# taz.de -- Justiz- und Rechtssystem der DDR: Tschekisten, Prinzlinge, Anwälte
       
       > In „Im goldenen Käfig“ schreibt Christian Booß über die Stasiakten von
       > DDR-Anwälten. Dazu ein Gastbeitrag des früheren Justizsenators von
       > Berlin.
       
 (IMG) Bild: Prinzling der DDR: Gregor Gysi auf dem 1. Parteitag der PDS im Februar 1990 im Gespräch mit Hans Modrow
       
       Ungewöhnlich ist das schon. Christian Booß, altgedienter Rundfunk- und
       Fernsehmann, zugleich langjähriger Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde,
       legt als Wessi ein Buch über „DDR-Anwälte im politischen Prozess“ vor. Wer
       nun die flott geschriebene Endabrechnung unter dem Motto „Alles Stasi oder
       was“ erwartet, wird gleich mehrfach enttäuscht.
       
       Das Buch fußt auf der Dissertation, mit der Booß an der Berliner
       Humboldt-Universität promovierte. Entsprechend umfangreich ist es geraten –
       800 Seiten, geschrieben im wissenschaftlichen Duktus, mit Fußnoten und
       Quellenverzeichnis („Im goldenen Käfig“, Vandenhoeck & Ruprecht). Der Autor
       behauptet, nicht viel mehr als eine Ausarbeitung anhand von Stasiakten aus
       drei Jahrgängen über Anwälte in MfS-ermittelten Strafverfahren vorzulegen.
       Dies ist die Untertreibung des Jahres.
       
       In Wirklichkeit zeichnet er die Entwicklung der Anwaltschaft in der DDR,
       ihre Rekrutierung und Ausbildung, ihre politische Instrumentalisierung,
       ihre Grenzen und Freiräume, ihr Agieren innerhalb und außerhalb des
       Polizei- und Justizapparates nach.
       
       Wie um alle falschen Erwartungen gleich zu dekonstruieren, beginnt Booß mit
       einem Vorwort vor dem Vorwort. Dort wird der Richter
       Wetzenstein–Ollenschläger, Richter in der DDR und später Direktor des
       Berliner Stadtbezirksgerichtes Lichtenberg, genannt „Schakal von Berlin“,
       als widerständig gegenüber zu hohen Strafanträgen der Staatsanwaltschaft
       geschildert. Ausgerechnet jener Mann, der in den 1990er Jahren in der
       Transformationsphase Ostdeutschlands mit Millionen aus dem KoKo-Imperium
       bis heute abgetaucht ist, habe hier in den Augen seiner Kollegen „Kreuz
       gezeigt“.
       
       ## Entnazifizierung und Flucht in den Westen
       
       Die Schwarz-Weiß-Schablone bleibt also in der Schublade. Der Autor breitet
       stattdessen Fakten über Fakten aus. Und er kommt zu wohltuend
       differenzierten Bewertungen, ohne klare Festlegungen und Verurteilungen
       dort, wo notwendig, zu scheuen. Dass das Gesamtbild der Anwaltschaft in der
       DDR so düster ausfällt, liegt alleine am betrachteten Objekt.
       
       Booß zeichnet nach, wie innerhalb weniger Jahre die Zahl der zugelassenen
       Anwälte von ca. 2.800 auf konstant ca. 600 bis zum Ende der DDR sinkt. Dies
       geschieht durch Entnazifizierung – nach Opportunitätsgesichtspunkten wie
       bei Militär und Polizei –, durch Flucht in den Westen und last but not
       least durch die Bildung der Kollegien der Rechtsanwälte. Dies war zwar
       nicht die oft so genannte Zwangskollektivierung des Anwaltsstandes.
       
       Aber mit Zuckerbrot und Peitsche wurde die Zahl der Einzelanwälte auf ein
       Minimum reduziert – nur dort, wo der Staat sie brauchte, etwa im
       internationalen Rechtsverkehr, dem Häftlingsfreikauf oder bei der
       Überwachung der ihnen gegenüber oftmals arglosen Opposition. Die Kollegien
       nach sowjetischem Vorbild sollten das Gegenbild zur „bürgerlichen freien
       Advokatur“ sein.
       
       Auch für sie galt das allgemeine Motto von Walter Ulbricht, dass alles
       schön demokratisch (in diesem Fall nach Selbstverwaltung) aussehen müsse,
       aber die Genossen alles in der Hand halten sollten. So hatten z. B. die
       Vorsitzenden die Aufgabe, als „Instrukteure“ der vorgegebenen politischen
       Linie zu wirken.
       
       Es stellt sich eine ganze Reihe von Fragen. Entschuldigt nicht diese
       Einbettung in die sozialistischen staatlichen Strukturen alles? Musste
       nicht jeder Mandant wissen, dass es in diesem Staat DDR keinen unabhängigen
       Anwalt geben konnte? Beauftragte er nicht mit dem Anwalt in vollem
       Bewusstsein die Stasi gleich mit? Kann das Anwaltsverständnis
       westlich-rechtsstaatlicher Prägung hier herangezogen werden? Gibt es
       überhaupt ein systemübergreifendes allgemeingültiges Rollenbild des
       Anwaltes, das als Maßstab für die Beurteilung der einzelnen gelten kann?
       
       Die Einzelfallschilderungen von Christian Booß geben darauf Antworten.
       
       ## Der Fall Schnur
       
       Einfach ist sie bei Anwälten, die wie Wolfgang Schnur sich schon vor ihrem
       Jurastudium dem MfS verpflichteten und dann in ihrer gesamten
       Anwaltstätigkeit „bis zur physischen und psychischen Erschöpfung Tag und
       Nacht berichteten“. Er und bedenklich viele andere wurden verpflichtet,
       „alle Vorgänge, die sie als Rechtsanwälte bekommen, vom tschekistischen
       Standpunkt aus zu sehen“. Sie sollten nur die Mandate annehmen, „die für
       uns operativ interessant sind“.
       
       Der Schauspieler Armin Mueller-Stahl wird zitiert, wie er im Nachhinein
       über seinen IM-verpflichteten Anwalt Edgar Irmscher urteilt: „Da sitzt der
       Rechtsanwalt, … mein vermeintlicher Freund, spricht Recht und tat Unrecht.
       Alles, aber auch alles hat er der Stasi mitgeteilt, was ihr nicht hätte
       mitgeteilt werden dürfen.“
       
       Und sie teilten nicht nur mit. Sie verrieten Mittäter und Mitwisser der
       unterstellten Straftaten und beteiligten sich an Gegenstrategien und
       Zersetzungsplänen der Stasi. Der Anwaltsstatus tarnte und begünstigte ihr
       Tun. Sie waren Tschekisten in der Anwaltsrobe.
       
       ## Friedrich Wolff und Gregor Gysi
       
       Schwieriger wird die Beurteilung bei den Anwälten in der Grauzone, die zum
       Teil wie Friedrich Wolff in den Gründungsjahren IMs wurden, aber dann nicht
       immer nach der Pfeife des MfS tanzten und z. B. auch einmal Freisprüche in
       politischen Prozessen beantragten. Oder bei den „Prinzlingen“ aus der
       nachgeborenen Generation, die, wie Gregor Gysi, ohne formelle
       IM-Verpflichtung in mannigfacher Weise mit Staat, Partei und MfS verbunden
       waren.
       
       Ein Anwalt darf grundsätzlich auch mit dem Teufel sprechen. Dann kooperiert
       die Anwaltsrobe mit dem Tschekisten. Dieser Kontakt muss allerdings immer
       im Interesse des Mandanten liegen und zwingend mit dessen Wissen und
       Einverständnis geschehen. Hier schildert Booß eine Vielzahl von Fällen, z.
       B. im Anschluss an die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 1988, wo genau
       dieses Wissen und Wollen von den Inhaftierten bestritten wird.
       
       Völlig befremdlich ist schließlich die fehlende Solidarität vieler mit den
       Anwaltskollegen, die ausschließlich die Interessenvertretung ihrer
       Mandanten anstrebten. Die Rechtsberatung eines Ausreisewilligen ohne
       Honorar reichte zum Berufsverbot.
       
       ## Die Fälle Reinhard Preuß und Götz Berger
       
       Ausführlich schildert Booß die Fälle Preuß, Berger und Henrich.
       Rechtsanwalt Dr. Reinhard Preuß galt dem MfS als ein „Mensch, der nichts
       mit unserem Staat gemein hat“. Er informierte, zu dieser Zeit noch
       zulässig, Anwaltskollegen in Westberlin über das Schicksal von
       Inhaftierten. Mit der Begründung, dass in den Handakten von Preuß nicht
       alle Aufträge der freikaufwilligen Häftlinge nachvollziehbar seien und er
       sich so der Kontrolle der kostenmäßigen Abwicklung entzogen habe,
       appellierte das Justizministerium an das materielle Interesse der
       Anwaltskollegen. Erfolgreich.
       
       Das „Kollegium Beschluss“ – Parteileitung, Vorstand, Plenum – schloss ihn
       1973 aus der Anwaltschaft aus. Erst 1978 erhielten alle Anwälte die
       Information, dass es nicht gestattet sei, „selbstständig Verbindungen zu
       BRD- bzw. Westberliner Anwälten aufzunehmen bzw. zu unterhalten“. An
       DDR-Bürger seien „keinerlei Informationen“ weiterzugeben.
       
       Im Fall von Götz Berger verhängte das Justizministerium gleich selber das
       Berufsverbot und holte sich erst im Nachhinein in stalinistischer Manier
       die Zustimmung des Kollegiums und persönliche Erklärungen der einzelnen
       Mitglieder. Berger war Altkommunist, Spanienkämpfer, hoher Richter in den
       Anfangsjahren der DDR, hoch angesehen, aber eben auch unbeirrbarer
       Vertreter von Wolf Biermann, Robert Havemann und anderen. Der Staat vollzog
       an ihm ein auf Abschreckung zielendes Exempel. Und war damit erfolgreich.
       
       Die Mitgliederversammlung aller Anwälte der „Hauptstadt der DDR“ erklärte
       am 6. Dezember 1976 einstimmig: „Wir distanzieren uns von dem Verhalten des
       ehemaligen Mitgliedes unseres Kollegiums, Dr. Berger, das im Widerspruch
       steht zur Berufung des Rechtsanwalts, in Wahrung der Rechte der Bürger zur
       Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit mitzuwirken“. Der
       Staatssekretär im Justizministerium war bei der Zulassungsenthebung
       direkter: „Denk an Budapest, da haben sie unsere Genossen an
       Laternenpfählen aufgehängt. Und Du hast jetzt dazu aufgefordert.“
       
       ## Rolf Henrich
       
       Noch im Jahr des Mauerfalles 1989 wurde der Rechtsanwalt und Mitbegründer
       des Neuen Forums Rolf Henrich wegen seines Buches „Der vormundschaftliche
       Staat“ vom Kollegium Frankfurt (Oder) aus der Anwaltschaft ausgeschlossen.
       Die Stasi wollte mit Hilfe anderer Anwaltskollegen „diesen Banditen in die
       Furche ducken“. Der herbeigeeilte Chef der Anwaltskollegien, Gregor Gysi,
       argumentierte nach Aussagen von Anwesenden, wer die Stasi „Geheimpolizei“
       nenne, dürfe sich über die Folgen nicht wundern. Gysi selbst erinnert sich
       wie immer anders.
       
       Fazit: Das Bild des goldenen Käfigs trifft es nicht ganz. Für Anwälte mit
       Westreiseerlaubnis stand die Käfigtür weiter auf als für den Normalbürger.
       Dass Anwälte gut verdienen, ist noch kein berechtigter Vorwurf. Im Westen
       hätten sie im Zweifel mehr verdient.
       
       Das Gros der Anwälte bejahte das System und unterstützte den Staat demnach.
       Der Staat brauchte sie, gerade im Verkehr mit dem Ausland und als
       rechtliche Fassade. Diese an sich starke Position führte aber nur zu
       zaghaften Forderungen nach mehr Unabhängigkeit. Das Gängelband des Staates
       war akzeptiert und wurde sogar „in Selbstverwaltung“ gegen unliebsame
       Kollegen selbst angelegt. Eigentlich sollte dieses Buch hierüber eine
       kontroverse und lebhafte Diskussion auslösen.
       
       21 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Wolfgang Wieland
       
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