# taz.de -- Fast eine Weihnachtsgeschichte: Siemens droht, Görlitz flackert
       
       > Das Christfest naht, die Stadt strahlt. Wäre da nicht dieses unglaubliche
       > Verdikt aus München: Siemens will sein Werk tief im Osten schließen.
       
 (IMG) Bild: „Natürlich werden wir um das Werk kämpfen“: Eva Wittig auf dem Görlitzer Weihnachtsmarkt
       
       Görlitz taz | Fast hätte der Schlesische Christkindelmarkt von Görlitz beim
       großen Weihnachtsmarkttest von MDR Radio Sachsen wieder den Siegerkranz
       erhalten. Die Stadt hat viele andere Bilderbuchmärkte samt Dresdner
       Striezelmarkt übertrumpft. Nur Annaberg im Erzgebirge ist besser. Doch auch
       auf dem zweiten Platz ist der Christkindelmarkt inmitten der Gässchen und
       Renaissancebauten natürlich eine Zier.
       
       Die Altstadt hat schon Filmgrößen angelockt wie Bill Murray und Kate
       Winslet. Wer nach Görlitz mit seinen 55.000 Einwohner kommt, und sei es nur
       für einen Tag, der ist dem Zauber der Stadt erlegen. Schade, dass es
       ausgerechnet Joe Kaeser nicht mehr schaffen wird. Wo er sich nun doch
       aufgerafft hat. So kurz vor dem Fest, um sich mit den Siemensianer
       auszusöhnen. Wenigstens ein bisschen.
       
       „Der Herr Kaeser war nie in Görlitz“, hat Anneliese Karst noch vor ein paar
       Tagen gesagt und die Hände an ihrem Teeglas gewärmt. Im Café, etwas abseits
       vom Trubel, könnte man sich in Ruhe unterhalten. Draußen schaukeln
       Herrnhuter Sterne unruhig im Wind und weisen den Weg in die Altstadt. In
       der anderen Richtung, keine sieben Minuten Fußweg von hier, liegt das
       Siemens-Werk, wo 900 Beschäftigte einer gut bezahlten Arbeit nachgehen.
       Noch nachgehen, Siemens hat im November angekündigt, das Werk binnen fünf
       Jahren zu schließen.
       
       Bei 372.000 Mitarbeitern, verstreut über so ziemlich jedes Land der Erde –
       was ist da eine Fabrik in der östlichsten Stadt Deutschlands, und sei diese
       noch so schön? Ein Klecks. Ein Klecks, der weg soll. Nein, nicht dass es im
       Café Kretschmer Kleckse auf den Vitrinen gäbe oder gar Fliegenschisse. Das
       Glas ist blitzblank poliert und darunter türmen sich Stollen zu einem
       zuckersüßen Gebirge, aus dem nur schwarzglänzende Rosinen lugen. „Mit dem
       Herrn Kaeser ist solche Politik reingekommen“, sinniert Karst und kann es
       nicht fassen. Will der sechzigjährige Manager aus München in Görlitz
       tatsächlich das Licht ausblasen?
       
       Seine Vorgänger seien anders gewesen. Heinrich von Pierer, Klaus Kleinfeld,
       Peter Löscher – jeder war einmal „Mr. Siemens“, jeder hat bei dem
       Werksgelände an der Lutherstraße vorbeigeschaut. Vor den Turbinen haben sie
       sich ablichten lassen. PR-Zirkus. Aber so etwas wie Wertschätzung war eben
       auch zu spüren. Nur Herr Kaeser ließ sich nicht blicken. Auch der im Jahr
       21015 eingesetzte Werksleiter ist wohl nicht allzu häufig in Görlitz
       anzutreffen, wie Anneliese Karst vermutet. Und so wurde den Görlitzern die
       beabsichtigte Werksschließung per Videoschalte aus der Münchener
       Konzernzentrale durchgegeben, gerade so als hätten sie die Tuberkulose.
       
       „Ich muss sagen, dass ist im Umgang mit den Menschen …“ Anneliese Karst
       bricht ab, überlegt: „Es gibt ja viele Probleme, der Osten hat bei Siemens
       keine Lobby und in der Bundesregierung auch nicht.“ Karst bleibt
       freundlich. Helles, blondes Haar, helle Stimme, die manchmal stockt, doch
       sie behält diesen herzlichen Klang. Karst beugt sich über den Tisch. „Es
       ging im Werk immer auf und ab.“ Ihre Hand beschreibt eine Welle.
       Entlassungen gab es schließlich auch schon früher. „Aber der Gedanke, dass
       es Siemens nicht mehr geben wird, den habe ich nie gehabt.“
       
       Wenn man Anneliese Karst so zuhört, scheint es, als ob es Siemens zweimal
       gäbe: einmal das Joe-Kaeser-Siemens, in Divisionen zerlegt und auf
       Börsenkurs getrimmt, und einmal das Traditionsunternehmen Siemens mit
       selbstbewussten „Siemensianern“ als Rückgrat. „Ich war immer stolz darauf,
       bei Siemens zu arbeiten“, sagt Anneliese Karst. Sie ist jetzt siebzig Jahre
       alt, 46 davon hat sie im Turbinenwerk gearbeitet, hat die sozialistische
       Planwirtschaft erlebt und überwunden, hat den Einzug der Marktwirtschaft
       gestaltet, die für die Arbeiter des VEB Görlitzer Maschinenbaus, die von
       Siemens übernommen wurden, tatsächlich eine soziale wurde.
       
       „Ich hab’ gesagt, wir sind adlig.“ Es klingt fast verschämt. Das
       Aristokratische lag nicht am Firmenchef Heinrich von Pierer, sondern am
       sicheren Job und am Tariflohn. Siemens – das war im hintersten Zipfel der
       alten DDR der Beweis, dass der Kapitalismus, diese „faulende
       Gesellschaftsordnung“, eben doch gezähmt werden kann zum Wohle des
       Menschen, jedenfalls in Traditionsunternehmen aus Deutschland. Anneliese
       Karst hat 1967 im Materiallager des VEB Görlitzer Maschinenbau begonnen.
       Als Siemens das Werk 1992 übernahm, baute sie die Logistikabteilung auf.
       Wenn ein 250-Tonnen-Trumm durch das Werkstor rollte, lag die Organisation
       in ihrer Hand.
       
       ## Nachhilfeunterricht: Turbine ist nicht gleich Turbine
       
       Karst zückt ihr Handy, zeigt ein Foto. „Das ist eine Industriedampfturbine
       und keine Gasturbine.“ Dieses Detail ist ihr wichtig. Anders als
       Gasturbinen sind die kleineren Dampfturbinen nicht aus der Mode. Überall,
       wo in der Industrie Dampf anfällt, in Zucker- und Papierfabriken, in
       Meerwasserentsalzungsanlagen, lässt sich der Dampf in Strom verwandeln.
       Und natürlich in Biomassekraftwerken und Solarthermieanlagen, so wie es die
       Energiewende verlangt. Diese aber bringen die Siemens-Oberen als
       Schließungsgrund vor, weil die Nachfrage nach Turbinen sinke. Bei
       Gasturbinen mag das stimmen, bei Dampfturbinen aus Görlitz nicht.
       
       Es gab Jahre, da haben 45 Turbinen das Siemens-Tor passiert. Görlitz steigt
       zum Weltmarktführer auf und wird im Siemens-Kosmos zur „Lead Factory“ für
       Dampfturbinen. Görlitz ist nicht bloß Werkbank, sondern die Zentrale für
       diesen Bereich mit Forschung und Entwicklung – im Osten immer noch eine
       Rarität. „Es gab ein ganz anderes Verhältnis zu den Westdeutschen“ erinnert
       Karst. „Man war auf Augenhöhe.“ Mehr noch, die Kollegen im Westen haben
       über den Osten gestaunt und über seine Frauen. Etwa als sie merkten, dass
       Anneliese Karst, die drei Kinder großzog, eine ganze Abteilungen führt.
       
       ## Die Schließung als Strafe für den AfD-Sieg in Görlitz?
       
       Karst lacht, legt ein Zuckerstück auf den Löffel und versenkt ihn im Tee.
       Nein, sie schüttelt den Kopf, das Café Kretschmer hat nichts mit Michael
       Kretschmer zu tun, der aus Görlitz stammt und vergangene Woche zum
       sächsischen Ministerpräsidenten aufgestiegen ist. Dabei hatte Kretschmer
       erst im September sein Direktmandat an einen Malermeister verloren, der für
       die AfD kandidierte. Fast 33 Prozent hatten im Wahlkreis Görlitz für die
       AfD gestimmt. Kretschmer schien politisch abgemeldet. Jetzt soll der Mann
       mit dem Jungengesicht und den traurigen Augen nicht nur das Werk, sondern
       am besten ganz Görlitz retten mit seinem über 12 Prozent Arbeitslosen.
       Irgendwie.
       
       Sollte die Entscheidung, Görlitz zu schließen, etwas mit der AfD zu tun
       haben? Anneliese Karst hält kurz inne. Sie kann diesen Gedanken, den sie da
       gerade ausspricht, selbst kaum fassen. „Die Siemensianer haben bestimmt
       nicht …“ Nein, das ist keine AfD-Klientel, ist sie sicher. „Und das
       AfD-Ergebnis in Bayern war ja auch nicht klein.“
       
       Sie ist noch in Gedanken versunken, da steht plötzlich eine Frau vor ihr.
       „Entschuldigen Sie bitte, ich habe das am Nachbartisch mitbekommen, was Sie
       zu Siemens sagen.“ Eine Katastrophe sei das. Mehr als 6 Milliarden Euro
       Gewinn und dann das? Sie hat die Arme angriffslustig in die Himmelsrichtung
       gereckt, wo sie den Siemens-Vorstand vermutet. „Alles nur wegen des höheren
       Profits. Die haben doch einen Klaps!“ Für einen Augenblick wird es eng vor
       der Vitrine mit den Stollen und auch ein wenig ungemütlich. Anneliese Karst
       nickt still. Dann lädt die Dame zur ökumenischen Andacht für das
       Siemens-Werk ein und geht hinaus. Das Café Kretschmer – es ist zur
       Protestbühne geworden.
       
       ## Jugendstil und Schlesisches Himmelreich
       
       Am Postplatz beginnt die reale Görlitzer Märchenwelt. Das
       Jugendstilkaufhaus, 2013 für ein paar Wochen das „Grand Budapest Hotel“
       für’s Kino, ist zwar geräumt, aber selbst dieser Leerlauf scheint dem
       Prachtbau nichts anzuhaben. Von drinnen grüßen ein paar Sterne wie aus
       einem luftleeren Raum. Daneben die Frauenkirche, von den Altstadtmillionen
       restauriert, die ein anonymer Wohltäter 21 Jahre lang über Görlitz hat
       regnen lassen. Mit dem Manna wurden Renaissancehöfe, Bürgerhäuser, Kirchen,
       Gewölbe und ein Friedhof restauriert. Die Stadt, zu DDR-Zeiten selbst nicht
       mehr als ein Friedhof, ist zu neuem Leben erwacht.
       
       Jetzt sowieso. Jede Tür, jeder Laden – auf dem Pflaster funkeln Sternchen,
       Menschen flanieren, Musik liegt in der Luft. Ein Gasthaus offeriert
       „Schlesisches Himmelreich“, ein anderes hausgemachte Piroggen mit
       Entenfüllung, ein Bäcker „Liegitzer Bomben“, Weihnachtsgebäck aus
       Schlesien. Hinter jeder Tür, in jedem Fenster eine Überraschung. Polnische
       Händler verkaufen Engel aus Glas, Bigos und Bunzlauer Keramik. Der Osten
       ist hinter jedem Fenster präsent. Jetzt müsste nur noch Tschaikowskis
       Nussknacker wirbeln, man hätte Siemens glatt vergessen.
       
       Zwei solcher lebensgroßen Gesellen stehen in der Fleischerstraße stramm und
       locken Besucher in das „Weihnachtshaus“, die sich in den verwinkelten
       Gängen schnell verlaufen. Nebenan läuft Eva Wittig eine Steintreppe hinauf.
       Unter einer bemalten Balkendecke lässt sie sich fallen. Solche antiken
       Decken sind hier völlig normal, sagt sie. Das Drama um Siemens vergessen zu
       machen, ist auch ihre Mission.
       
       Dabei müsste Eva Wittig nur zaubern können. „Wir müssten die Stadt in die
       Mitte stellen“, sagt sie, macht eine Armbewegung, als würde sie ein
       Kästchen verschieben, und lacht. Hinein in die Mitte von Deutschland. Das
       Manko von Görlitz hat noch keiner so liebenswürdig beschrieben wie sie.
       Würde Görlitz irgendwo im Hessischen liegen oder im Harz, alle Sorgen wären
       wie weggeblasen. Denn Görlitz – das ist wie Heidelberg, wie Rothenburg ob
       der Tauber, sagt Wittig. „Nur echter!“ Leider auch abseitiger.
       
       Es ist Eva Wittigs Beruf, die Stimmung aufzuhellen und sie hat auch das
       Naturell dazu. Wittig arbeitet bei der Europastadt GörlitzZgorzelec GmbH,
       einer Gesellschaft der Stadt und geschaffen, um Tourismusmanagement,
       Wirtschaftsförderung und Standortmarketing aus einer Hand anzubieten. Das
       sind die drei Räder, auf denen Görlitz in die Zukunft rollen soll. Das
       vierte Rad aber müsste die Wirtschaft anschrauben.
       
       Nicht wenige glauben hier, dass die Randlage der wahre Grund ist, warum
       Siemens die Koffer packen will. Die Bahn braucht mit ihren Regionalzügen –
       andere fahren nicht – von Dresden immer noch so lange wie die Deutsche
       Reichsbahn der DDR. Görlitz liegt an der Peripherie so wie auch der
       bayrische Flecken Arnbruck direkt an der tschechischen Grenze. Arnbruck?
       Der Betriebswirt Josef Käser wurde dort geboren. Er wird in den Neunzigern
       von seiner Firma in die USA geschickt. Fünf Jahre bleibt er im Silicon
       Valley, macht Karriere und als er zurückkommt, nennt er sich nur noch Joe
       Kaeser. In Arnbruck sollen sie ihn noch Sepp rufen. Eigentlich müsste
       Kaeser die Görlitzer besonders gut verstehen.
       
       ## Kein schlechtes Wort über den Großkonzern
       
       Nein, von Eva Wittig kommt kein schlechtes Wort zu Siemens über die Lippen.
       Als Marketingexpertin ist sie viel zu versiert. Zudem ist ihr Mann
       „Siemensianer“, er pendelt bereits seit über zwei Jahren in das
       Siemens-Werk nach Mülheim an der Ruhr, wo viele Görlitzer einmal arbeiten
       sollen. Nein, leicht ist das nicht, sagt Wittig knapp. Für klare Worte ist
       überdies Oberbürgermeister Siegfried Deinege da. Das Görlitzer Werk werde
       geschlossen, mutmaßte Deinege, weil hier, tief im Osten, der politische
       Widerstand genauso dürftig ausfallen würde wie die Höhe der Abfindungen.
       
       „Natürlich werden wir um das Werk kämpfen“, sagt Eva Wittig. Siemens zu
       ersetzen, werde schwer fallen, räumt sie ein. Unmöglich scheint das jedoch
       nicht. „Wir haben verstärkt Anfragen von Unternehmen“, sagt sie. Gute
       Arbeitskräfte sind gefragt. Dann listet sie auf, welche Firmen sich in den
       letzten Jahren angesiedelt haben, darunter ein innovatives aus der Schweiz,
       viel Kreativwirtschaft und aus der IT-Branche.
       
       Familien aus Polen ziehen in die Stadt, in den Grundschulen wird Polnisch
       angeboten. Die Altstadt muss sie nicht extra preisen, aber dass Görlitz im
       November den European Location Award für seine einmalige Filmkulisse
       erhalten hat, das muss sie noch loswerden.
       
       Die Touristenzahlen sind in diesem Jahr wieder gestiegen. Man muss eben das
       Beste rausholen, sagt Eva Wittig und lächelt. Um das Image von Görlitz muss
       sich keiner Sorgen machen. Anders steht es da schon um Siemens.
       
       Das dämmert inzwischen auch der Konzernzentrale in München. Fünfzig
       Siemensianer sind am Dienstag in die bayrische Landeshauptstadt
       aufgebrochen, um dem Siemens-Chef ein paar Weihnachtslieder zu singen.
       Dabei hätten sie bloß in der Lutherstraße zu warten brauchen. Gegen Mittag
       rollt eine Limousine auf den Hof. Zwei Stunden dauert die
       Betriebsversammlung, dann tritt Joe Kaeser vor die Kamera. Er redet vom
       heftigen Preisverfall bei Turbinen, vom Wettbewerb, der schneller,
       rücksichtsloser und dramatischer geworden ist. Kaeser bedauert die Pannen
       bei der Kommunikation und er appelliert an die Verantwortung der deutschen
       Eliten. Görlitz und die Oberlausitz werde man nicht im Stich lassen.
       
       Selten hat man Konzernlenker so nervös gesehen. Die Simiensianer haben ihm
       wohl den Unterschied zwischen Gas- und Dampfturbine recht deutlich erklärt.
       Kaeser nuschelt, manchmal wirkt er fahrig. Es scheint wie ein Gang nach
       Canossa.
       
       Schade, dass Joe Kaeser seinen Besuch nach all der Anspannung nicht mit
       einem Spaziergang über den Schlesischen Christkindelmarkt ausklingen
       lassen konnte. Der Markt hatte zwei Tage zuvor seine Tore geschlossen.
       
       20 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Thomas Gerlach
       
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