
       Tschechoslowakei, aus Polen, in einem Seitengang Ordner voller
       Zeitungsschnipsel, Bildbände, ganze Ausstellungen.
       
       Schönfelder öffnet Tür nach Tür. Und je öfter er das macht, desto
       vollkommener wird die Verwandlung. Es ist wie eine Bewusstseinserweiterung,
       wie eine Expedition ins Treibhaus, in dem Buchrücken wie Pflanzen stehen.
       Regalmeter an Regalmeter ziehen vorbei, antike Gelehrte, DDR-Dissidenten,
       verfemte Schriftsteller, irgendwann verschwimmen die Titel. „Václav Havel“,
       sagt Schönfelder. Aber wo steckt er? Dann schwenkt er ein Buch.
       „Flüchtlinge, Umweltverschmutzung, soziale Spannungen – Havel hatte alles
       schon 1990 im Blick.“ Er hält den Band bedachtsam zwischen den Fingern, als
       wär’s ein Saatkörnchen.
       
       „Das hier ist eine historisch gewachsene Region“, beginnt Schönfelder, die
       Eigenheit dieses Zipfels Europa zu erklären. 1945, nach Weltkrieg und
       Besetzung, wurde die Gegend, wo sich Böhmen, Sachsen und Schlesien trafen,
       ein Dreizack aus Staatsgrenzen, unterbrochenen Wegen, zerstörten Brücken.
       Tschechen, Polen und Deutsche lebten an ihrer „Friedensgrenze“ getrennt wie
       Nutztiere in den Ställen der LPG. Nur die Braunkohlebagger fraßen sich von
       allen drei Seiten tief in die Erde hinein, als wollten sie alles Frühere
       vertilgen. Zurückblieb ein Landstrich wie eine Narbe.
       
       ## Ressentiments gegen Ausländer schon zu DDR-Zeiten
       
       Mit chronischen Verwerfungen. Im November 1989, der Rest der DDR war im
       Freudentaumel, echauffierten sich viele hier, erzählt Schönfelder, weil
       Polen, wie es hieß, die Läden leer kauften. In Görlitz kontrollierten
       Verkäuferinnen Ausweise und bedienten nur noch Deutsche – mit dem Segen der
       SED-Regierung von Hans Modrow. Und das Neue Deutschland schimpfte auf
       „Schmuggler und Spekulanten“ aus dem Nachbarland. Und da wundert sich
       jemand über Fremdenfeindlichkeit? Über die Sehnsucht nach geschlossenen
       Grenzen? Und dann sagt Schönfelder diesen Satz, der klingt wie eine
       Abrechnung, dabei ist er doch eher eine Mission: „Diese Gegend hat keinen
       Geist. Er ist ihr abhanden gekommen.“
       
       Im letzten Herbst fuhr die AfD hier deutschlandweit ihr bestes Ergebnis
       ein. Die Partei holte in vielen Gemeinden über 40 Prozent, überflügelte so
       die CDU und erhielt drei Direktmandate. Und als würde hier seitdem ein
       Haufen Mist dampfen, lockt der AfD-Triumph alte und neue Nazis herbei. Im
       April kamen sie zu „Führers Geburtstag“ nach Ostritz an die Neiße, kaum 15
       Kilometer von Großhennersdorf. Rechtsrockbands spielten auf, und im
       „Politikforum“ agitierten NPD-Kader, darunter Exparteichef Udo Voigt. Der
       Name des Aufmarschs: „Schild und Schwert“, sein Untertitel: „Reconquista
       Europa“, auf Deutsch: Rückeroberung Europas.
       
       „Das ist niederschmetternd“, seufzt Schönfelder. „Wir stecken in einem
       Kulturkampf.“ Und der sei an der Peripherie stärker zu spüren als im
       Zentrum. Ein Kulturkampf, der von den Neonazis, die sich in Ostritz
       treffen, genauso befeuert wird wie von rechten Ideologen auf Messeständen.
       
       Was tun? „Selbst etwas auf die Beine stellen.“ Wissen herbeischaffen,
       Bücher, Kultur, Menschen zusammenbringen, reden, erinnern – kurzum Geist
       zurückholen, eine Landschaft mit Bewusstsein tränken, Altes erinnern, Neues
       versuchen, eine Gegend begrünen, wie man einen ausgekohlten Tagebau
       begrünt. „Eine geistige Initiative für die Oberlausitz“, nennt Schönfelder
       seinen Vision, und Saatgut hat er reichlich. „Insgesamt werden es etwa
       35.000 Medien sein.“ Genug, um eine Gegenkultur zu etablieren, gegen das
       Abgeschottete und Völkische.
       
       ## Ein Ort für Unangepasste und Langhaarige in der DDR
       
       Mit Gegenkultur kennt sich Schönfelder, Jahrgang 1958, aus. Als junger Mann
       ist er, Baufacharbeiter aus strammem SED-Elternhaus, in diesen toten Winkel
       der DDR gekommen. Er arbeitete gleich nebenan im Katharinenhof, ein
       kirchliches Heim für geistig Behinderte, die kaum einer haben wollte im
       Arbeiter- und Bauernstaat, weil sie nicht zu gebrauchen waren bei Aufbau
       des Sozialismus. So wie ihre Pfleger auch. Der Katharinenhof lockte
       Unangepasste, Langhaarige, Tramper aus der ganzen DDR an.
       
       1987 gründete Schönfelder die „Umweltbibliothek“, in seinem Haus, ganz
       privat. Die Luft war verpestet. Braunkohlengruben, Kraftwerke, saurer
       Regen, Waldsterben auf allen Kämmen – Nordböhmen ist zu etwas geworden
       „zwischen Mond und Müllhalde“ schrieb Václav Havel 1982 an seine Frau.
       Informationen darüber waren knapp, Literatur kam aus dem Westen oder wurde
       als Samisdat verlegt. Schnell wurde die „Umweltbibliothek“ zum Zentrum der
       Opposition in der Oberlausitz mit Verbindungen in die ganze DDR. „Wir haben
       alles Mögliche gemacht: Bildung, Tanz, Musik, Saufen.“ Stolz klingt durch
       und ein bisschen Wehmut, als würde Prenzlauer Berg in Ostberlin noch einmal
       erwachen, mitten in der Oberlausitz.
       
       Die Stasi hätte seine Bibliothek gleich wieder aufgelöst, erzählt er.
       Erfolgreich war sie am Ende trotzdem nicht. Nach der Wende zog die
       Bibliothek um in das zweistöckige Haus mit der schier unendlichen Tiefe.
       Längst ist sie ihrem Ursprungsthema entwachsen, und im vorigen Jahr hat
       Schönfelder sie dann neu organisiert. Sie gliedert sich seitdem in das
       Archiv Bürgerbewegung, dem Kompetenzzentrum Osteuropa und in dem
       geistig-kulturellen Wissensspeicher. Die Dachmarke heißt Ekol – Einrichtung
       kultureller Bildung in der Oberlausitz. Ein bisschen sperrig. „Spirit of
       Oberlausitz“ wäre ein charmanterer Slogan.
       
       An die Bücher zu kommen, ist heute kein Problem mehr, die Finanzierung
       dagegen bereitet durchaus Schwierigkeiten. Viele Stellen geben etwas dazu –
       der Bund, der Freistaat Sachsen, der Landkreis, die Gemeinde, die
       Sparkasse, dazu kommen Stiftungen. Üppig ist das alles nicht, vieles läuft
       über Projektförderung. Der unermüdliche Schönfelder ist Leiter, hinzu kommt
       eine halbe Stelle für eine Kulturmanagerin.
       
       Die „geistige Initiative“, die Schönfelder antreibt, ist noch ein recht
       zartes Grün. Besucher können an den Lesetischen Platz nehmen, beim Rundgang
       sind diese heute noch verwaist. Vieles geht über Fernleihe raus, sagt
       Schönfelder. Sein Haus ist online an zwei Bibliotheksverbünden beteiligt.
       An der Eingangstür liegt ein Stapel Päckchen abholbereit.
       
       ## Schönfelder schimpft über die „mental verostete“ Region
       
       Wenn die Initiative sprießt, wird sie den Zipfel in eine Zukunftsregion
       verwandeln, davon ist Schönfelder überzeugt. Denn ist nicht heute Europa
       entlang des Eisernen Vorhangs wieder geteilt? Und hätten die Ostdeutschen –
       jenseits von AfD und Pegida – nicht eine Mittlerrolle? „Mental verostet“,
       nennt Schönfelder die jetzige Situation. Könnte das Dreiländereck nicht
       gemeinsamer Lebensraum für alle Anrainer werden, mit einer Ausstrahlung
       weit in den Westen hinein? Will nicht das nahe Zittau mit Partnerstädten
       wie Liberec und Zgorzelec 2025 Europas Kulturhauptstadt werden? „Nein“,
       Schönfelder schüttelt den Kopf, „wir sind nicht der Arsch der Welt. Hier
       beginnt etwas.“
       
       Vermutlich hat mancher milde gelächelt über Schönfelders Eifer. Es gibt
       viele, die halten Schnellstraßen für wichtiger. Dabei ist Schönfelder ein
       erfolgreicher Kulturmanager. Seine Grundidee trägt Früchte. Er stapft die
       Treppe hinab. Im Erdgeschoss ist das „Kunstbauerkino“ eingerichtet. Ein
       Arthauskino mit barrierefreien Saal und 60 Plätzen. 2004 wurde hier das
       Neiße-Filmfestival gegründet.
       
       Mitte Mai ging es zum 15. Mal über die Bühne. Inzwischen nicht nur in
       Großhennersdorf. Für die 120 Filme brauchte es 20 Leinwände, von Zgorzelec
       über Großhennersdorf bis Liberec, mit zusammen 7.000 Besuchern – neuer
       Rekord. Schönfelder dreht eine Runde durch das Kino und führt in das
       Kunstcafé nebenan, im Angebot Slow Food und Vegetarisches, dazu wechselnde
       Ausstellungen, Lesungen, Musik. Ein Kulturzentrum samt Fachbibliothek in
       einem Dorf mit 1.500 Einwohnern, initiiert von einem Autodidakten, der
       einmal Baufacharbeiter gelernt hat? Es gibt Städte, die weniger haben.
       
       Und neuer Geist kommt täglich hinzu. Am Nachmittag verlässt Schönfelder,
       Karton unterm Arm, die Comenius-Buchhandlung in Herrnhut, ein Städtchen, in
       das Großhennersdorf vor sieben Jahren eingemeindet worden ist. Der
       Familienroman eines rumänischen Autors über die Pogrome gegen die jüdischen
       Einwohner von Iasi steckt genauso darin wie allerlei Sachbücher, unter
       anderem „Orthodoxie in Deutschland“, einer seiner Herausgeber: Thomas
       Bremer, Professor für Friedensforschung und Ökumenik in Münster. Am Abend
       wird Bremer in Herrnhut über Christen im Orient reden. Schönfelder hat in
       dem 6.000-Einwohner-Städtchen eine Akademie initiiert.
       
       Im Gegensatz zu Großhennersdorf, das irgendwie zersiedelt wirkt, ist
       Herrnhut mit seinen Barockbauten eine Augenweide. „Herrnhut ist der
       weltläufigste Ort der Oberlausitz“, schwärmt Schönfelder. Er führt gern
       durch die kleine Stadt. Der fromme Reichsgraf Zinzendorf hatte sich 1722
       der evangelischen Hussiten erbarmt, die hinter der böhmischen Grenze von
       der Gegenreformation verfolgt wurden, und bot ihnen Platz auf seinen Gütern
       an.
       
       ## Geist gibt es hier reichlich: heiligen Geist
       
       Die Glaubensflüchtlinge gründeten eine Siedlung, nannten sie Herrnhut und
       schufen die „Herrnhuter Brüdergemeine“, eine pietistische Freikirche, die
       sich der Bildung und der Mission verschrieb. Von hier aus gehen die
       vielzackigen Herrnhuter Sterne und die Herrnhuter Losungen in alle Welt.
       Die Broschüren mit Bibelversen für jeden Tag verkaufen sich Jahr für Jahr
       millionenfach. Geist gibt es in Herrnhut reichlich, heiligen Geist.
       
       Ein bisschen von diesem Rohstoff hat Schönfelder für seine Sache genutzt.
       Gemeinsam mit dem Archiv der Brüdergemeine und dem Internationalen
       Hochschulinstitut Zittau, das seit 2013 zur TU Dresden gehört, hat er die
       „Akademie Herrnhut für politische und kulturelle Bildung“ gegründet, ihr
       Logo – der Altan, ein Aussichtstürmchen oberhalb von Herrnhut,
       gleichermaßen Zeichen von Verbundenheit und Weitsicht.
       
       Es gab Tagungen zur Oktoberrevolution, zur Reformation, zum Ersten
       Weltkrieg, Vorträge über Marx, Hannah Arendt, Rudolf Bahro. Ukrainer,
       Polen, Tschechen sind regelmäßig zu Gast. Und heute der Ostkirchenexperte
       Bremer. „Geistige Lieferung“ nennt Schönfelder entzückend altmodisch die
       Vortragsreihe. Bremer sortiert seine Unterlagen, Schönfelder ergreift das
       Wort. Er spricht von der Religion als „Ressource“, die es zu heben gilt,
       etwa auch bei der Arbeit mit Flüchtlingen, schließlich seien die meisten
       religiös.
       
       Eigentlich merkwürdig, dass Schönfelder, als Mitglied bei Bündnis 90/Die
       Grünen lange Jahre in der Kommunalpolitik aktiv, bei all der geistigen
       Landschaftspflege erst spät bemerkt hat, wie religiös sein Leben nebenbei
       geworden ist. Mit fünfzig hat er sich taufen lassen – allerdings nicht in
       Herrnhut. Hatten früher Aussteiger aus allen Ecken der DDR die geistig
       behinderten Bewohner im Katharinenhof betreut, sind es jetzt Arbeitskräfte
       aus dem Osten. Eine „schöne Frau aus Sibiu“ war auch unter ihnen.
       Schönfelders Gesicht hellte sich auf, als er das erzählte. Und auch sie
       hatte eine „geistige Lieferung“ im Gepäck – einen Abschluss in orthodoxer
       Theologie. Und so wurde Andreas Schönfelder von einer Frau bekehrt.
       
       In einem Angelteich im tschechischen Rumburk, gleich hinter der Grenze,
       ließ er sich orthodox taufen. Trotz Kommunismus gibt es im Osten viele
       Leute, die sich ein Leben ohne Gott nicht vorstellen könnten, ist
       Schönfelder überzeugt. Und das wiederum ist für viele Menschen aus dem
       Westen wohl schwer zu fassen. Bald nach der Taufe heirateten die beiden.
       Schönfelders Frau studierte Sozialwissenschaften in Zittau. Jetzt ist sie
       unter den Gästen im Saal. Schönfelder könnte sich nun, wo der Professor
       seinen Vortrag beginnt, zu ihr setzen. Doch er fährt nach Hause, die beiden
       Kinder hüten.
       
       ## Von der Umweltbibliothek zur Akademie
       
       Etwa dreißig Personen sitzen im Raum, doppelt so viele könnte er fassen.
       Schönfelder wirkte nicht sonderlich zufrieden. „Nein, massenwirksam ist das
       nicht“, sagt Thomas Pilz. „Massenwirksam waren wir damals auch nicht.“ Pilz
       lacht durchs Telefon. Er war einer der Aussteiger von Katharinenhof, doch
       im Gegensatz zu Schönfelder einer aus der Region. Pilz hat die
       Umweltbibliothek mit aufgebaut, und er war Teil der Opposition, die es
       nicht für möglich hielt, dass ihr Wirken über das Verbreiten von Samisdat
       hinausgehen würde. Dann kam die Zeitenwende 1989. „Wenn man diese
       Erfahrungen gemacht hat, dann weiß man, dass so etwas nicht mathematisch
       abrechenbar ist“, sagt Pilz. Doch Schönfelder zeigt Kontinuität – von der
       Umweltbibliothek bis zur Akademie. Auf der Suche zu bleiben, die Dinge zu
       hinterfragen, das mache Schönfelder. „Das ist eine Qualität, die ich sehr
       schätze, und das braucht die Region.“
       
       Am nächsten Morgen liegt der Altan auf dem Hutberg in der Sonne. Von hier
       oben wirkt Herrnhut wie eine Puppenstube, hineingestellt in das Zittauer
       Becken, so ganz ohne Grenzen und Dreiländereck, nach Süden hin das
       Isergebirge, vorn hinterm Wald Großhennersdorf. Einzig das Kraftwerk Thurow
       hinter der Neiße, eines der größten in Polen, passt so gar nicht in dieses
       Idyll. Über den Kühltürmen steht eine gewaltige weiße Fahne, die der Wind
       nach Osten drängt.
       
       21 Jun 2018
       
       ## AUTOREN
       
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