# taz.de -- Kunst und Lebensart an der Seine: Klein-Afrika in Groß-Paris
       
       > Paris ist die Stadt der afrikanischen Kunst. Es gibt eine Messe für
       > zeitgenössische Kunst, Galerien. Und im Stadtviertel Goutte d’Or lebt
       > Afrika.
       
 (IMG) Bild: The tears of Bananaman Maelle Galerie copie.
       
       Der Boulevard Barbès ist gesäumt von Kofferläden, Wechselstuben und
       Minishops. Hier im 18. Pariser Arrondissement, zwischen den Metrostationen
       Barbès-Rochechouart, La Chapelle und Château Rouge, ist das Zentrum der
       afrikanischen Lebensart in Frankreich. Oder vielmehr eines der Zentren.
       Doch im Goutte d’Or, dem goldenen Tropfen, wie das Viertel auch genannt
       wird, schlägt das Herz des afrikanischen Paris. Ein Paris, das viele
       Pariser nie betreten würden.
       
       Befindet sich der Boulevard Barbès fest in algerischer Hand, so trennt die
       davon abzweigende Rue de la Goutte d’Or wiederum Nord- von Westafrika.
       Fliegende Händler bieten alle Sorten exotischer Gemüse und Früchte an – 5
       Safou, die afrikanische Pflaume, für 2 Euro. Es gibt Kochbananen, Datteln,
       Maniok, Halal-Metzgereien und Lebensmittelgeschäfte, die alles bieten, was
       es in Mali, Senegal oder Algerien auch zu kaufen gibt. Es ist eine Art
       „retour au pays“ für die afrikanischstämmige Bevölkerung, eine Heimkehr,
       ein Heimatgefühl, hervorgerufen durch vertraute Gerüche und Geräusche.
       
       „Der Goutte d’Or ist ein Anlaufpunkt für die Afrikaner“, sagt Kévi Donat.
       Der 32-Jährige, kurz geschorenes Haar und Bart, der sich stets ohne
       Nachnamen vorstellt, wartet an einem Novembertag am Metro-Ausgang Château
       Rouge. „Größtenteils wohnen die Leute gar nicht hier, sie kommen her, weil
       sie hier arbeiten oder einkaufen.“ Seit vier Jahren macht Kévi Führungen
       durch „Paris noir“, das schwarze Paris. Viele reagierten irritiert auf das
       Wort „schwarz“, sagt er, doch gerade bei US-amerikanischen Touristen,
       darunter viele Afroamerikaner, sind seine „Black Paris Walks“ sehr beliebt.
       In den USA seien die Black Studies ganz anders verankert, meint Kévi,
       während in Frankreich die „négritude“ oder „identité noir“ noch kein Thema
       ist. „In Frankreich diskutieren Schwarze nicht darüber, weil sie nicht
       Teil der akademischen Welt sind.“
       
       ## Die Welt der schwarzen Franzosen
       
       Kévi ist in Martinique aufgewachsen und hat in Rennes Politikwissenschaften
       studiert. „Ich bin Franzose“, sagt er von sich, „aber kein Europäer.“
       Martinique zählt zu den französischen Überseegebieten in der Karibik, hat
       den Euro und den französischen Lehrplan. Die Welt der schwarzen Franzosen
       ist sehr verschieden – und komplex wie die Koloniolgeschichte Frankreichs.
       
       Der Goutte d’Or war früh ein Arbeiter- und Immigrantenbezirk, wobei die
       ersten Welle der Migranten im 19. Jahrhundert noch aus der französischen
       Provinz kam, um in den Fabriken zu arbeiten. Erst nach dem Zweiten
       Weltkrieg zogen viele Afrikaner aus den Kolonien hierher.
       
       An der Église Saint-Bernard de la Chapelle macht Kévi halt; sie wurde im
       Sommer 1996 von über 200 sogenannten Sans-Papiers, Menschen ohne regulären
       Aufenthaltsstatus, über zwei Monate lang besetzt und schließlich von der
       Polizei brachial geräumt. Bis heute ein Symbol des unsanften Umgangs des
       französischen Staats mit seinen „Papierlosen“, von denen sich etwa eine
       halbe Million Menschen im Land befinden.
       
       Auch Anzoumane Sissoko war bei der Besetzung der Kirche dabei. „Die Leute
       im Viertel waren damals sehr hilfsbereit“, erinnert er sich. „Das ist jetzt
       anders. Als neulich das Camp bei La Chapelle geräumt wurde, kam niemand zur
       Hilfe.“ Der gebürtige Malier, 53 Jahre alt, inzwischen Franzose, ist
       Sprecher der Coalition Internationale Sans-Papiers et Migrants (CISPM). Er
       kommt an diesem Samstag zu einem Treffen ins Café gleich gegenüber dem
       Marché aux Enfants Rouges, einer Markthalle im 11. Arrondissement, wo er
       als Hausmeister arbeitet. Heute aber ist er da, um Kunst zu sehen.
       
       ## Aufbruchsgeist und Lebensfreude
       
       In der Fondation Cartier gibt es eine Ausstellung seines Landsmanns Malick
       Sidibé, des berühmten Fotografen, der in Bamako sein Studio hatte, wo er in
       den 60er und 70er Jahren den Aufbruchsgeist und die Lebensfreude der jungen
       Generation festgehalten hat.
       
       Sissoko ist kein Routinier der Kunstwelt. Bedächtig schreitet er die
       Schwarzweißfotografien ab. Bei ihm auf dem Dorf habe es keine Fotografen
       gegeben, erzählt er, und auch keine Mopeds, nur Fahrräder. „Die Sitten
       waren strenger. Mädchen und Jungen kamen nur zu Arbeitseinsätzen zusammen.“
       Lange bleibt er vor einer Fotografie aus dem Jahr 1976 stehen: „Kampf der
       Freunde mit Steinen“ heißt sie. Zwei Teenager, Junge, Mädchen, in
       Badekleidung, in einem ausgetrockneten Flussbett stehend. Beide halten in
       der erhobenen rechten Hand einen Stein und schauen sich herausfordernd an.
       
       Physisches, gedankliches, erotisches Kräftemessen? Sissoko kann sich an
       ähnliche Situationen in seiner Jugend erinnern: mit dem Gettoblaster am
       Fluss, in der freien Natur. „Jungen und Mädchen konnten sich nur im Schutz
       der Dunkelheit treffen.“ Oder in den Diskotheken in der Stadt, wo Malick
       Sidibé die tanzenden jungen Menschen fotografiert hat.
       
       „Mali-Twist“ ist nur eine von mehreren sehenswerten Ausstellungen zu
       Afrika, die in diesem Winter in Paris zu sehen sind. Afrika boomt – auch
       auf dem Kunstmarkt. Sotheby’s in Paris hatte dieses Jahr erstmals eine
       solche Auktion im Programm.
       
       ## Afrikanische Kunstmesse
       
       „Afrika ist ein kulturelles Phantasma“, sagt Stadtführer Kévi dazu. „Und
       Paris ist die Stadt der afrikanischen Kunst.“ Schon zum zweiten Mal fand im
       November die AKAA (Also Known as Africa), eine Kunstmesse für
       zeitgenössische Kunst aus Afrika, in Paris statt. Hier stellen Galerien
       aus, die afrikanische Künstler und solche der afrikanischen Diaspora
       vertreten. Denn für viele Künstler gilt: Haben sie in Paris oder London
       studiert, ist es schwer für sie, in ihre Heimatländer zurückzukehren: keine
       Wirkmöglichkeiten, keine Anerkennung, kein Markt.
       
       Ist das neue Interesse für Kunst aus Afrika eine Modeerscheinung?
       
       „Nein“ sagt Claire Nini. „Es gibt einfach mehr afrikanische Künstler, man
       kann sie nicht mehr ignorieren.“ Nini taucht überall dort in Paris auf, wo
       es um Kunst aus Afrika geht, so auch bei der AKAA. Die freie Journalistin
       und Kuratorin hat mehrere Jahre im Tschad gearbeitet. Beim gemeinsamen
       Rundgang lässt sich feststellen, dass es eine sehr politische Kunst aus
       Afrika gibt.
       
       „Das hat zum Teil damit zu tun, dass sich die Künstler verstärkt mit der
       Kolonialgeschichte und den Beziehungen ihrer Länder zur westlichen Welt
       auseinandersetzen“, sagt Nini. Und das wiederum habe zur Folge, dass sich
       die Künstler oft mehr mit den Bildern, die wir von Afrika haben,
       auseinandersetzten als mit ihrem eigenen Bild von Afrika.
       
       Polemisch, satirisch, spielerisch – von Jean-François Boclé stammt die
       Installation „The Tears of Bananaman“, die Kontur eines liegenden Mannes,
       aus 300 Kilo Bananen bestehend, die während der Ausstellungstage reifen und
       am Ende vom Publikum verspeist werden.
       
       Auch Jacqueline Ngo Mpii ist bei der AKAA mit einem Stand vertreten. Ihre
       Kultur- und Eventagentur Little Africa arrangiert Führungen, Atelier- und
       Restaurantbesuche, sie hat in Eigenregie einen Stadtführer herausgegeben.
       Er richtet sich ebenso an Touristen wie auch an Menschen ihrer Generation,
       die zur afrikanischen Diaspora in aller Welt gehören.
       
       ## Suche nach der eigenen Kultur
       
       „Gerade die jungen Leute sind bereit, sich wieder ihrer Vergangenheit zu
       nähern“, sagt Mpii, „Sie wollen ihre eigene Kultur und sich nicht völlig
       assimilieren.“ Die 29-Jährige kam als Kind von Kamerun nach Frankreich,
       Afrika ist für sie „die große Unbekannte“ geblieben. Mpii steht für eine
       selbstbewusste junge Generation von Schwarzen in Frankreich – in der
       Kunstwelt, in der Mittelschicht angekommen, auf der Suche nach der eigenen
       Kultur und einer eigenen Sprache. Dazu gehört auch, dass sie das Wort
       „noir“ oder „négritude“ selbstbewusst aussprechen und positiv besetzen
       kann.
       
       „Der Rassismus richtet sich gegen Schwarze überhaupt“, sagt Mpii, „es geht
       um die Hautfarbe und nicht um die Nationalität.“ Geschätzte fünf Millionen
       Schwarze leben in Frankreich bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 67
       Millionen. Aber wer sind überhaupt die Schwarzen in Frankreich? Wer zählt
       sie und was haben sie gemeinsam?
       
       Louis-Georges Tin ist Präsident des Conseil Représentatif des Associations
       Noires de France (CRAN) und drückt es so aus: „Wir haben die Geschichte der
       Kolonisierung und die Erfahrung der Diskriminierung gemeinsam.“ CRAN setzt
       sich für mehr Diversität in allen Bereichen ein, sorgt für
       Straßenumbenennungen, kämpft gegen Blackfacing und für eine statistische
       Erfassung der Minderheiten.
       
       Im laizistisch verfassten Frankreich, wo auch die Konfession nicht
       abgefragt werden darf, sorgt das für Irritationen. Es geht um
       Sichtbarmachung, und das Wort „schwarz“ hat laut Tin die notwendige
       Aufwertung erfahren: „Nicht etwa weil wir Rassisten sind, sondern weil die
       Gesellschaft rassistisch ist.“ Dem republikanischen Gleichheitsideal zum
       Trotz. Tins Verband kämpft seit Jahren für ein Museum der Sklaverei und für
       eine Wiedergutmachung. Moralisch wie finanziell. Das Museum ist
       beschlossen, aber noch nicht existent.
       
       Paris ist voller Spuren der französischen Kolonialgeschichte – Kévi Donat
       kennt sie gut. Er zeigt die Highlights seiner Tour durch den Goutte d’Or.
       Führt kurz in das Innere eines ehemaligen Jugendstil-Theaters auf dem
       Boulevard Barbès, ein kleines Juwel, das heute Billigschuhe der Kette Kata
       für 10 Euro das Paar anbietet. Weist traurig auf das leer stehende Kaufhaus
       Tati hin, das Billigkaufhaus der Nordafrikaner mit Kultstatus – pleite. Er
       führt zur neuen Brasserie Barbès, die als Vorbote der einsetzenden
       Gentrifizierung gelten kann – schick und ohne afrikanisches Publikum.
       Schwarze sind hier als Angestellte zu finden – in der Küche.
       
       Und was ist mit der schwarzen Mittelschicht? „Die gibt es durchaus“, sagt
       er, „aber um den Preis, dass sie ihre Herkunft vergessen haben.“ Auch sie
       würden vermutlich freiwillig keinen Fuß in den Goutte d’Or setzen.
       
       30 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Sabine Seifert
       
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